Merkur, Nr. 81, November 1954
Hase und Igel
von Karl August Horst
Es wird nie ganz auszumachen sein, was den Erfolg eines Romans bedingt. Handelt es sich aber um Bücher, die einer bestimmten Zeitlaune Rechnung tragen, so wird man zumindest sagen können, daß ihr Erfolg davon abhängt, wie weit sie dem Identifizierungsbedürfnis des Lesers entgegenkommen. Das heißt: je individueller geformt, je eigenwilliger und konsequenter in der Selbstkritik der Held eines solchen Buches ist, um so weniger wird er den Leser für sich einnehmen. Befindet er sich hingegen in einem Stadium geistiger Pubertät, denkt er die Dinge nicht zu Ende, besticht er sich selber mit Rechtfertigungen, die unter der Hand auch den Leser rechtfertigen, so kann man dem Buch eine günstige Prognose stellen.
Der Erfolg hängt nicht von der literarischen Qualität ab. „Im Westen nichts Neues“ von Remarque war dem Roman „Erfolg“ von Lion Feuchtwanger literarisch gesehen nicht überlegen. Und doch provozierte der ironische Titel „Erfolg“ keinen Erfolg, obwohl das Thema mindestens so aktuell war wie Remarques Thema. Dort ging es um die Geschichte des 9. November in München, hier um das Kriegserlebnis der Steckrübenjahrgänge.
Was jedoch Feuchtwanger um den Erfolg brachte, war der Umstand, daß bei allem Haß und Spott auf den Nationalsozialismus die ironische Haltung seines Buches am wenigsten geeignet war, Sympathie für den Nazigegner zu erwecken, während Remarque seine Polemik sehr geschickt mit sentimentaler Pedalbegleitung zum Vortrag brachte. Sentimentalität hat allemal den Vorteil, daß sie scharf aufgesetzte Töne verwischt und eine Art kollektiver Resonanz erzeugt. Wer ist nicht mit Remarque zu französischen Mädchen geschlichen und hat sich von ihnen mütterlich streicheln lassen? Dagegen werden nur wenige den Helden Feuchtwangers in die Zelle begleitet und mit ihm die sexuellen Nöte der Gefangenschaft geteilt haben. Sentimentalität gestattet jederzeit Identifizierung. Selbstentblößung hingegen erstickt die Resonanz.
Für Sentimentalität kann auch der billige Witz eintreten, der den Leser in die kollektive Unverantwortlichkeit guter Laune versetzt. Meistens erzeugt eine geschickte Mischung aus beidem den gewünschten Effekt. Denn ebenso wie uns die sentimentale Stimmung der Verantwortung für Gefühle enthebt, die wir recht besehen oft gar nicht haben, ebenso befreit uns der Witz von der lästigen Notwendigkeit, Stellung zu nehmen. Die unter Hitler kursierenden Witze zeugten viel häufiger von Gesinnungsschwäche als von Gesinnungsstärke. Der Dicke und der Dünne — Göring und Goebbels — verwandelten sich in feststehende Schwanktypen, denen man witzeshalber so wenig böse sein konnte wie Pat und Patachon.
Vom Dritten Reich finde ich einen zwanglosen Übergang zu dem Roman „Null-Acht-Fünfzehn“ Hans Helmut Kirst (Desch, München 1954, 2Bd.). Zwischen Diktatur und Demokratie ist der Bruch bei weitem nicht so scharf, wie es der zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik gewesen ist. Schon darum ist der Erfolg von Kirsts Roman ein völlig anderer als der von Remarques „Im Westen nichts Neues“ in den zwanziger Jahren. Wenn der Autor tatsächlich als NS-Führungsoffizier bis in die letzten Kriegstage bei der Truppe gestanden hat, so bedeutet das erst recht eine Erfolgsgarantie. Ein überzeugter und unbeugsamer Gegner des Nationalsozialismus hätte, wie die Dinge bei uns liegen, kaum eine Chance, den Erfolgsroman gegen den Militarismus zu schreiben. Er sähe viel zu tief, er dächte viel zu weit, er schlüge den Leuten eine Menge Entschuldigungen aus der Hand, die ihnen zumindest so lange für stichhaltig gelten, als sie dieselben bei dem Autor, den sie lesen, voraussetzen können.
Sentimentalität und Witz verlassen sich auf die menschliche Vergeßlichkeit. Das chilenische Sprichwort, daß ein gutes Gewissen nicht selten auf ein schlechtes Gedächtnis zurückzuführen sei, trifft im besonderen auf Gefühlsduselei und spaßhaften Verriß zu. Man hält sich die Wahrheit am ehesten vom Leibe, indem man sich rückhaltlos der Stimmung in die Arme wirft. Die Enthüllung, daß der Autor Kirst im Jahr 1945 offenbar anders gedacht hat als heute — d. h. wenn er überhaupt gedacht hat und nicht damals wie heute einer Stimmung unterlag —, dürfte dem Erfolg seines Romans kaum geschadet haben. Wer hat nicht im Jahr 45 anders gedacht als heute, und wer möchte seine gegenwärtige Stimmung durch einen Blick in die Vergangenheit desavouieren? Kann man dem Autor von „Null-Acht-Fünfzehn“ Unredlichkeit vorwerfen? Gewiß nicht. Das hieße ja mit anderen Worten, daß ein ehemaliger Führungsoffizier mit jenen Kritikastern und Nörglern, mit jenen Ewig-Gestrigen und Reaktionären auf eine Stufe zu stellen sei, die so verbohrt sind, zehn Jahre danach an Dinge zu glauben, die gottlob begraben und vergessen sind. Hat Kirst Anlaß, den preußischen Kommiß und den Kasernenhofdrill zu verteidigen? Mitnichten. Erst recht nicht, wenn ihre Wiederauferstehung unter demokratischem Vorzeichen stattfindet und nicht unter dem Motto: „Deutschland erwache!“
Der Erfolg von „Null-Acht-Fünfzehn“ entspricht genau jener flachen antimilitaristischen Laune, die im Kabarett, in der Presse, in Kino und Roman nach ebenso flacher Bestätigung sucht. Nach dem ersten Weltkrieg wurden Militärhumoresken gedreht. Siegfried Arno spielte den Gefreiten Meier. Sie sollten den Kommiß durch Lächerlichkeit töten. Aber was antimilitaristisch geplant war, bahnte dem Militarismus den Weg. Die Solidarität des Lachens schuf jene unverantwortliche Stimmung, die sich der Gefreite Hitler zunutze machte.
Literarisch gesehen ist „Null-Acht-Fünfzehn“ ein beliebiges Buch. Sein Erfolg hängt ab von der unbewußten Pedalbegleitung, die ihm der Leser unterlegt. Viele Tausende haben aus den verschiedensten Gründen unter dem Kommiß gelitten. Ein Autor, der im Augenblick, da Kommiß und Kasernenhof wieder aktuell zu werden drohen, verdrängte Unlustgefühle instrumentiert, kann auf starke Resonanz rechnen. Nur muß er peinlich darauf bedacht sein, daß diese Unlustgefühle nicht irgendwelche Konsequenzen in Form geistiger Erkenntnisse zeitigen. Träte das ein, wäre es im Nu um die Kollektivwirkung geschehen. Die einfache Frage: warum der Kommiß abzulehnen sei, würde jene anonyme Hülle sprengen, in der man sich als gefühlsmäßiger Antimilitarist geborgen fühlt. Unter dem Deckmantel der Stimmung „Nie wieder Kommiß“ kann der Drückeberger dem überzeugten und aktiven Pazifisten die Hand reichen, und es stört ihn kaum, wenn ein ehemaliger Führungsoffizier seinem Empfinden Ausdruck verleiht.
Umgekehrt wie Kirst, der die gesinnungsmäßige Auseinandersetzung scheut und um des Erfolges willen scheuen muß, hat Wolfgang Koeppen in seinem Roman „Das Treibhaus“ (Scherz & Goverts, Stuttgart 1953) die Auseinandersetzung gesucht und so ziemlich alle Berufe, Klassen und Stände vor den Kopf gestoßen: Abgeordnete, Industrielle, Militärs, Regierung, Opposition, die Parteien insgesamt, Amerikaner, Kommunisten und Flüchtlinge. Wir begegnen in seinem Roman keiner einzigen Figur, mit der wir uns identifizieren möchten, und wenn uns zuweilen ein Lachen ankommt, verbeißen wir es schuldbewußt, weil wir spüren, der Autor würde es als eine Form grober Anbiederung zurückweisen.
Auch Anwandlungen von Sentimentalität läßt Koeppen nicht ungestraft. Die Rheinlandschaft um Bonn, die Rheinromantik und die rheinische Läßlichkeit mit ihrem Einschlag von Stimmungsdemagogie werden von ihm bis auf die Hautgeschunden. Sein Bundestagsabgeordneter sitzt im Glashaus und liest Baudelaire. (Das Treibhaus ist ein Requisit der symbolistischen Literatur. Maeterlincks erster Gedichtband hieß: ,,Les Serres“). Die Atmosphäre ist fortdauernd schwül und feucht. Die Erotik hat einen exotischen Einschlag, als läge Bonn in Monako. Biedere Abgeordnete, denen man allenfalls Streberei und Spießertum als Laster anrechnen könnte, werden hinterrücks mit phallischen Attributen behängt. Der politische Karneval ist zugleich ein Karneval des Fleisches. Mädchen der Heilsarmee sind verkleidete Mänaden.
Koeppens Roman ist das genaue Gegenteil von „Null-Acht-Fünfzehn“. Obwohl ihn alles zum Schlüsselroman zu machen scheint, obwohl es faustdicke Anspielungen regnet und vom rührseligen Schwaben Musäus bis zum Rosenzüchter von Rhöndorf alle Masken aufmarschieren, hat man doch keinen Augenblick den Eindruck, das Glashaus, in dem Koeppen, der Autor, sitzt, sei mit dem Bonner „Treibhaus“ identisch. Die Eigenwilligkeit des Autors inhibiert jeden Versuch, das eine mit dem anderen gleichzusetzen.
Schuld daran ist nicht etwa mangelnde Lokalkenntnis oder eine gewisse Klaustrophobie, sondern Schuld ist in erster Linie der Stil, dem sich Koeppen verschrieben hat und an dem er mit einer Art von Monomanie bis zur letzten Zeile festhält. Dieser Stil — ein monologisches Stakkato — lebt von Pointen. Ohne eine ganz bestimmte dynamische Spannung würde er aufhören zu existieren. So muß er ständig gespeist werden, auch an Stellen, wo er unfehlbar ins Unwahrscheinliche gerät. Zum Beispiel: Der Abgeordnete Keetenheuve hat sich nach einem ermüdenden Vormittag auf die Rheinterrasse des Hotel Dreesen in Godesberg zurückgezogen und schickt sich an, einen Fisch zu verspeisen. Der Leser gönnt ihm die Atempause, aber nicht Koeppen. Der Stil droht zu erlahmen, wenn ihm nicht mit ein paar drastischen Effekten auf die Beine geholfen wird. So wird ein Sketch inszeniert, der sich in Keetenheuves Phantasie abspielt, bestritten von dem „Führer“, dem Mac Carthy-Ausschuß und den Rheintöchtern. Eine grotesk-humoristische Einlage, die man sich auf der Rheinterrasse des ehemaligen „Haus Vaterland“ in Berlin gespielt denken mag. Aber zugleich eine überdrehte Szene, die dem Leser erkältend zum Bewußtsein bringt, daß Koeppen seinem Ehrgeiz, auf 223 Seiten stilistisch zu brillieren, ohne Rücksicht alles — seinen Helden, Bonn und womöglich die eigene Wahrheit — zu opfern bereit ist.
Tyrannei des Stils. Von da ab wird der Leser nur noch durch die Spannung in Atem gehalten, wie lange Koeppen durchhalten wird. Daß sein Held Keetenheuve dem Stil zuliebe einen Amoklauf antreten muß, wird ihm von Seite zu Seite deutlicher bewußt. Nur ist es kein wirklicher Amoklauf, sondern eine abstrakte Tempofrage, die im Anfang, als Keetenheuve mit der Eisenbahn den Rhein hinunterfuhr, relativ günstig geregelt war. Vom Augenblick an, da er in Bonn aussteigt, übernimmt er selber die Rolle der Lokomotive. Und da dieser Energumene nicht ständig in Bewegung sein kann, überheizt Koeppen den Kessel seiner Phantasie mit Erinnerungsbrocken, imaginärer Polemik und hektischer Erotik.
Der Amoklauf ist politisch gesehen ein Wettlauf um die Zukunft. Aber wie in dem Märchen vom Wettlauf zwischen Hasen und Igel sieht Keetenheuve, mag er auch mit angelegten Ohren dahinpreschen, den Gegner überall bereits angekommen. Ist er wirklich bereits angekommen oder täuscht Keetenheuve die doppelgängerische Vision der Vergangenheit? Er begrüßt den Bau von Arbeitersiedlungen, aber es sind die Nazibaumeister, die weiter bauen. Er mag die Beschwichtigung des Arbeiters nicht, die ihm wider Stolz und Menschenwürde geht, aber „Die Revolution war einKind der Romantik, eine Krise der Pubertät. Sie hatte ihre Zeit gehabt“.
Er findet bei der Opposition, zu der er sich bekennt, seinen verhaßten Gegner: den Patriotismus. Hier glaubt man an das „Volksheer“, auf der anderen Seite an Standes- und Geschäftsinteressen. „Die Generale haben den Braunauer Bazillus großgezogen.“ „Und die Minister kochen ihre Süpplein in alten Kasernen.“ Was also will Keetenheuve? Den Wettlauf um die Zukunft wird er nie gewinnen. Er ist ein abgetriebener Hase. „Das Herz ging unruhig, verzagt, japste, ein gehetztes Waidtier. Fürchtete er sie? Er fürchtete sich nicht. Aber er war wie ein Schwimmer, der gegen eine starke Strömung zum Ufer schwimmt und weiß, er wird es nicht schaffen, er wird abgetrieben, er kommt nicht voran, die Anstrengung ist sinnlos, und schöner wär’s, man ließe sich treiben, schaukelte ins Grab.“
Der psychologische Nenner des Ganzen ist totale Unlust. Das „Treibhaus“ resultiert aus dem Treibhausstil, den eine künstlich angefeuerte Dynamik auf die gewünschte Temperatur bringt. Das Fiasko ist unvermeidlich. Keetenheuve springt in den Rhein, wie die entfesselte Lokomotive bei Max Eyth. „Berufstragik.“ Der Roman erreicht das Ufer nicht.
Im Gegensatz zu Kirst, bei dem vieles wohlweislich verschwiegen wird, trifft bei Koeppen jeder Stich in frühere Muster. Keetenheuves Seele ist ein Röntgenbild pointierter Widersprüche. Ich habe auf Maeterlincks „Treibhäuser“ verwiesen, auf Keetenheuves Vorliebe für Baudelaire. Ich könnte des weiteren seinen Strindbergschen Frauenkomplex, seine neuromantische Hamlet-Stimmung nennen (Keetenheuve auf der Terrasse im Gespräch mit Geistern). Auch die Unlust gehört in diesen Zusammenhang. Wenn es der Stil erlaubte, könnte der Verfasser seinen Helden sagen lassen:
Wenn ich von guten Gaben der Natur
Je eine Regung, einen Hauch erfuhr,
o nannte ihn mein überwacher Sinn
Unfähig des Vergessens grell beim Namen,
Und wie dann tausende Vergleiche kamen,
War das Vertrauen, war das Glück dahin.
Keetenheuve, ein empfindsamer, ein symbolistischer Held, der für alle Menschen ein schalldichtes Gelaß, ein „Treibhaus“ erträumt.
Der amoklaufende Hase Koeppen will sich von keiner Stimmung, keinem Sentiment einfangen lassen. Sein idealistisch nihilistischer Wettlauf um die Zukunft, nach einem Ziel, das immer wieder äffende Bilder der Vergangenheit verstellen, ist ein Wettlauf zwischen Utopismus und Konformismus; er kann nicht zum Ziel kommen, denn in ihm selber hetzt der Flagellant den Zyniker und der Zyniker den Flagellanten zu Tode. Und doch läuft dieser Hase richtig. Denn wer es in unserer mobilen Situation auf Satire abgesehen hat, kann nicht mißtrauisch genug sein gegenüber bekränzten Zielpfosten, die als Friedenstore winken und als Janustore aufgehen.
Der Satiriker Koeppen verfolgt seine Einzelfährte und ist redlich bis zum Versagen. Wie in seinem ersten Roman „Tauben im Gras“ nimmt uns sein Stil – diese Mischung aus Lyrismus und Bitterkeit, diese Flucht abgehetzter greller und wie von rotierender Spule abspringender Bilder – auch hier aufs stärkste gefangen. Über den Vorwurf hinaus, dessen Gestaltung mißglückt sein mag, bleibt unser Interesse rege an einem Dichter, der sich uns auch mit seinen Fehlern einprägt. Das heißt: hier ist noch einer auf dem Weg. Kirst dagegen ist angekommen – oder sagen wir französisch – arriviert.
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