Merkur, Nr. 293, September 1972

Helmuth Plessner zum 80. Geburtstag (4. IX. 1972)

von Jürgen Habermas

 

Hochverehrter, lieber Herr Plessner,

zum ersten Mal bin ich Ihnen, für eine Sekunde nur, begegnet, als Sie sich — es muß Mitte der 50er Jahre gewesen sein — im Bonner Philosophischen Seminar umsahen; Sie hatten einen Ruf nach Bonn erhalten und wollten sich informieren (oder auch nur einen Anstandsbesuch machen).

Erich Rothacker war eben emeritiert worden; er hatte uns angeregt, Plessner zu lesen. Plessner hieß: »Lachen und Weinen«, vor allem »Die Stufen des Organischen und der Mensch«. Mit diesem heute noch faszinierenden Buch hatte 1928, in dem Jahre, als auch Max Schelers »Stellung des Menschen im Kosmos« erschienen war, der eigentümlich deutsche Versuch einer philosophischen Anthropologie begonnen. Rothackers Kulturanthropologie blieb der Historischen Schule doch zu sehr verhaftet, um das systematische Bedürfnis der Studenten ganz zu befriedigen. So ist damals von Ihrer Anthropologie, insbesondere von der konstruktiven Kraft eines naturphilosophischen Entwurfs, wie er seit den Tagen Schellings und Hegels nicht mehr versucht worden war, ein starker Impuls auf uns ausgegangen.

Sichtbar ist dieser Einfluß in den Arbeiten von Karl-Otto Apel und Hermann Schmitz. Gerne möchte ich Ihnen, lieber Herr Plessner, am heutigen Tage zeigen, wie nachhaltig die Wirkung Ihrer Schriften auch dort ist, wo sie weniger sichtbar hervorgetreten ist. Dafür bietet ein knapper Geburtstagsbrief freilich den rechten Platz nicht. Darum nehme ich kursorisch nur zwei Denkanstöße auf, und zwar solche, an die ich mich spontan erinnere, weil sich mit ihnen Widerspruch verbunden hat (die vielfältigen Impulse, die so sehr Besitz ergreifen, daß man sie von den eigenen zu unterscheiden nach einiger Zeit nicht mehr in der Lage ist, könnte ich ohnehin nicht nennen).

Ihre Grundintention zielt auf eine philosophische Rehabilitierung der Natur, besonders der biologischen Grundlagen des menschlichen Lebens. Nun ist es heute so ungewöhnlich nicht mehr, die Menschengattung als ein Stück Natur zu betrachten. Sie jedoch vollziehen sehr energisch die naturalistische Wendung, ohne dafür den Preis eines philosophischen Naturalismus zu entrichten. Im Bewußtsein der politischen Folgen, die Sie am eigenen Leibe spüren mußten, sind Sie gegen den Biologismus alter, sozialdarwinistischer und neuer, humanethologischer Prägung ebenso immun wie gegenüber dem Behaviorismus angesichts seiner erkenntniskritischen Ungereimtheiten. Sie bringen, wenn ich das à la Nicolai Hartmann sagen darf, die niederen Kategorien gegen die höheren zu ihrem Recht, ohne dabei die soziokulturelle Lebensform so tief anzusetzen, daß das erkennende Subjekt (und erst recht das lachende) sich selbst nicht mehr ernst nehmen darf. Diese Perspektive ist, wie ich meine, typisch für Aufklärungsphilosophien: sie können die idealistischen Nebelbildungen durchdringen, weil ihnen nicht alle Ideen gleich nebelhaft sind.

An Ihren großen Untersuchungen zur politischen Philosophie und zur Geschichte sehe ich das bestätigt. Eine nicht-empiristische, gleichsam Feuerbachsche Parteinahme für das Sinnliche, Widerständige, Äußere, das gleichwohl mit der Sphäre des Sinns, des immer schon Zugänglichen, Inwendigen verwoben ist, verbindet Ihre Position mit der des Marxschen Materialismus. Gleichwohl rücken Sie Marx, wie auch Freud, in eine Reihe mit den Liquidatoren der Vernunft. Beide erscheinen als Strategen des Reduktionismus, die, wie immer unfreiwillig, »der Selbstentwertung des Menschen in die Hände arbeiten«.

Diese Interpretation wäre im Augenblick kein Grund zum Streiten, wenn sie sich nicht konsequent aus einer sehr bemerkenswerten Abwehr des Evolutionismus ergäbe — und darauf bezieht sich meine erste Frage: Der naive Evolutionismus um 1900 ist für Sie zum Schlüssel geworden für die barbarischen Implikationen einer im Namen der Wissenschaft auftretenden Zerstörung der Vernunft. Nun trifft aber die gut marxistische Kritik, die Sie am Darwinismus anbringen (»die Überzeugung von der Macht der Konkurrenz und dem Wert der Industrie«), den Sozialdarwinismus, jedoch kaum die Theorie der natürlichen Evolution. Und nicht jede Theorie der gesellschaftlichen Evolution, auch nicht die Marxsche, setzt sich Einwänden aus, die mit Recht gegen Überdehnungen der biologischen (heute der biokybernetischen) Begrifflichkeit gemacht werden können.

(…)

Möchten Sie weiterlesen?

Testen Sie jetzt den Merkur im digitalen Probe-Abo. Oder erwerben Sie den Artikel für 2 € als Download in unserem Volltextarchiv. Sie sind schon Digital-Abonnent? Hier einloggen, um weiterzulesen.

Zurück zur Artikelübersicht.