Merkur, Nr. 184, Juni 1963

Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein

von Jürgen Habermas

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Jene beiden gewichtigen Bücher [1. Von Hegel zu Nietzsche; Stuttgart 4. Aufl. 1958. Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Stuttgart, 4. Aufl. 1961 (beide Kohlhammer Verlag)], die dem Schriftsteller Löwith eine der Kunst des Wortes ebenso wie der Trefflichkeit und Weite des Gedankens angemessene Publizität erworben haben, sind dem Philosophen Löwith nicht gleichermaßen zugute gekommen. So verbreitet wie die Schriften selbst waren auch zwei folgenreiche Mißverständnisse: als hätte der Autor den revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts zwischen Hegel und Nietzsche geistesgeschichtlich minutiös und zugleich großzügig stilisierend nur deshalb untersucht, weil er sich mit dessen historischer Notwendigkeit identifizieren, sich womöglich selbst als ein noch einmal verjüngter Junghegelianer decouvrieren wollte; und weiter: als hätte derselbe Autor die im 18. Jahrhundert entstandene Geschichtsphilosophie in einer zwingend montierten Rückblende nur deshalb auf die halb verschwiegenen, halb vergessenen theologischen Voraussetzungen der biblischen Heilsgeschichte zurückgeführt, weil er die Säkularisierung des jüdisch-christlichen Glaubens als solche kritisieren und sich selbst gar durch die Derivate hindurch auf eine Kierkegaardsche Ursprünglichkeit zurückziehen wollte.

Dabei waren doch beide Bücher in ihrer Tendenz unverkennbar auf die Positionen hin angelegt, die Löwith schon während der dreißiger Jahre in Studien über Nietzsche und Burckhardt geklärt hatte – ihrerseits Ausarbeitungen von Kollegs, die Löwith in Marburg vor seiner Emigration gelesen hatte. Aus den komplementären Motiven jener beiden Denker zusammengenommen erzeugt Löwith den gewaltigen Kreis einer Drehscheibe, mit deren Hilfe er den anspruchsvollen Kulissenwechsel von der Moderne zur Antike inszenieren möchte. Er deutet Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen als den ersten und bis heute tragenden Versuch, auf der Spitze der weltverlorenen Modernität zur kosmologischen Weltansicht der Griechen zurückzukehren.

Weil aber Nietzsche selbst diese Rückkehr dialektisch vollzieht, immer noch als ein Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft, bleibt ihm unruhiger Entwurf und Postulat, was nur in der Theorie, in der unscheinbaren Stille der Besinnung unverstellt sich darbieten kann: die Welt im ganzen als der eherne Kreislauf der Natur. Darum ist für Löwith erst der Dialog zwischen dem, der christlichen Erfahrung immer noch verhafteten Antichristen und dem bürgerlich etablierten, spätbürgerlich resignierten Burckhardt zum Schlüssel geworden; ein Dialog, aus dem er besonders jene eine Stelle gern zu zitieren pflegt: er, Nietzsche, sei nicht einfach und still genug gewesen; statt Basler Professor zu bleiben, sei ihm keine andere Wahl geblieben, als sich als ein Narr und Possenreißer der neuen Ewigkeiten zu opfern. Löwith möchte die Wahrheit Nietzsches aus Nietzsches eigenem Horizont der Entrückung und Verzückung einer Metaphysik des Willens lösen. Er spiegelt diese echauffierte Wahrheit in der Urbanen Verhaltenheit Jakob Burckhardts, um aus der gelösten historischen Bildung dieses der Antike so zugewandten Gelehrten mit der einen Hälfte des festgehaltenen Nietzsche den Absprung zu finden von den Klippen des historischen Bewußtseins überhaupt.

Das Zwiegespräch Nietzsche-Burckhardt, in das auch die beiden großen Untersuchungen Löwiths eingefaßt sind, hätte eigentlich keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen an deren Absicht. Mit der Reduktion der Geschichtsphilosophie auf ihre theologischen Voraussetzungen wollten sie hinter die jüdisch-christliche Tradition im ganzen zurückführen. Und durch die Analyse der nachhegelischen Kritik an Hegel (und den ontologischen Voraussetzungen der Philosophie) wollten sie eine Metakritik des von langer Hand theologisch vorbereiteten, erst im 19. Jahrhundert atheistisch zur Herrschaft gelangten historischen Bewußtseins als solchem einleiten.

Soweit Zweifel daran gleichwohl bestanden haben, hat Löwith sie inzwischen unmißverständlich aufgeklärt: durch vier, unter dem Titel »Wissen, Glaube und Skepsis« zusammengefaßte Essays [2. Wissen, Glaube, Skepsis; Vandenhoeck & Ruprecht 2. Aufl. 1958], die die Unvereinbarkeit philosophischen Untersuchens und christlichen Glaubens dartun möchten; und durch eine Reihe von Abhandlungen [3. Gesammelte Abhandlungen; Kohlhammer 1960], deren wichtigste auf den gemeinsamen Nenner einer Kritik der »geschichtlichen Existenz«, wir würden es vorziehen zu sagen: des historischen Bewußtseins gebracht werden können. Ihr Leitmotiv ist nämlich durch die wiederholte Berufung auf ein Fragment aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert charakterisiert: »Einst wird aus Überdruß der Menschen der Kosmos weder bewundert werden noch anbetungswürdig erscheinen.

Dieses größte Gut in seiner Gesamtheit, das Beste, was jemals gewesen ist, und ist, und zu schauen sein wird, es wird in Gefahr geraten . . .« Nicht zufällig knüpft Löwith an die Stoa an, zumal an die stoische Klage über den Verlust einer selbstverständlichen Ansicht vom Kosmos; denn schon damals konnte in der Weite des römischen Imperiums der Logos der Natur nur noch abstrakt gefaßt und privatim festgehalten werden. Er war nicht mehr im lebendigen Spiegel der Polis augenscheinlich und unmittelbar allen, die eines freien Blickes fähig waren, gegenwärtig. Ein gesammelt-versunkenes theorein mußte, wie die ironische Wahrheitssuche und die skeptische Urteilsenthaltung, damals schon in der Disziplin des privatisierten Weisen zwangshaft gesichert, in Übungen der Ataraxie veranstaltet werden. Diese gebrochene Erhaltung der klassischen Weltansicht im Widerstreit mit dem heraufziehenden Christentum ist der Boden, auf dem Löwith, um ihrer nachchristlichen Wiederherstellung willen, Fuß fassen möchte.

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