Merkur, Nr. 213, Dezember 1965

Erkenntnis und Interesse

von Jürgen Habermas

Während des Sommersemesters 1802 hält Schelling in Jena seine Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. In der Sprache des deutschen Idealismus erneuert er emphatisch jenen Begriff von Theorie, der die Tradition der großen Philosophie seit ihren Anfängen bestimmt hat. »Die Scheu vor der Spekulation, das angebliche Forteilen vom Theoretischen zum bloß Praktischen, bewirkt im Handeln notwendig die gleiche Flachheit wie im Wissen. Das Studium einer streng theoretischen Philosophie macht uns am unmittelbarsten mit Ideen vertraut, und nur Ideen geben dem Handeln Nachdruck und sittliche Bedeutung [1. Schellings Werke, ed. Schröter, Bd. III, S. 2019. ].« Nur die Erkenntnis vermag wahrhaft im Handeln zu orientieren, die sich von bloßen Interessen gelöst und auf Ideen eingestellt, eben: eine theoretische Einstellung gefunden hat.

Das Wort Theorie geht auf religiöse Ursprünge zurück: Theoros hieß der Vertreter, den griechische Städte zu den öffentlichen Festspielen entsandten [2. Bruno Snell: Theorie und Praxis, in: Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1955, S. 401 ff; Georg Picht: Der Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der griechischen Philosophie, in: Evangelische Ethik, 8. Jg. 1964, S. 321 ff.]. In der Theoria, nämlich zuschauend, entäußert er sich ans sakrale Geschehen. Im philosophischen Sprachgebrauch wird Theoria auf den Anblick des Kosmos übertragen. Als Anschauung des Kosmos setzt Theorie die Grenzziehung zwischen Sein und Zeit schon voraus, die, mit dem Gedicht des Parmenides, Ontologie begründet und in Piatons »Timaios« wiederkehrt: sie reserviert ein vom Unsteten und Ungewissen gereinigtes Seiendes dem Logos und überläßt das Reich des Vergänglichen der Doxa.

Wenn nun der Philosoph die unsterbliche Ordnung anschaut, kann er nicht umhin, sich selber dem Maß des Kosmos anzugleichen, ihn in sich nachzubilden. Er bringt die Proportionen, die er in den Bewegungen der Natur wie in der harmonischen Folge der Musik anschaut, in sich zur Darstellung; er bildet sich durch Mimesis. Die Theorie geht auf dem Wege über die Angleichung der Seele an die geordnete Bewegung des Kosmos in die Lebenspraxis ein – Theorie prägt dem Leben ihre Form auf, sie reflektiert sich in der Haltung dessen, der sich ihrer Zucht unterwirft, im Ethos.

Dieser Begriff der Theorie und eines Lebens in der Theorie hat Philosophie seit ihren Anfängen bestimmt. Der Scheidung zwischen Theorie im Sinne dieser Tradition und Theorie im Sinne der Kritik hat Max Horkheimer eine seiner bedeutendsten Untersuchungen gewidmet [3. Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VI, 1937, S. 245 ff.]. Dieses Thema nehme ich heute, nach fast einem Menschenalter, wieder auf [4. Dieser Text lag meiner Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt vom 28. 6.1965 zugrunde. Notgedrungen beschränken sich die Literaturangaben auf wenige Hinweise.]. Ich knüpfe an eine Abhandlung Husserls an, die etwa zur gleichen Zeit erschienen ist [5. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Ges. Werke, Bd. VI, Den Haag 1954.]. Husserl ließ sich damals von eben dem Theoriebegriff leiten, dem Horkheimer einen kritischen entgegenhielt. Husserl handelt nicht von Krisen in den Wissenschaften, sondern von ihrer Krise als Wissenschaft, denn: »in unserer Lebensnot hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen«. Unbedenklich, wie fast alle Philosophen vor ihm, nimmt Husserl zum Maßstab seiner Kritik eine Idee von Erkenntnis, die jenen platonischen Zusammenhang der reinen Theorie mit der Lebenspraxis wahrt.

Nicht der Informationsgehalt der Theorien, sondern die Formierung eines besonnenen und aufgeklärten Habitus unter den Theoretikern selbst erzeugt am Ende eine wissenschaftliche Kultur. Der Gang des europäischen Geistes schien auf die Entstehung einer solchen Wissenschaftskultur abzuzielen. Diese geschichtliche Tendenz sieht Husserl jedoch nach 1933 gefährdet. Er ist überzeugt, daß die Gefahr nicht eigentlich von außen droht, sondern von innen. Er führt die Krise darauf zurück, daß die fortgeschrittensten Disziplinen, allen voran die Physik, von dem, was in Wahrheit Theorie heißen darf, abgefallen sind.

 

II

Wie verhält es sich damit wirklich? Zwischen dem positivistischen Selbstverständnis der Wissenschaften und der alten Ontologie besteht sehr wohl ein Zusammenhang. Die empirisch analytischen Wissenschaften entwickeln ihre Theorien in einem Selbstverständnis, das zwanglos eine Kontinuität mit den Anfängen philosophischen Denkens herstellt: beide verpflichten sich auf eine theoretische Einstellung, die vom dogmatischen Zusammenhang und dem irritierenden Einfluß der natürlichen Lebensinteressen befreit; und beide finden sich in der kosmologischen Absicht, das Weltall in seiner gesetzmäßigen Ordnung theoretisch so zu beschreiben, wie es ist.

(…)

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