Merkur, Nr. 233, August 1967

Studenten auf Kollisionskurs

von Kurt Sontheimer

 

Über zwölf Tausend Menschen, Berliner Studenten aller Hochschulen, gaben am 8. Juni dem 6 Tage zuvor von dem Kriminalbeamten Kurras in der Nähe der Deutschen Oper erschossenen Studenten Benno Ohnesorg das letzte Geleit. Zur gleichen Stunde war das Berliner Abgeordnetenhaus zu einer Sitzung zusammengetreten, in der über die Vorfälle an der Deutschen Oper am Abend des 2. Juni debattiert wurde. Einige der Studenten in dem ungewöhnlich langen Trauerzug hatten Transistorgeräte mitgenommen und verfolgten auf dem über zweistündigen Trauermarsch die Debatte des Berliner Abgeordnetenhauses.

Nie wurde die Diskrepanz zwischen Berlins Studenten und der politischen Führung dieser Stadt offenkundiger als an jenem Nachmittag, und niemand empfand sie stärker als jene Studenten im Trauerzug. Da war einer der ihren, der mit den angeblichen Rädelsführern der Berliner Studentenschaft nichts zu tun hatte, durch den Schuß aus einer Dienstpistole um sein Leben gebracht worden; doch das Parlament Berlins debattierte keine Minute über das Unerhörte eben dieses Vorfalls, sondern ereiferte sich stundenlang über die »radikale Minderheit«, welche die Berliner Freie Universität tyrannisiere, und huldigte dem Sinnspruch, daß das Studium, für das man von Staats wegen soviele Mittel bereitstelle, zum Studieren da sei und nicht zum Randalieren. Die Abgeordnetenhausdebatte hat offenbart, daß die Studenten sich von den politischen Institutionen Berlins nicht repräsentiert fühlen konnten, jedenfalls nicht in diesem Moment. Mochten die Vertreter des Berliner Senats immer von neuem die Masse der arbeits- und ordnungswilligen Studenten von einer gefährlichen »radikalen Minderheit« zu unterscheiden suchen – der gewaltsame Tod des Kommilitonen hatte dazu geführt, daß die Solidarität der Studenten über die so viel beschworene Rädelsführertheorie triumphierte.

Nach dem 2. Juni 1967 ist die Studentenschaft nicht nur der Berliner Universität, sondern dank der Berliner Studenten die der gesamten Bundesrepublik zu einem Faktor der deutschen Innenpolitik geworden. Die Parteien des Bundestages beeilten sich plötzlich, mit den Vorsitzenden der Studentenausschüsse zu diskutieren; Kiesinger ließ es sich ebensowenig nehmen wie Willy Brandt, zu den Studenten zu sprechen. Die Berliner Vorgänge erhielten eine solche Publizität, daß heute Berlins SDS-Ideologe Rudi Dutschke und sein gemäßigterer Kollege Knut Nevermann zu politischen Figuren geworden sind, die man in der Öffentlichkeit ebenso kennt wie einige unserer führenden Parlamentarier im Bundestag.

Die Entwicklung der Berliner Studentenschaft nach dem Tode Ohnesorgs und die Ausstrahlung dieser Ereignisse in das Bundesgebiet bezeichneten den bisherigen Höhepunkt eines Politisierungsprozesses unserer akademischen Jugend, wie er vor Monaten noch kaum vorstellbar erschien. Er hat inzwischen ein solches Ausmaß gewonnen, daß er den Rahmen der Universität gesprengt und die linksorientierten aktiven Gruppen unserer Studentenschaft als den Kern einer außerparlamentarischen Opposition sichtbar gemacht hat. Noch ist nicht abzusehen, wohin dieser Prozeß der Politisierung führen wird; sicher ist jedoch, daß die deutschen Universitäten nach diesem 2. Juni in ihrer inneren Struktur nicht mehr ganz dieselben sein werden wie vorher. Noch bleibt abzuwarten, inwieweit von den studentischen Positionen aus auch eine gewisse Einwirkung auf die allgemeinen politischen Verhältnisse erfolgen kann; aber es ist heute schon klar, daß die deutsche Politik stärker als bisher die studentische Opposition als eine kritische Kraft in ihr Kalkül einbeziehen muß.

Da der Prozeß der Politisierung der akademischen Jugend zwar von Hochschulproblemen ausgegangen, aber inzwischen längst über diesen Rahmen hinausgedrungen ist, kann er durch eine Reform der Universität, falls sie angesichts der Lethargie dieser Institution überhaupt tiefgreifend genug sein könnte, nicht zurückgedämmt werden. Zudem sind die Konfliktsituationen, die an der Freien Universität aufgetreten sind, nicht so Berlin-spezifisch, daß sie nur dort virulent werden könnten. Wie Jürgen Habermas in seinem Beitrag im Maiheft dieser Zeitschrift hervorhob, ist Berlin »ein Modellfall«. Die Ursachen sind ebenso wie in der Struktur der deutschen Hochschulen in gewissen, als widersprüchlich und autoritär empfundenen Zügen unserer politisch-sozialen Ordnung zu sehen. Da vieles von der ideologischen Beurteilung der jeweiligen Verhältnisse abhängt, wird die Krise sich ganz verschieden manifestieren. Die deutschen Universitäten treten also, ob sie’s wollen oder nicht, in eine unruhigere Phase ein. Gleichwohl Hegen im Hochschulbereich die wirksamsten Ansatzmöglichkeiten für eine Kanalisierung des politischen Konflikts, wenn sie von der akademisch-professoralen Seite richtig gesehen und genutzt werden.

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Dazu gehört als erstes Klarheit über die Entwicklung der Berliner »Modellkrise«. Hier lassen sich mehrere Phasen unterscheiden:

I. Die Gründungsstudenten der Freien Universität waren mit den Professoren, die sie sich heranholten, weitgehend einig. Politische Konflikte gab es kaum; wo sie auftraten, konnten sie in aller Regel durch Verhandlungen im Rahmen des Berliner Modells, das den Studenten ein Vertretungsrecht in allen Gremien der Universität gibt, ausgeräumt werden. Außerdem gingen Demonstrationen und politische Verlautbarungen der Studentenvertretung, sofern es sie überhaupt gab, mit der herrschenden Berliner Meinung konform und fanden darum keine Kritik. Diese weitgehende Eintracht wurde erstmals im Zusammenhang mit der »Atomtod-Kampagne« der SPD 1958 in Frage gestellt, die von einem Teil der Berliner Studentenschaft unterstützt wurde; damals wurde ein Universitäts-Beirat für die politische Bildung eingesetzt, der die Entwicklung kritisch beobachten und die Demokratie fördern sollte. In diesem Zeitraum wurde auch eine vom AStA beantragte Geldsammlung für die Algerische Befreiungsfront vom Rektor verboten.

Während diese Vorfälle, verglichen mit der Situation der letzten zwei Jahre, ohne großen Widerhall und nur Episode blieben, wurden im Zusammenhang mit der auch in Berlin fühlbar werdenden Situation der Massenuniversität die programmatischen Unterschiede zunehmend deutlicher, die zwischen den aktiven Studentengruppen und der Mehrheit der Professoren über Aufgabe und Organisation der Universität in der demokratischen Industriegesellschaft bestanden. Um über die punktuelle Unzufriedenheit und die Situation eines resignierenden Sich-Abfindens mit den Verhältnissen hinauszukommen, entwickelten Studenten, die an aktiver Hochschulpolitik interessiert waren, umfassende Konzeptionen zur Hochschulreform. Hier war es besonders der 1958 wegen »Linksabweichung« aus der SPD ausgestoßene Sozialistische Deutsche Studentenbund, der mit einem ausgearbeiteten Konzept an die Öffentlichkeit trat. Dieses Konzept stellte das Problem der Hochschulreform in den größeren Rahmen einer Theorie der modernen Rechts- und sozialstaatlichen Industriegesellschaft. Die hervorstechendsten Punkte waren:

  1. Abbau der Macht der Ordinarien und der Fakultäten durch ein kollegial praktiziertes Fachabteilungsprinzip, in dem alle am Forschungsprozeß beteiligten Gruppen berücksichtigt werden.
  2. Stärkere Mitbestimmungs- und Kontrollbefugnisse von Assistenten (Mittelbau) und Studenten in allen Entscheidungsgremien der Universität mit Befugnissen der Mitentscheidung über Forschungs- und Studienprogramme sowie Prüfungsordnungen.
  3. Überprüfung des Verhältnisses von Universität und demokratischer Gesellschaftsstruktur zugunsten einer Anpassung der hierarchischen Universitätsstruktur an das System der demokratischen Gruppengesellschaft, konkret: Abbau von ständischen Universitätsprivilegien und »rational nicht begründbaren Herrschaftsstrukturen«. Schließlich:
  4. die Einbeziehung politik- und sozialwissenschaftlicher Fragestellungen in das Fachstudium.

Die Studenten, die gehofft hatten, mit ihren Reformvorschlägen auf Widerhall zu stoßen, wurden durch weitgehende Nichtbeachtung frustriert. Zu ernsthaften Diskussionen, die eine tatsächliche Veränderung der Situation hätten bewirken können, ist es zwischen Studentenvertretung und akademischer Seite nicht gekommen. So festigte sich in manchen studentischen Köpfen die Vorstellung von der Universität als einer autoritär strukturierten Institution, die nicht bereit sei, ihre Positionen durch Demokratisierung von Teilbereichen in Frage stellen zu lassen.

II. Vor diesem Hintergrund einer latenten Beunruhigung begann 1965 die zweite Phase des Berliner Konflikts, in der, von hochschulinternen Vorgängen ausgehend, bereits gesamtpolitische Forderungen stärker vernehmlich wurden. Sie war personalpolitisch charakterisiert durch das Rektorat des unpolitisch-konservativen Zoologen Lüers und den AStA-Vorsitz des dem linken Flügel des SDS zugehörigen Soziologie-Studenten Wolfgang Lefèvre, deren konträre Auffassungen in der Affaire Kuby (Raumverbot für den vom AStA eingeladenen Publizisten) und der Affaire Krippendorff (Nichtverlängerung des Assistentenvertrages wegen ungenauer, den Rektor kritisierender Berichterstattung in einer Berliner Zeitung, für die der Assistent sich jedoch formell entschuldigt hatte) aufeinanderstießen. Diese Streitpunkte lösten eine erste Mobilisierung größerer Studentenmassen, bewegte Vollversammlungen und Demonstrationen auf dem Universitätsgelände aus. Es ging dabei schon nicht mehr um Fragen der Hochschulpolitik allein, sondern um das Recht der Studentenschaft auf freie Meinungsäußerung und auf Freiheit der Information. Die intensiv erhobene Forderung nach rationaler Auseinandersetzung – in den theoretischen Programmen einzelner Studentengruppen schon früh formuliert – erfuhr angesichts der Weigerung der Universitätsbehörden, in eine öffentliche Diskussion mit den Studenten einzutreten, ihre praktische Legitimation.

Diese zweite Phase des Konflikts fand ihren Abschluß und Höhepunkt in dem studentischen »sit-in« vor dem Gebäude des Akademischen Senats am 22. Juni 1966: erstmals protestierte die Studentenschaft gegen die von zwei Fakultäten verfügte Zwangsexmatrikulation in der für Deutschland neuartigen, aus den USA übernommenen Form der Sitzdemonstration und erreichte immerhin, daß von nun an paritätische Kommissionen gebildet wurden, die gemeinsame Reformvorschläge für die Universität beraten und ausarbeiten sollten. Dem »sit-in« war Ende des Wintersemesters 1966/67 die unglückliche Empfehlung des Akademischen Senats an den Rektor vorausgegangen, welche vorsah, daß politische Veranstaltungen nicht eindeutig wissenschaftlichen Charakters in den Hörsälen der Universität nicht mehr gestattet seien. Der Politisierung der Universität durch die Studentenschaft versuchte man mit dem völlig untauglichen, ja reaktionären Mittel der Entpolitisierung zu wehren. In der Folge wurden sowohl die Bestimmungen über die Zwangsexmatrikulation gelockert wie das Raumverbot aufgehoben.

Das Kennzeichen dieser Phase ist, daß man der studentischen Aufsässigkeit kaum durch das Mittel der Diskussion, vielmehr mit administrativen Maßnahmen begegnete, welche in den Augen der Studentenschaft nur autoritäre Mittel zur Herrschaftsbefestigung darstellen und sie in ihrer Überzeugung bestärken mußten, daß die überlieferte hierarchische Struktur der Universität es der Professorenseite verwehre, in öffentliche Auseinandersetzungen einzutreten, die Folgen für diese Struktur zeitigen könnte. Als der Nachfolger des Rektors Lüers, der Soziologe Lieber, in den sich zuspitzenden Konflikten immer wieder bei administrativen Zwangsmaßnahmen Zuflucht suchte, obwohl er subjektiv den studentischen Kritikern nahestand und wohl auch besten Willens war, aufgrund einer relativ liberalen Haltung die Konflikte zu mildern, erschien dies der Studentenschaft nurmehr als eine weitere Bestätigung ihrer Auffassungen.

Zu der fortschreitenden Politisierung der Studentenschaft seit 1965 kam es also dadurch, daß auch Studenten, die mit den ursprünglichen Forderungen und z. T. auch den Methoden ihrer linksorientierten Vertretung nicht übereinstimmten, von der Reaktion der Universitätsverwaltung und später auch der politischen Stellen an die Seite ihrer Vertretung getrieben wurden und sich mit ihr solidarisierten. Diese Entwicklung lehrt, daß jeder Versuch, durch inneruniversitäre Zwangsmaßnahmen die Studenten in die ihnen von den akademischen Behörden zugewiesene Position zurückzuweisen, den Konflikt nur verschärft hat, und daß solche Maßnahmen zumindest in Berlin heute kein geeignetes Mittel mehr darstellen, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden wiederherzustellen.

III. Im Jahre 1966 griff die Aktivität studentischer Gruppen, vor allem des SDS, über die universitätsinterne Öffentlichkeit hinaus. In Verbindung mit Protestaktionen akademischer Gruppen in den Vereinigten Staaten kam es zu Demonstrationen gegen die amerikanische Kriegführung in Vietnam und zu ersten Zusammenstößen mit der Berliner politischen Führung, die im Verein mit der hier dominierenden Presse in diesen Aktionen eineGefährdung des amerikanischen Engagements in Berlin erblickte. Gleichzeitig machten einige Studenten von sich reden, die als »Kommunen« eine neue, die bürgerliche Moral schockierende Form von vorübergehender Lebensgemeinschaft bildeten und alles taten, um durch provozierende Aktionen, in denen sich Arroganz mit politischer Dummheit und Verantwortungslosigkeit mischte, aufzufallen. Es war das Zusammentreffen dieser beiden Phänomene, das die Springerpresse Berlins zu einer unverantwortlichen Verketzerung der Berliner Studenten trieb und – in Verbindung mit den unerquicklichen Demonstrationserfahrungen – die Polizei dazu verführte, in den Studenten nicht eine demokratische Minderheit zu erblicken, die im konventionellen Meinungsspektrum der Bundesrepublik kein Gehör und keine Repräsentanz findet, sondern eine anarchistische Bande, die man mit allen Mitteln daran hindern müsse, die Ruhe und Ordnung in Berlin zu stören. Die maßlos übertriebenen Attentatsmeldungen über die Provokationsabsichten der »Kommune« beim Humphrey-Besuch sind ein Beispiel für diese Mentalität, die in den Tagen unmittelbar nach der Erschießung Ohnesorgs einem bedauerlichen Höhepunkt zutrieb. Wer verfolgt hat, wie die Springerpresse über die studentischen Unruhen berichtete, kann verstehen, warum viele Berliner Studenten heute eine Plakette tragen, auf der die Enteignung Springers gefordert wird. Wir möchten annehmen, daß die politischen Aktionen des kommenden Winters sich u. a. auf dieses moralisch verständliche, politisch allerdings kaum realisierbare Ziel konzentrieren werden.

Durch die verschiedenen Demonstrationen im Winter und Sommer dieses Jahres, denen von Seiten der organisierten Studentengruppen – vor allem des SDS – ein bewußt provokatorischer Zug beigemischt war, erweiterte sich so der Konflikt der Studenten mit ihrer Universität zu einem Konflikt mit der politischen Führung der Stadt Berlin. Der Regierende Bürgermeister, Heinrich Albertz, hatte in der Studentenschaft nach dem Weggang Willy Brandts keine gute Presse, umsomehr als er versuchte, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des für finanzielle Fragen zuständigen Kuratoriums der Freien Universität die Mittel der Studenten zu beschneiden. In seiner Politik gegenüber der Studentenschaft war er unsicher: mal versuchte er es durch Aussprachen mit ihren Führern, dann wieder arbeitete er mit Hilfe massiver Verurteilungen und Drohungen. Das bedenklichste Zeichen dieser Zick-Zack-Politik war die Ansprache, die Albertz einen Tag nach den Unruhen vor der Deutschen Oper hielt. Darin deckte er die Berliner Polizei vorbehaltlos, obwohl ihm als Regierungschef Berlins hätte bekannt sein müssen, daß die Polizei (auch abgesehen von der Erschießung Ohnesorgs) zumindest den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Anwendung der Mittel mißachtet hatte – ein Vorwurf, den er selbst durch seine Drohungen mit Schnellgerichten, einem scharfen Universitätsgesetz sowie der Verfügung eines, bestimmte Grundrechte vorübergehend außer Kraft setzenden Demonstrationsverbots für die Studenten nur bekräftigte.

Wer sich die »Eskalation« dieses Prozesses vor Augen hält, kann nicht mehr daran zweifeln, daß die Woche nach dem Tod Ohnesorgs eine neue Phase studentischer Politik eingeleitet hat – nicht nur in Berlin. Die Zahl der politisch aktiven Anhänger der Studentenschaft ist allerorten außerordentlich gestiegen. Die leitenden Gruppen sind heute in der Lage (sofern nicht Semesterferien die Ruhe erzwingen), von Fall zu Fall mehrere tausend Studenten zu mobilisieren. Es ist sichtbar geworden, daß der Kern der aktiven Studentenschaft sich als eine außerparlamentarische Opposition versteht. Es handelt sich längst nicht mehr nur um einen Interessenverband zur Hochschulreform (das ist er auch), sondern um Keimzellen einer neuen Opposition, die offen bekennt, daß sie die Gesellschaft verändern will. Hinter ihrem Glauben, in den etablierten politischen Parteien keine Partner mehr für die Förderung ihrer Interessen zu finden, steht zugleich die Überzeugung, man könne im Prozeß der demokratischen Willensbildung in der Bundesrepublik eine Machtstellung von Dauer und Festigkeit nicht gewinnen. Hinzu kommt, daß man aus dem Bewußtsein, als studentische Protestbewegung die Öffentlichkeit aus ihrer ademokratischen Lethargie aufgeschreckt zu haben, Selbstvertrauen bezieht. Das deutet darauf hin, daß die nun endlich festzustellende Bereitschaft der politischen Parteien, mit den Studenten zu sprechen, eine Re-integration dieser Gruppen jedenfalls nur auf lange Sicht bewirken könnte. Die Studenten erwarten von den politischen Parteien nicht nur, daß sie die Fragen diskutieren, die sie bewegen, sondern daß sie etwas tun, damit verschiedenes in der Bundesrepublik und innerhalb der Parteien selbst anders wird.

Der 2. Juni hat darum auch die politische Landschaft in der Bundesrepublik verändert. Die Studenten sind ein Faktor in der deutschen Politik geworden. Sie sind zwar entfernt davon, Politik zu gestalten, denn sie haben keine Entscheidungsmacht; aber sie haben heute die Macht, bestimmte Dinge zu erschweren. Sie wollen die Demokratie auf den Prüfstand stellen, um zu ermitteln, ob die demokratischen Rechte und Freiheiten auch denen offenstehen, die nicht in den pluralistischen Konsensus unserer Ordnung einbezogen sind. Und sie haben damit sichtbar gemacht, daß diese unsere Demokratie ziemlich rasch hilflos zu werden droht, wenn politische Gruppen sie mit unkonventionellen Mitteln in Frage stellen. Denn die Reaktion auf die studentischen Demonstrationen in großen Teilen der Presse, vor allem jedoch im Volke selber, zeigt, daß dieses Volk nicht demokratisch genug ist, Minderheiten zu respektieren, die seine Ruhe und Wohlfahrt stören, sondern darauf mit derselben obrigkeitsstaatlichen Grundhaltung reagiert, die auch die Reaktion der politischen Behörden in Berlin charakterisiert hat.

Hier – und nicht im Radikalismus einiger Studentenvertreter – scheint mir das Grundproblem zu liegen, das die Studentenunruhen aufgeworfen haben: sie haben offenkundig gemacht, daß unsere freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung noch keineswegs so stabilisiert ist, wie sie das von sich glaubt. Zwanzig Jahre versuchen wir es nun von neuem mit der Demokratie und mochten uns rühmen, eine ihrer selbst sichere Ordnung geschaffen zu haben; doch ein beachtlicher Teil unserer Bevölkerung reagiert auf kritisches Infragestellen dieser Ordnung durch wenige tausend Studenten so, als habe man es nur mit Radaubrüdern und Krawallmachern zu tun. Die aktiven Studenten der Linken haben sich in ihren Auseinandersetzungen bewußt außerhalb des eingespielten politischen Systems gestellt;sie haben die Kollision mit der Universität und den politischen Kräften nicht gescheut, ja sie zum Teil bewußt angestrebt. Doch wieviele Beweise es auch dafür geben mag, daß gerade in den Berliner Auseinandersetzungen das Element bewußter Provokation eine Rolle gespielt hat, oder daß unter einigen Studenten die Freude am revolutionären Abenteuer das Moment rationaler Einsicht überwuchert: die jetzige Situation ist eine Konsequenz nicht nur der immer noch stagnierenden Reform der Universität, sondern darüber hinaus der Verfestigung der politischen Machtstrukturen in jenem »Kartell der Angst« (Dahrendorf), das die Bundesrepublik regiert — eine Folge auch der Widersprüche, die in der deutschen Politik zwischen Wirklichkeit und Idee klaffen.

Man hat den Studenten vorgeworfen, sie hingen der unrealistischen Vorstellung einer Pastoraldemokratie nach, die sie daran hindere zu erkennen, wie schwierig das politische Geschäft in einer Demokratie sei: Es sei einfach, die Pressekonzentration anzuprangern und die Enteignung Springers zu fordern, doch es sei ein anderes, solche Forderungen auch politisch durchzusetzen, Mehrheiten dafür zu mobilisieren. In dem Vorwurf steckt gewiß eine richtige Beurteilung mancher Züge der studentischen Politik. Sie ist auf die großen Gegenstände ausgerichtet und nicht auf das schwierige, aber notwendige Geschäft alltäglicher Politik (was nur natürlich ist, da sie ja an den großen Entscheidungen nicht mitwirken kann); sie ist moralisch und z. T. ideologisch; sie geht von der falschen und z. T. arroganten Voraussetzung aus, die Studenten seien als Akademiker eine Gruppe von höherer politischer Intelligenz, der darum eine natürliche Elitefunktion zukomme, die als die Führungsgruppe der kommenden Generation einen besonderen Anspruch auf Gehör habe. All dies spielt latent eine Rolle. Andererseits wissen die aktiven Studenten natürlich, daß die Studentenschaft als eine transitorische Gruppe unserer Gesellschaft, der fest umschriebene soziale Funktionen und Verantwortlichkeiten fehlen, in ihrer politischen Aktionsfähigkeit auf die Dauer gehemmt ist. Eine studentische Protestbewegung läßt sich auf lange Sicht nicht institutionalisieren, und sie verliert vollends ihre akademische Legitimation, wenn sie ihre Aufgabe in einer Dauermobilisierung sieht, der durch spektakuläre Demonstrationen immer neu aufzuhelfen wäre.

Zunächst freilich wird man mit dem Bestreben der engagierten linksorientierten Studentenführer rechnen müssen, den momentanen Vorteil zu wahren, der darin besteht, eine große Anzahl von Studenten für politische und inneruniversitäre Aktionen mobilisieren zu können. Die oppositionellen Studenten müssen sich jedoch klar darüber werden, ob sie für ihre gesamtpolitischen Bestrebungen nicht eine andere, parteiähnliche Plattform finden sollten — und zwar gerade um ihre inneruniversitären Ziele nicht durch die allgemeine politische Aktivität in Frage zu stellen. Der Republikanische Klub in Berlin und verwandte Einrichtungen könnten zur ideologischen und organisatorischen Zentrale einer außenparlamentarischen politischen Opposition ausgebaut werden, die in der Phase einer Großen Koalition durchaus eine kritische Funktion für unsere Demokratie zu erfüllen hätte.

In der Beurteilung der studentischen Politik steht der Beobachter vor dem Dilemma, anerkennen zu müssen, daß es berechtigte Gründe für den studentischen Protest gibt — zuallererst im Bereich der Universität selbst, in der heute die Autorität von Ordinarien nicht mehr durch das Amt allein gesichert werden kann —, und zugleich die neuen Methoden und Formen der studentischen Protestbewegung mit Unbehagen zu registrieren. Das Dilemma wird noch größer, wenn man zugeben muß, daß die kritische Bewegung in der Berliner Universität ihre bisherigen Erfolge und ihre jetzige Position zum Teil dem Umstand verdankt, an und jenseits der Grenze zumindest inneruniversitärer Illegalität operiert zu haben, eben weil die Beachtung der Legalität – etwa die Widerrechtlichkeit des sogenannten Politischen Mandates der Studentenvertretung – sie von vornherein angesichts der bestehenden Herrschaftsstruktur zur Erfolglosigkeit verurteilt hätte. Dies hat jedoch eine Situation bewirkt, die zumindest dem Geist akademischer Diskussion teilweise entfremdet ist. Entgegen den Beteuerungen der Studentenvertreter, ihnen käme es auf die Schaffung einer Atmosphäre kritischer Rationalität an, sind studentische Versammlungen an der Berliner Freien Universität heute vielfach völlig emotionalisiert.

Die Art und Weise, in der Mitglieder des SDS und der »Kommune« etwa einen ihrer akademischen Halbgötter, Theodor W. Adorno, anläßlich eines Berliner Vortrages dafür zu strafen versuchten, daß er sich weigerte, ein Gutachten im Prozeß gegen den »Kommunarden« Fritz Teufel abzugeben, richtet sich unmittelbar gegen die Freiheit von Forschung und Lehre und macht den Hörsaal zum Tribunal. Die in Berlin jetzt entwickelte Idee einer »kritischen Universität«, die dafür Sorge tragen soll, daß neue Lehrgebiete und Themenstellungen in das spezialistisch gewordene Repertoire akademischer Veranstaltungen aufgenommen werden, wird zur Farce, wenn sie nur auf Störung des regulären akademischen Betriebs hinausläuft. Nicht immer – und das ist das Bedenkliche – läßt sich bei den studentischen Aktionen klar ausmachen, ob sie lediglich der Provokation dienen sollen, damit durch administrative Gegenmaßnahmen die Massenbasis der Protestbewegung erhalten oder erweitert werden kann, oder ob sie in der Tat auf eine produktive Erneuerung der Universität, ihrer Unterrichtsmethoden und -gegenstände abzielen. Im Prinzip könnte eine wirklich kritische Universität, die sichs nicht in der Destruktion bequem macht wie die etablierte Universität im »establishment«, der letzteren zum Segen gereichen, wenn sie sich der Kritik stellt.

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Nach den Erfahrungen des Berliner Sommers 1967 wird man folgendes für die Zukunft beachten müssen:

  1. Die Krise an der Freien Universität ist nicht zu Ende, und es ist schwer einzusehen, wie gerade ein konservativ-unpolitischer Rektor, wie der jetzt gewählte Zahnmediziner Harndt, sie besser meistern sollte. Die Berliner Studenten fühlen sich als Bahnbrecher und werden auch im Winter versuchen, die Politisierung voranzutreiben.
  2. Die Krise ist, weil bestimmte Grundprobleme sich an anderen Universitäten ebenso stellen, nicht auf Berlin beschränkt. Auch die anderen deutschen Universitäten werden sich auf eine kritischere Studentenschaft einstellen müssen, welche die Kollision mit den Professoren und Behörden nicht scheut.
  3. In der notwendig gewordenen Auseinandersetzung mit unserer politisch aktiven Studentenschaft, die nicht nur auf der Universitätsebene, sondern auch im parteipolitischen Feld geführt werden muß, sind einseitige Appelle an Ruhe und Ordnung unwirksame Mittel geworden – und administrative Zwangsmaßnahmen nur Gehilfen zur Verstärkung des Protestes. Die Aufgabe der Professoren wie der Politiker besteht deshalb heute darin, die Studenten nicht sich selbst zu überlassen, sondern mit ihnen zu argumentieren und dabei zur Kenntnis zu nehmen, daß sie Autorität nur in dem Maße beanspruchen können, in dem sie sich Autorität gleicherweise durch fachliche Leistung, pädagogischen Einsatz und demokratisches Engagement (in wie bescheidenem Rahmen auch immer) erringen.
  4. Die Organisation unserer Universitäten muß die Demokratisierungswünsche der Studentenschaft prüfen. Obwohl das Berliner Modell selbst eine Ursache für die Berliner Universitätskrise darstellt, da es nur dann kooperativ funktioniert, wenn die studentischen Minderheiten nicht majorisiert werden, können neue Universitätsgesetze nicht mehr hinter dieses Modell der Mitbestimmung zurück; sie müssen eher darüber hinaus. Es ist bemerkenswert, daß das von Kultursenator Stein kürzlich vorgelegte Berliner Hochschulgesetz trotz der Krise die Mitwirkungsrechte der Studenten und Assistenten verstärkt hat. (Der Entwurf ist das genaue Gegenteil dessen, was Albertz am 3. Juni angedroht hatte.)
  5. Die Kollision mit den Studenten wird nur in dem Maße aufgefangen werden können, in dem es gelingt, an die Stelle repressiv wirkender Verordnungen ein System funktionaler und demokratischer Kooperation aller Glieder der Universität zu setzen. Nur wenn man den studentischen Protesten die Angriffsflächen entzieht, die ihre Wirkung begründet haben, wird man auch die Basis finden, von der aus man unter Mitwirkung der politisch verantwortlichen Studentenschaft den Radikalismus mancher Studentenvertreter von heute zurückdrängen kann – indem man ihn ins Leere laufen läßt, in die Leere des sektiererischen Solipsismus. Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben, an der unsere Demokratie sich heute bewähren muß. Ihre Selbstgefälligkeit in Frage gestellt zu haben, könnte sich dereinst als ein Dienst der studentischen Politik an der deutschen Demokratie herausstellen.