Merkur, Nr. 332, Januar 1976

Legitimationsprobleme im modernen Staat*

von Jürgen Habermas

 

* Dieser Text, der sich mit dem vorhergehenden von Wilhelm Hennis auseinandersetzt,

konnte auf dem genannten Kongreß aus Zeitgründen nur teilweise vorgetragen werden.

 

Zu wissen, wovon man spricht, ist immer förderlich; wenn es um das Problem der Legitimität geht, sollte man es besonders genau wissen — darin stimme ich Hennis zu. Er selbst beläßt es freilich bei polemischen Annotationen. Sein Legitimationsbegriff bleibt so undeutlich, sein systematischer Beitrag so mager, daß ich ersatzweise versuchen muß, Stichworte zu einer Theorie der Legitimation zu sammeln. Dahinter wird die rhetorisch reizvollere Aufgabe einer Antipolemik zurücktreten.

Gegen Empirismus und Normativismus

Die sozialwissenschaftliche Behandlung von Legitimationsprozessen bewegt sich heute auch bei marxistischen Theoretikern im »Bannkreis Max Webers«. Die Legitimität einer Herrschaftsordnung bemißt sich am Legitimitätsglauben der Herrschaftsunterworfenen. Dabei handelt es sich um den »Glauben, daß Strukturen, Verfahrensweisen, Handlungen, Entscheidungen, Politiken, Beamte oder politische Führer eines Staates die Qualität der Richtigkeit, der Angemessenheit, des moralisch Guten besitzen und wegen dieser Qualität anerkannt werden sollten«.

Für die Systemtheorie (Parsons, Easton, Luhmann) stellt sich die Frage, mit Hilfe welcher Mechanismen ein hinreichendes Maß an Legitimation beschafft oder durch welche funktionalen Äquivalente fehlende Legitimation ersetzt werden kann. Lerntheoretiker bringen die Frage nach den sozialpsychologischen Bedingungen, unter denen ein Legitimitätsglaube entsteht, in einer Theorie der Gehorsamsmotivation unter.

Die empiristische Vertauschung der Legitimität mit dem, was man dafür hält, erlaubt also sinnvolle soziologische Untersuchungen (über deren Wert der Erfolg der system- und verhaltenstheoretischen Ansätze insgesamt entscheiden wird). Dabei handelt es sich nicht, wie Hennis meint, um eine deutsche Idiosynkrasie, sondern um den Stand der internationalen Forschung.

Allerdings wird man sich nach dem Preis erkundigen dürfen, den der Empirist für die Umdefinition seines Gegenstandes entrichten muß. Wenn der Objektbereich so gefaßt wird, daß darin keine legitimen, sondern nur noch für legitim gehaltene Ordnungen auftreten können, wird der Zusammenhang, der beim kommunikativen Handeln zwischen Gründen und Motiven besteht, aus der Analyse ausgeblendet; jedenfalls wird eine vom Aktor unabhängige Bewertung der Gründe methodisch ausgeschlossen. Der Forscher selbst enthält sich der systematischen Beurteilung der Gründe, auf die sich Legitimitätsansprüche stützen.

Das gilt seit den Tagen Max Webers zwar als Tugend; selbst wenn man sich diese Interpretation zu eigen macht, bleibt aber der Verdacht bestehen, daß Legitimität, der Glaube an Legitimität und die Bereitschaft, einer legitimen Ordnung Folge zu leisten, etwas mit der Motivation durch »gute Gründe« zu tun haben. Ob Gründe »gute Gründe« sind, läßt sich freilich nur in der performativen Einstellung des Teilnehmers an einer Argumentation feststellen, nicht durch die neutrale Beobachtung dessen, was dieser oder jener Diskursteilnehmer für gute Gründe hält. Um das zu beurteilen, müßten wir auf vernünftige, intersubjektiv nachprüfbare Weise Legitimitätsansprüche systematisch bewerten können. Können wir das?

Hennis ist offenbar dieser Meinung. Er hält eine »kritisch-normative Abgrenzung von Legitimität und Illegitimität« für unabdingbar. Aber Verfahren oder Kriterien der Abgrenzung nennt er nicht. Er erwähnt Legitimitätsfaktoren: das Ansehen von Personen, die Effizienz bei der Bewältigung öffentlicher Aufgaben, die Zustimmung zu Strukturen. Nun soll aber die persönliche Autorität aus »nicht begründbaren Quellen stammen«. Was als effiziente Aufgabenbewältigung gelten darf, bemißt sich an Standards. Diese wiederum hängen mit den Strukturen zusammen, über deren Legitimität Hennis nur sagt, daß sie sich in verschiedenen nationalen Varianten durchsetzt. Was als Grund der Legitimität von Herrschaft gelten darf, sagt er nicht. Dazu bedarf es eines normativ gehaltvollen Begriffs der Legitimität. Einen solchen führt Hennis nicht ein, mindestens stillschweigend muß er sich aber darauf beziehen.

Der alteuropäische Zuschnitt der Argumentationsstrategie läßt Verbindungen zur klassischen Lehre von der Politik vermuten. In dieser auf Plato und Aristoteles zurückgehenden Tradition stehen bedeutende Autoren, die noch über einen substantiellen Begriff der Sittlichkeit, über normative Begriffe des Guten, des Tugendhaften, des Gemeinwohls usw. verfügen. Besonders der Neuaristotelismus hat in Schriften von Hannah Arendt, Leo Strauß, Joachim Ritter und anderen eine Renaissance erfahren.

Schon der Titel, unter dem Ritter seine Aristoteles-Studien veröffentlicht hat: »Metaphysik und Politik«, gibt jedoch einen Hinweis auf die Schwierigkeit der Argumentationslage. Es nimmt daher nicht wunder, daß die neuaristotelischen Schriften keine systematische Lehren enthalten, sondern Werke hoher Interpretationskunst darstellen, die die Wahrheit klassischer Texte eher durch Auslegung suggerieren als begründen. Größere Chancen haben gewisse Reduktionsformen des Aristotelismus. Sie bilden die praktische Philosophie, unter Abzug ihres theoretischen Anspruchs, auf eine Hermeneutik von Alltagsvorstellungen des Guten, Tugendhaften und Gerechten zurück, um dann zu versichern, daß sich in der klugen Applikation dieses Wissens ein unveränderlicher Kern substantieller Sittlichkeit erhalte. Ein Beispiel ist Hennis‘ Inanspruchnahme der Topik für die politische Wissenschaft, ein anderes Gadamers Deutung der Nikomachischen Ethik.

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