Merkur, Nr. 243, Juli 1968

Technik und Wissenschaft als »Ideologie«? Für Herbert Marcuse zum 70. Geburtstag (19. VII.)

 von Jürgen Habermas

Max Weber hat den Begriff der »Rationalität« eingeführt, um die Form der kapitalistischen Wirtschaftstätigkeit, des bürgerlichen Privatrechtsverkehrs und der bürokratischen Herrschaft zu bestimmen. Rationalisierung meint zunächst die Ausdehnung der gesellschaftlichen Bereiche, die Maßstäben rationaler Entscheidungen unterworfen werden. Dem entspricht die Industrialisierung der gesellschaftlichen Arbeit mit der Folge, daß Maßstäbe instrumentalen Handelns auch in andere Lebensbereiche eindringen (Urbanisierung der Lebensweise, Technisierung des Verkehrs und der Kommunikation). In beiden Fällen handelt es sich um die Durchsetzung des Typus zweckrationalen Handelns: hier bezieht er sich auf die Organisation von Mitteln, dort auf die Wahl zwischen Alternativen.

Die Planung schließlich kann als ein zweckrationales Handeln zweiter Stufe aufgefaßt werden: sie zielt auf die Einrichtung, Verbesserung oder Erweiterung der Systeme zweckrationalen Handelns selber. Die fortschreitende »Rationalisierung« der Gesellschaft hängt mit der Institutionalisierung des wissenschaftlichen und des technischen Fortschritts zusammen. In dem Maße, in dem Technik und Wissenschaft die institutionellen Bereiche der Gesellschaft durchdringen und dadurch die Institutionen selbst verwandeln, werden die alten Legitimationen abgebaut. Säkularisierung und »Entzauberung« der handlungsorientierenden Weltbilder, der kulturellen Uberlieferung insgesamt, ist die Kehrseite einer wachsenden »Rationalität« des gesellschaftlichen Handelns.

Herbert Marcuses Kritik an Max Weber

Herbert Marcuse hat an diese Analysen angeknüpft, um nachzuweisen, daß der formale Begriff der Rationalität, den Max Weber vom zweckrationalen Handeln des kapitalistischen Unternehmers und des industriellen Lohnarbeiters, von dem der abstrakten Rechtsperson und des modernen Verwaltungsbeamten abgezogen und an den Kriterien der Wissenschaft wie der Technik festgemacht hat, bestimmte inhaltliche Implikationen hat. Marcuse ist überzeugt, daß sich in dem, was Max Weber »Rationalisierung« genannt hat, nicht »Rationalität« als solche, sondern im Namen der Rationalität eine bestimmte Form uneingestandener politischer Herrschaft durchsetzt. Weil sich Rationalität dieser Art auf die richtige Wahl zwischen Strategien, die angemessene Verwendung von Technologien und die zweckmäßige Einrichtung von Systemen (bei gesetzten Zielen in gegebenen Situationen) erstreckt, entzieht sie den gesamtgesellschaftlichen Interessenzusammenhang, in dem Strategien gewählt, Technologien verwendet und Systeme eingerichtet werden, der Reflexion und einer vernünftigen Rekonstruktion. Jene Rationalität erstreckt sich überdies nur auf Relationen möglicher technischer Verfügimg und verlangt deshalb einen Typ des Handelns, der Herrschaft, sei es über Natur oder Gesellschaft, impliziert.

Zweckrationales Handeln ist seiner Struktur nach die Ausübung von Kontrolle. Deshalb ist die »Rationalisierung« von Lebensverhältnissen nach Maßgabe dieser Rationalität gleichbedeutend mit der Institutionalisierung einer Herrschaft, die als politische unkenntlich wird: die technische Vernunft eines gesellschaftlichen Systems zweckrationalen Handelns gibt ihren politischen Inhalt nicht preis. Marcuses Kritik an Max Weber kommt zu dem Schluß:

»Der Begriff der technischen Vernunft ist vielleicht selbst Ideologie. Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen der Herschaft sind nicht erst >nachträglich< und von außen der Technik oktroyiert — sie gehen schon in die Konstruktion des technischen Apparats selbst ein; die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit den Menschen und mit den Dingen zu machen gedenken. Ein solcher Zweck der Herrschaft ist >material< und gehört insofern zur Form selbst der technischen Vernunft.« [1. Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: Kultur und Gesellschaft II, 1965.]

Bereits 1956 hatte Marcuse in einem ganz anderen Zusammenhang auf das eigentümliche Phänomen hingewiesen, daß in den industriell fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften Herrschaft dazu tendiert, ihren ausbeuterischunterdrückenden Charakter zu verlieren und »rational« zu werden, ohne daß damit politische Herrschaft verschwände: »Herrschaft ist nur noch bedingt durch die Fähigkeit und das Interesse, den Apparat als ganzes zu erhalten und zu erweitern.« [2. Trieblehre und Freiheit, in: Freud in der Gegenwart, Frankf. Beitr. z. Soz. Bd. 6, 1957.] Die Rationalität der Herrschaft bemißt sich an der Aufrechterhaltung eines Systems, das es sich erlauben kann, die an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gekoppelte Steigerung der Produktivkräfte zur Grundlage seiner Legitimation zu machen, obgleich andererseits der Stand der Produktivkräfte gerade auch das Potential bezeichnet, an dem gemessen »die den Individuen auferlegten Verzichte und Lasten immer unnötiger, irrationaler erscheinen.«

Marcuse meint, die objektiv überflüssige Repression in der »intensivierten Unterwerfung der Individuen unter den ungeheuren Produktions- und Verteilungsapparat, in der Entprivatisierung der Freizeit, in der beinahe ununterscheidbaren Verschmelzung von konstruktiver und destruktiver gesellschaftlicher Arbeit« zu erkennen. Paradoxerweise kann aber diese Repression aus dem Bewußtsein der Bevölkerung verschwinden, weil die Legitimation der Herrschaft einen neuen Charakter angenommen hat: nämlich den Hinweis auf »die stetig wachsende Produktivität und Naturbeherrschung, die auch die Individuen immer komfortabler am Leben erhält«.

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