Merkur, Nr. 341, Oktober 1976

Hannah Arendts Begriff der Macht

von Jürgen Habermas

Max Weber hat Macht als die Möglichkeit definiert, den jeweils eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen. Hannah Arendt hingegen versteht Macht als die Fähigkeit, sich in zwangloser Kommunikation auf ein gemeinschaftliches Handeln zu einigen. Beide stellen Macht als eine Potenz vor, die sich in Handlungen aktualisiert; aber jeder legt ein anderes Handlungsmodell zugrunde.

»Macht« bei M. Weber, T. Parsons und H. Arendt

Max Weber geht vom teleologischen Handlungsmodell aus: ein einzelnes Subjekt (oder eine Gruppe, die wie ein Einzelner betrachtet werden kann) hat sich einen Zweck gesetzt und wählt die geeigneten Mittel, um ihn zu realisieren. Der Handlungserfolg besteht darin, einen Zustand in der Welt herbeizuführen, der den gesetzten Zweck erfüllt. Soweit dieser Erfolg vom Verhalten eines anderen Subjektes abhängt, muß der Handelnde über Mittel verfügen, die den anderen zu dem gewünschten Verhalten veranlassen. Diese Verfügungsgewalt über Mittel, die die Einflußnahme auf den Willen eines anderen gestatten, nennt Max Weber Macht. H. Arendt reserviert dafür den Begriff der Gewalt. Denn der zweckrational Handelnde, der ausschließlich am Erfolg seiner Handlung interessiert ist, muß über Mittel verfügen, mit denen er ein entscheidungsfähiges Subjekt, sei es durch Androhung von Sanktionen, durch Überredung oder durch eine geschickte Manipulation der Handlungsalternativen, zwingen kann: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.« [1. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, I, Kap. 1, § 16, und II, Kap. 9, § 1. T. Parsons unterscheidet vier Sorten von Machtausübung: persuasion, activation of commitments, inducement, coercion. Vgl. On the Concept of Power, in: T. Parsons, Sociological Theory and Modern Society, 1967, S. 310 f.]

Einzige Alternative zum Zwang ist freiwillige Verständigung der beteiligten Subjekte untereinander. Das teleologische Handlungsmodell sieht jedoch nur Handelnde vor, die am jeweils eigenen Erfolg und nicht an Verständigung orientiert sind. Verständigungsprozesse läßt es nur soweit zu, wie sie den Beteiligten für den eigenen Erfolg als funktional notwendig erscheinen. Aber eine solche Verständigung, die einseitig, unter dem Vorbehalt der Instrumentalisierung für den eigenen Erfolg angestrebt wird, ist nicht ernst gemeint: sie erfüllt nicht die Bedingungen eines zwanglos herbeigeführten Konsenses.

H. Arendt geht von einem anderen, dem kommunikativen Handlungsmodell aus: »Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.« [2. Macht und Gewalt, 1970, S. 45.] Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation.

Das könnte freilich so verstanden werden, als ob »Macht« und »Gewalt« nur zwei verschiedene Aspekte derselben Ausübung politischer Herrschaft bezeichneten. »Macht« hieße dann die für kollektive Ziele mobilisierte Zustimmung der Mitglieder, also deren Bereitschaft, die politische Führung zu unterstützen; während »Gewalt« Verfügung über die Ressourcen und Zwangsmittel bedeuten würde, kraft deren eine politische Führung bindende Entscheidungen trifft und durchsetzt, um kollektive Ziele zu verwirklichen. Diese Vorstellung hat tatsächlich den systemtheoretischen Begriff der Macht inspiriert. Talcott Parsons versteht unter Macht die allgemeine Fähigkeit eines sozialen Systems, »to get things done in the interest of collective goals«. [3. Authority, Legitimation and Political Action, in: T. Parsons, Structure and Process in Modern Societies, 1960, S. 181.]

Die Mobilisierung von Zustimmung erzeugt die Macht, die unter Ausnutzung der gesellschaftlichen Ressourcen in bindende Entscheidungen transformiert wird. Parsons kann die beiden Phänomene, die H. Arendt als Macht und Gewalt einander kontrastiert, in einem vereinheitlichten Konzept von Macht unterbringen, weil er »Macht« als Eigenschaft eines Systems versteht, das sich gegenüber den eigenen Bestandteilen nach demselben Schema verhält, wie das zweckrational handelnde Subjekt gegenüber der Außenwelt: »I have defined power as the capacity of a social system to mobilize ressources to attain collective goals.« Er wiederholt auf der Ebene der systemtheoretischen Begriffsbildung dieselbe teleologische Vorstellung der Macht (Macht als Potential zur Verwirklichung von Zwecken), der Max Weber auf der Ebene der Handlungstheorie gefolgt ist. In beiden Fällen geht das Spezifische verloren, das die Macht der einigenden Rede von instrumenteil ausgeübter Gewalt trennt. Die konsenserzielende Kraft der auf Verständigung gerichteten Kommunikation ist dieser Gewalt entgegengesetzt, weil ernstgemeinte Verständigung ein Selbstzweck ist und nicht für andere Zwecke instrumentalisiert werden kann.

Die Verständigung derer, die sich beraten, um gemeinschaftlich zu handeln — »die Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben« [4. Über die Revolution, 1965, S. 96.] –  bedeutet Macht, soweit sie auf Überzeugung, und damit auf jenem eigentümlich zwanglosen Zwang beruht, mit dem sich Einsichten durchsetzen.

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