Merkur, Nr. 739, Dezember 2010

Internetkolumne. Das Buch als Geldbäumchen

von Kathrin Passig

 

Ich war der beste Freund der Buchbranche. In meiner Kindheit herrschte Büchernot − die Stadtbücherei war nur mit dem Auto zu erreichen, alle zwei Wochen brachte man mich hin, aus pädagogischen Gründen durfte ich nicht mehr als vierzehn Bücher entleihen. Später lieh ich nicht mehr gern, ich kaufte lieber, und ich kaufte viel. Wenn ich es mir leisten konnte, griff ich zur bibliophilen Ausgabe. Diese Zeiten sind fort, für immer fort und ganz vergangen. Ich habe es nicht gleich bemerkt, es war ein schleichender Prozess.

Als ich dreiundzwanzig war, nahm das Internet allmählich Form an. Ich hörte auf, Zeitungen auf Papier zu kaufen, aber an meinem Verhältnis zu Büchern änderte sich wenig. Einige Jahre lang arbeitete ich nebenbei in einer Buchhandlung, in der ich Mitarbeiterrabatt bekam. Meine Einnahmen setzte ich in Bücher um wie ein dealender Junkie. 1998 endete diese Phase, Amazon kam nach Deutschland, und abgesehen von einigen Bahnhofs- und Flughafenkäufen betrat ich danach keine Buchhandlung mehr.

Lange Zeit kaufte ich weiterhin alles, was mir interessant erschien, aber immer mehr Regalfächer füllten sich mit Ungelesenem. Wäre ich in dieser Zeit von einem Marktforschungsunternehmen befragt worden, ich hätte keine großen Veränderungen meines Leseverhaltens zu Protokoll gegeben. Ebenso wie die Buchbranche maß ich meine Einstellung zum Bücherlesen der Einfachheit halber am Kaufvolumen. Erst als ich eines der vielen virtuellen Bücherregale benutzte, in denen Leser notieren, was sie zu lesen gedenken, gerade lesen oder beendet haben, war das Auseinanderklaffen meines Kauf- und meines Leseverhaltens nicht mehr zu beschönigen: Ich las noch knapp drei Bücher im Monat zu Ende.

Mein Interesse am physischen Besitz neuer Bücher hatte schon länger nachgelassen. Ich hatte die Erinnerung an die Zeiten des Mangels überwunden und brauchte nicht mehr in meinem Buchbesitz zu baden wie Dagobert Duck, der sich die Talerchen auf die Glatze prasseln lässt. Gleichzeitig hatten sich die Schattenseiten des Buchbesitzes bemerkbar gemacht. Obsessive Buchkäufer stehen früher oder später vor der Wahl, in eine größere Wohnung zu ziehen oder ihr Verhältnis zum Buchbesitz zu überdenken. Ich entschied mich gegen einen Umzug und überließ meine Bücher dem »Berliner Büchertisch« − zuerst die ungeliebten, danach das Mittelfeld, am Ende auch die Schätze. Wo ich früher in Nick-Hornby-Manier sortierte und umsortierte, gibt es heute keine Systematik mehr. Ich finde nichts im Regal, suche dort aber auch nichts mehr. Was ich zitieren will, schlage ich im Netz nach, selbst wenn ich das Buch noch besitze und es nur ein paar Schritte zum Regal wären.

Der Autor Cory Doctorow schrieb 2006 in Forbes: »Die meisten Menschen sind keine Leser und werden nie welche sein − aber wer ein Leser ist, wird immer einer bleiben, und diese Menschen hängen am bedruckten Papier wie Fetischisten.« Mag sein, dass Leser immer Leser bleiben, schließlich bringe ich wie vor zwanzig Jahren den größten Teil des Tages mit Texten zu. Aber das Papier als Material wie auch das Buch als Form haben ihren Reiz für mich weitgehend verloren. Und wenn ich das Interesse am Buch verlieren konnte, dann ist niemand davor gefeit.

Spekulationen über die Zukunft des Buchs, die sich nur mit der Umstellung vom analogen auf den digitalen Konsum beschäftigen, greifen daher zu kurz. Die Stellungnahmen aus der Buchbranche handeln vom E-Book als ergänzender Darreichungsform derselben Inhalte wie bisher, die auf dieselbe Art, aus denselben Gründen und in denselben Situationen gekauft und konsumiert werden sollen. Das eigentliche Thema aber wären Veränderungen der Lesegewohnheiten, der Gründe für Buchkäufe, der sozialen Bedeutungen von Buchlektüre und -besitz. Dass das E-Book-Geschäft in Deutschland im Jahr 2010 allmählich in Gang kommt, ist nur ein Aspekt schon länger stattfindender Umwälzungen, die über die Papierfrage hinausgehen.

Es gäbe Präzedenzfälle, an denen man erkennen könnte, dass Argumente wie jenes vom Wohlgeruch neuer Bücher oder vom Sand, der nach dem Urlaub aus den Seiten zu rieseln habe, langfristig nur eine kleine Käuferschicht beschäftigen. Sowohl die Leser als auch die Werbekunden von Zeitungen und Zeitschriften hingen weniger als gedacht an den gewohnten Inhalten in der gewohnten Darreichungsform. In der Musikindustrie stellte sich heraus, dass der Wunsch der Kunden nach dem Plattencover als Kunstform, nach ganzen Alben, unkomprimierten Datenformaten, persönlicher Beratung, dem »warmen Klang« von Vinyl oder dem physischen Besitz von CDs nicht so ausgeprägt war, wie man angenommen hatte. Auch die Buchbranche lebt nicht in erster Linie vom Verlangen der Leser nach dem haptischen Papiervergnügen, nicht vom Wunsch nach dem spezifischen Format »Buch« und noch nicht einmal vom Wunsch der Käufer, überhaupt Bücher zu lesen. Falls Verleger, Autoren, Buchhändler und Branchenverbände sich dessen bewusst sind, lassen sie es sich zumindest in der Öffentlichkeit wenig anmerken.

In der Debatte um die Zukunft des Buchs tauchen maximal zwei Gründe für den Kauf von Büchern auf: der Wunsch nach Unterhaltung und der nach Information. Aber Bücher erfüllen mehr als eine Funktion, und das nicht nur, weil ein Reiseführer anderen Zwecken dient als ein Roman. Häufig geht mit dem Kauf die Illusion einher, man eigne sich mit dem Papier auch gleich die Inhalte an; ein Buchkauf kann gefühlt die Lektüre vollständig ersetzen. Bücher dienen als Geschenk, sie zieren die Wohnung, sie verleihen Status, sie helfen bei der Identitätskonstruktion, sie werden aus schlichter Gewohnheit erworben, aus Sammeltrieb, um des Kaufvergnügens willen oder weil der Leser sich dem Autor näher fühlen möchte. Alle diese Funktionen reagieren unterschiedlich auf Veränderungen der Rahmenbedingungen.

Sobald das Lesen nicht mehr zwingend ein physisches Medium erfordert − und das ist schon seit vielen Jahren der Fall −, wird das Besitzen von Büchern uninteressanter. Wenn das Bücherregal nur noch unvollständig abbildet, was der Inhaber alles gelesen hat, weil ein Großteil dieser Lektüre ebenso in papierloser Form stattgefunden haben kann, lässt seine Attraktivität als Einrichtungsgegenstand nach. Unter anderem aus diesem Grund war das private Horten und Zurschaustellen bei Filmen noch nie eine weit verbreitete Praxis. Filmbesitz in größerem Umfang war und ist eine Sache für Spezialisten. Der Besitz von Büchern wird es in absehbarer Zeit wieder werden.

Zum Anstoßen eines solchen Wandels in der Inneneinrichtung genügt es schon, wenn das Interesse anderer Menschen am Buchbesitz nachlässt. Die ökologische Nische der Selbstdarstellung via Bücherregal wird von der Selbstpräsentation im Internet gefüllt, die zu geringeren Kosten viel feinere Differenzierungsmöglichkeiten eröffnet.

Das betrifft sowohl die Selbstdarstellung anderen gegenüber als auch die Vergewisserung über die eigene Identität. »Zwischen 20 und 28 war ich sehr stolz auf meine Bücher«, schreibt mein Koautor Aleks Scholz, »damals hatte ich noch kein Internet zu Hause. Ich stand oft abends davor, ging an ihnen entlang und sie gefielen mir. Dann nahm ich eines heraus und las darin, nach genussvollem Auswahlprozess. Die Bücher waren eine Verlängerung meiner Persönlichkeit, sie trugen zu dem bei, was ich sein wollte. Ich habe sie im Wesentlichen gekauft, weil ich jemand sein wollte, der diese Bücher besitzt. Seit meinem Umzug nach Kanada hatte ich kein Buch mehr bei mir. Ich habe sie nie vermisst.«

Auch meine Bücherregale haben ihre Funktion als Verlängerung und konkrete Materialisierung meiner Persönlichkeit und Vergangenheit im Laufe der letzten zehn Jahre eingebüßt. Ist der Nimbus einmal dahin, bleiben einige Kubikmeter Zellulose zurück. Das Bücherregal gerät also an mehreren Fronten unter Beschuss. Eines Tages wird man es betrachten wie heute das wändefüllende Schallplattenregal: als exzentrisches, ein wenig rückwärtsgewandtes und beim Umzug beschwerliches Wohnaccessoire.

Bis diese Entwicklung eine breite Masse erfasst, mag es noch ein paar Jahre dauern, aber die ersten Bücher verlassen das sinkende Regal. Die Betreiber eines Londoner Antiquariats klagten im September in ihrem Blog bookride.com: »Es gibt schon seit einigen Jahren ein Überangebot, das sich 2010 zu einer wahren Bücherschwemme entwickelt hat.« Selbst Bücher, die die Inhaber kostenlos vorbeibringen wollten, würden nicht mehr angenommen. »Ich frage mich manchmal, was aus den Büchern wird, die wir ablehnen, und mache mir Sorgen, dass demnächst alle Wohlfahrtsläden, Flohmärkte und Trödelläden voll sind und Bücher so unverkäuflich werden wie alte Videokassetten. Ein Vergleich mit dem Übergang von der LP zur CD trifft es vielleicht besser; damals jedenfalls wurden riesige Plattensammlungen abgestoßen.«

Der Wunsch nach digitalem Buchbesitz ist ebenso wenig selbstverständlich. Beim Filmangebot von iTunes hat der Nutzer die Wahl zwischen Kauf und Ausleihe, wobei die günstigere Leihversion nach dreißig Tagen wieder vom Rechner des Nutzers verschwindet. Wenn es um die Frage geht, ob dem Leser digitaler Texte ein vorübergehendes oder dauerndes Zugriffsrecht nicht auch genügen würde, ziehen sich Befürworter des Buchbesitzes auf das Sicherheitsargument zurück: Als physischer Eigentümer eines Buchs oder einer Datei ohne DRM-Einschränkungen sei man sicher vor Insolvenzen der Anbieterplattform und vor Rückrufaktionen wie 2009, als Amazon bezahlte Bücher per Fernzugriff von den Kindles seiner Kunden löschte. Beim Gutenberg-Projekt, kommentierte die Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation seinerzeit, könne man Bücher herunterladen, die sich nicht um Mitternacht in einen von Mäusen gezogenen Kürbis verwandelten. Bei aller Schönheit der Kürbismetapher bleibt es doch ein Argument für dieselbe überschaubare Zielgruppe, die Notstromgeneratoren kauft und ihr Geld nicht zur Bank bringt.

Nicht nur das Kauf- und Besitzverhalten, auch die Lesepraktiken ändern sich durch die Digitalisierung. Beim öffentlichen Lesen spielt die Überlegung, ob man sich mit einem Titel wie Männer sind anders. Autos auch blicken lassen kann, keine Rolle mehr, wenn die Außenwelt nur das Lesegerät zu sehen bekommt. Dasselbe gilt umgekehrt für ein Leseverhalten, wie Wolfgang Herrndorf es 2001 im »Hasenfuß«-Raben beschrieb: »Gerade hier in Ostberlin ist das Kneipenlesertum unangenehm verbreitet. Ich habe schon Leute gesehen, die bei Kerzenschein und großem Tumult drei Stunden Adorno vortäuschten.« Vielleicht werden sich − auch hier wieder parallel zum Film−Konsumgewohnheiten durchsetzen, die weniger Rücksicht als bisher auf einen offiziellen Kanon nehmen, weil sie den Blicken der Öffentlichkeit entzogen sind.

 

 

Ein weiterer Aspekt, dem die Selbstverständlichkeit abhanden kommt, ist unabhängig vom analogen oder digitalen Substrat des Buchs das lange Textformat. Es gelingt mir kaum mehr, ein Sachbuch zu Ende zu lesen. Da es immer noch vorkommt, dass ich Bücher mit derselben Konzentration und Begeisterung wie früher lese, neige ich nicht zu Nicholas Carrs These, dass das Internet mein Gehirn erweicht hat. Ich bin lediglich ungeduldiger geworden, und diese Ungeduld hat verschiedene Gründe. Vor allem meine Toleranz für Füllmaterial in Texten hat internetbedingt nachgelassen. Da ein Buch eine bestimmte Mindestlänge haben muss, ist Füllmaterial im Buch gebräuchlicher als in Onlineveröffentlichungen. Die Ideenmenge in einem handelsüblichen Sachbuch scheint mir der von etwa drei bis zehn Blogbeiträgen zu entsprechen, und dass der Autor für das Buch Geld bekommt, für die Blogbeiträge aber nicht, überzeugt mich in meiner Rolle als Autor, aber nicht in meiner Rolle als Leser, dessen Tag nur vierundzwanzig Stunden hat.

Bei Onlinetexten gilt die Empfehlung »Do what you do best and link to the rest«, während Sachbuchautoren viele Seiten mit Zusammenfassungen anderer Texte füllen, auf denen ihre eigene Argumentation aufbaut. Sachtexte versuchen oft umständlich etwas zu leisten, was ein Foto, eine Grafik, eine Animation oder ein Video besser könnten. Für aktuelle Themen eignet sich das Buchformat wegen der langen Vorlaufzeiten nicht besonders gut, und das gilt umso mehr, wenn es sich wegen der entfallenden Lagerkosten bei digitalen Texten stärker als bisher lohnt, bereits beim Schreiben auf längeres »shelf life« zu setzen.

Das Internet wildert im Revier des Buchs, aber es sind die hinkenden Herdenmitglieder, die ihm dort zum Opfer fallen. Zusätzlich sind im Netz neue Textformate entstanden, für die es gar keine kommerziellen Veröffentlichungsmöglichkeiten gab und gibt: extrem umfangreiche Projekte, aber auch Texte, die zu lang für Zeitschriften und zu kurz für Bücher sind. Blogs erlauben die jahrelange, schrittweise, nonlineare Vertiefung eines Themas. Angesichts dieser Konkurrenz der Formate ist die Buchform begründungsbedürftiger geworden. Während hier Praktiken verschwinden, tauchen da neue Optionen auf. Digitale Texte werden unter anderem einige Lücken in der Erforschung des Leserverhaltens schließen. Im Unterschied etwa zur CD, deren Inhalt die meisten Käufer beim Bezahlen bereits kennen, kaufte man Bücher bisher nach dem Katze-im-Sack-Prinzip. Hauptmetrik der Branche sind daher aus Mangel an Alternativen die Verkaufszahlen. Ob ein gekauftes Buch überhaupt gelesen wird und wie zufrieden der Leser mit seinem Kauf ist, sind unbekannte Größen.

Momentan leben durchschnittliche Buchkäufer und Amazonrezensenten noch in zu unterschiedlichen Welten, als dass man auf Amazonbasis Aussagen über die allgemeine Käuferzufriedenheit treffen könnte. In der Amazon-Kindle-Bestsellerliste zeichnet sich jedenfalls ab, dass eine Platzierung in den hundert meistverkauften Büchern mit überraschend schlechten Durchschnittsbewertungen einhergehen kann. Jonathan Franzens Freedom hatte dort im Oktober 2010 drei von fünf Sternen, Ken Folletts Fall of Giants brachte es nur auf zwei Sterne, jeweils bei einer hohen dreistelligen Anzahl von Bewertungen. Sobald sich Buchkäufer und Buchbewerter demographisch stärker überschneiden und es eine einfache, verbreitete Möglichkeit gibt, Kaufzufriedenheit ohne Rezension zum Ausdruck zu bringen, wird man mehr darüber erfahren.

Ähnliches gilt für den Zusammenhang zwischen Kaufen und Lesen. Amazon stellt mittlerweile zu allen Kindle- und vielen Papierausgaben ein Kapitel als Leseprobe zur Verfügung; einige Anbieter experimentieren mit »pay by chapter«. Da ein vermutlich nicht ganz kleiner Anteil aller gekauften Bücher nie zu Ende gelesen wird, liegt es aus Nutzersicht nahe, nur für das zu bezahlen, was man tatsächlich liest – insbesondere wenn der zierende Effekt des ungelesenen Buchs im Regal wegfällt. Der iTunes Store bietet bei Fernsehserien erfolgreich beide Optionen an: Wer sich nicht ganz sicher ist, ob sein Enthusiasmus eine ganze Staffel lang vorhalten wird, kann zu einem fast identischen Preis nach und nach alle Einzelfolgen erwerben.

In einer nicht sehr fernen Zukunft wird man zum ersten Mal messen können, was Leser eigentlich lesen, und nicht nur, was sie kaufen. Vermutlich wird sich herausstellen, dass es »Buy only«-Bücher gibt, die grundsätzlich nicht gelesen werden, und dass Politikerautobiographien, Klassikergesamtausgaben und Bücher von TV-Prominenten in diese Kategorie gehören. Man mag einwenden, dass das Messen von Einschaltquoten im Fernsehen bisher nicht gerade der Qualitätssteigerung gedient hat. Dass Autoren andere erste Kapitel schreiben werden als bisher und sich womöglich verlockt sehen, jedes Folgekapitel mit einem Cliffhanger zu versehen. Andererseits ist vieles von dem, was heute zur Kanonliteratur zählt, ursprünglich ebenfalls in Fortsetzungen erschienen. Und man tut dem Buch keinen Gefallen, wenn man es ganz offiziell als Kauf-, Verschenk- oder Statusobjekt und nur nebenbei als Unterhaltungsmedium interpretiert.

Was sich vermutlich noch länger der Erforschbarkeit entziehen wird, ist hingegen die Frage, ob wirklich (Achtung, erfundene Statistik) neun von zehn verschenkten Büchern ungelesen bleiben. Derzeit werden 25 Prozent aller verkauften Bücher als Geschenk erworben. Die schlechte Signier-, Einpack- und Verschenkbarkeit von E-Books lässt es plausibel erscheinen, dass sich gerade diese 25 Prozent noch lange im Print halten, umso mehr, wenn die Buchbranche sich eines Tages dazu durchringt, Kombipakete aus Papier- und digitalen Versionen anzubieten. Das gedruckte Buch hätte dann eine Funktion analog zu den Geldbäumchen und anderen Bastelerzeugnissen aus Geldscheinen, die bei Hochzeiten beliebt sind, weil sie Geldgeschenke weniger abstrakt erscheinen lassen.

Nicht nur die Darreichungsformen und -praktiken, auch die Texte selbst verändern sich, sowohl in ihrem Entstehungsprozess als auch in ihren Schnittstellen zum Leser. Der Unterschied zwischen »Internet« und »Buch« ist nicht in Stein gemeißelt. Eine von vielen naheliegenden Ausbaumöglichkeiten ist das soziale Lesen. Funktionen, die über die Kindle-Ansicht der Stellen hinausgehen, die andere Leser markiert haben, werden das gemeinsame Lesen und Kommentieren von Büchern ermöglichen. Wo das Angebot sich heute auf Fußnoten des Autors, der Übersetzer oder der Herausgeber beschränkt, könnten Leser selbst Korrekturen, Kommentare und Ergänzungen anbringen und die anderer Leser einsehen. (Wenn Sie an dieser Stelle gern an den Rand kommentieren würden, dass Sie keine Lust auf die Kommentare des ungewaschenen Pöbels haben, die Sie aus der Onlineausgabe Ihrer Tageszeitung kennen, denken Sie sich bitte meine Entgegnung dazu, dass dieses Problem durch Filter zu lösen ist: Wir brauchen Optionen wie »Nur die Beiträge meiner Freunde«, »Alle Kommentare von Stephen Fry« oder »Nur Beiträge, die mit fünf Sternen bewertet wurden«.)

Michel Chaouli beschrieb 2009 im Merkur (Nr. 721) seinen verwandten Wunsch nach einem »Literaturequalizer«, mit dem sich unter anderem überflüssige Adjektive herunterregeln und Beschreibungen raffen lassen. Er spricht von der Erkenntnis »dass das, was wir für spezifische Merkmale der Literatur halten, in Wirklichkeit Merkmale des spezifischen Mediums Buchdruck sind«. Ebenso wie das oben angesprochene Pay-by-chapter-Verfahren böten konzeptuelle Erweiterungen des Buchformats nebenbei Hoffnung auf eine Lösung des Preisbindungsproblems.

Kurzer Exkurs zur Buchpreisbindung: Sie dient offiziell der Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung mit möglichst diversifizierten Buchhandlungen. Im Zusammenhang mit dem jederzeit und überall verfügbaren EBook ist dieses Konzept erstens sinnlos, zweitens wird es den stationären Buchhandel nicht retten. Ein Vergleich aus der Musikbranche: In den achtziger Jahren gab es in Deutschland über zwanzigtausend Musikverkaufsstellen, von denen heute noch knapp 10 Prozent existieren. Selbst wenn man in der Zeit zurückreisen könnte, um die strategischen Fehler der Musikindustrie auszubügeln, wären diese Läden durch nichts zu erhalten. Dem stationären Buchhandel steht dieselbe Entwicklung aus denselben Gründen bevor, und die Buchpreisbindung wird daran wenig ändern. Gleichzeitig behindert die Preisbindung die Entwicklung des E-Book-Markts, wie auch Branchenvertreter bereitwillig zugeben. Dass die deutschen E-Book-Preise per Verlagsübereinkunft auf dem Niveau der billigsten Printausgabe – bei Neuerscheinungen entspricht das dem vollen Hardcoverpreis − liegen müssen, ist Lesern kaum zu vermitteln.

Aber wenn sich das Buch von seiner gewohnten Form entfernt, entwächst es auch den Beschränkungen durch die Buchpreisbindung. Explizit von der Preisbindung ausgenommen ist nämlich sowohl der Vertrieb einzelner Buchkapitel als auch die »Online-Nutzung von vernetztem Content«. Das ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit; die Fachbuchplattform paperc.de funktioniert schon seit 2008 nach diesem Prinzip: PaperC (kurz für »pay per copy«) bietet unbehelligt von der Buchpreisbindung Lesezugriff auf einige tausend aktuelle Fachbücher und kooperiert mit über fünfzig Verlagen. Kostenpflichtig sind lediglich Zusatzfunktionen wie das Drucken, Kopieren oder Kommentieren der Texte.

Die Welt − oder jedenfalls der Teil der Welt, der sich mit Texten befasst – wird durch diese Veränderungen weder besser noch schlechter. Manches wird einfacher, anderes schwieriger, Geschäftsmodelle entstehen und vergehen, und oft genug findet das alles im selben Menschen statt. Meine Lage als Leserin hat sich in jeder Hinsicht verbessert, während meine berufliche Zukunft als finanziell von der Printbranche abhängige Autorin ungewiss ist. Wenn ich mit Angehörigen des Buchgewerbes über diese Veränderungen spreche, gibt es im Großen und Ganzen drei Reaktionen: »Das passiert nie«, »Das passiert noch lange nicht« und »Egal, bis dahin bin ich in Rente«. Aber eine Zuneigung zum Text, ein Interesse für die Geschicke des Buchs bedeutet eben nicht nur, dass man gern an Neuerscheinungen riecht. Wer im Angesicht von Veränderungen die Augen zukneift, die Finger in die Ohren steckt und »Lalala!« ruft, der ist dem Buch ein schlechterer Freund als ich mit meinen leeren Regalen.

 

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