Militär und Dekadenz

von Kathrin Passig

Als Samuel Johnson 1773, 27 Jahre nach der Schlacht von Culloden, durch Schottland reiste, fragte er sich sorgenvoll, ob Länder wirklich gut daran tun, sich ganz und gar dem Handel und dem Streben nach Glück zuzuwenden, oder ob man nicht wenigstens »in einem Teil des Reichs den kriegerischen Geist bewahren« sollte. Nun waren schon die jakobitischen Highlander bei Culloden trotz ihres reichlich vorhandenen kriegerischen Geistes gegen die technisch überlegene Regierungsarmee nicht gut gefahren. Trotzdem wird Johnsons natürlich schon damals nicht neue Frage, ob man sich um die Verteidigungsfähigkeit allzu zivilisierter Gesellschaften Sorgen machen muß, regelmäßig wieder aufgewärmt.

Die Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift beobachtete in ihrer Ausgabe vom Juli/August 2004 besorgt, daß »die sich pluralisierenden Wert- und Normvorstellungen der individualisierten Zivilgesellschaft und die militärisch funktionsnotwendigen Norm- und Verhaltensprofile auseinander driften«. Aber sind diese Norm- und Verhaltensprofile so »militärisch funktionsnotwendig«, wie man in der Schweiz und anderswo vermutet? Dagegen spricht zunächst, daß Soldaten vermutlich seit Erfindung des Militärs mit Besorgnis die Lebensgewohnheiten ihrer Nachfolgergenerationen betrachten.

Als der Journalist David Boroff 1963 noch einmal Fort Hood besucht, wo er 1943 seine Grundausbildung absolviert hat, fallen ihm die merkwürdig legeren neuen Uniformen und die Baseballcaps der Soldaten auf. Sogar Klimaanlagen gibt es! In den Aufenthaltsräumen stehen Fernseher und bequeme Sessel, in der Kantine gibt es Vierertische, Blumentöpfe und richtiges Geschirr anstelle von Essenstabletts. »Auch die Gemeinschaftsräume haben sich in zwei Jahrzehnten so deutlich verändert, daß Veteranen angesichts dieses neuen Militärs mit den Zähnen knirschen. (Es wirkte ironisch, daß mein Militär jetzt das alte Militär war, wo man doch zu meiner Zeit noch die Vorkriegsarmeemit denselben Augen betrachtet hatte)«, schreibt Boroff in Harper’s Magazine (Januar 1964).

Daß die Nachgeborenen es leichter haben, ist nicht immer einfach zu verdauen. Der im Bundeswehr-Folterskandal von 2004 als verantwortlicher Hauptmann angeklagte Ingo S. verteidigte sich vor Gericht damit, nachdem er sich selbst ein Bild von der Mißhandlung der Rekruten gemacht habe, sei er zu dem Schluß gekommen, früher selbst härter rangenommen worden zu sein. »Ich bin daher nicht auf die Idee gekommen, die Ausbildung zu unterbinden.« Aber nicht nur zeitlicher Abstand, auch kulturelle Differenzen ziehen oft Staunen über die militärischen Disziplinvorstellungen anderer Menschen nach sich. Als Victor Klemperer imMai 1945 seinen ersten amerikanischen GIs begegnete, notierte er: »Im übrigen machen die Amerikaner weder einen bösartigen noch einen hochmütigen Eindruck. Sie sind überhaupt keine Soldaten im preußischen Sinn. Sie tragen keine Uniformen, sondern Monteuranzüge, Overalls oder Overallähnliche Kombinationen aus hochreichender Hose und Bluse in graugrüner Farbe, sie tragen kein Seitengewehr, nur eine kurze Flinte oder einen langen griffbereiten Revolver, der Stahlhelm sitzt ihnen bequem wie ein Zivilhut auf dem Kopf, nach vorn oder hinten gerückt, wie es ihnen paßt. Unten an der Isar stand einer imStahlhelm mit aufgespanntem Regenschirm, eine Kamera in der Hand − der Schirm schien für die Kamera dazusein. Marschieren habe ich noch nicht die kleinste Gruppe sehen: alle fahren − wie, das beschrieb ich schon.« Und zwar so: »›Sitzen‹ stimmt nicht, sie fleetzen sich lässig vergnügt, irgendwo hängt immer ein langes Bein laatschig heraus, und ebenso laatschig liegt die linke Hand zum Anzeigen der Geradeausrichtung auf der Schutzscheibe«. Tragen den Helm, wie es ihnen paßt! Regenschirme gar! Man hätte sich ernsthaft fragen müssen, wie man mit solchen Leuten einen Krieg gewinnen sollte, wenn das nicht bereits erledigt gewesen wäre.

Auch die Amerikaner selbst waren nicht gefeit vor baugleichen Überraschungen. Als der Militäranalytiker S. L.A. Marshall 1958 in Israel das Geheimnis der israelischen Militärerfolge zu ergründen versuchte, mußte er feststellen: »Schliff in der Bekleidung ist ein Ding der Unmöglichkeit, Schliff in der Haltung ein reines Lippenbekenntnis. Nach westlichen Standards fehlt es dieser Armee … gänzlich an den äußeren Formen derDisziplin. Soldaten treten unrasiert an, ihreHaartracht sieht aus, als bestreikten sie den Friseur. DerWachtposten kaut eine Orange, während er auf und ab patrouilliert. Offiziere tragen gestreifte Zivilistensocken zur Uniform.« Gleichzeitig taucht in diesem Beitrag vom Oktober 1958 der Begriff »military discipline« zum letzten Mal in Harper’s Magazine auf.

Aber es bleibt ja nicht dabei, die Verweichlichung des Militärs schreitet unaufhaltsam voran. Bei der alljährlichen Special Forces Conference der USA wurden 1999 neue Fertiggerichte für den Kampfeinsatz in Geschmacksrichtungen wie »Tortellini mit Meeresfrüchten« angekündigt, in Deutschland gibt es die »Kaserne 2000« mit reduzierter Bettenanzahl pro Stube, neuem Mobiliar und an die Stuben angegliederten Einzelsanitärräumen. Härte und Entbehrungsreichtum des militärischen Daseins sind also vermutlich relativ. Soldaten wird nicht wesentlich mehr zugemutet, als zur selben Zeit im selbenKulturkreis auch von Zivilisten ausgehalten werden muß. So weit, so naheliegend. Was ist, könnte man fragen, dagegen einzuwenden, daß sich das Militär als letzte Bastion der Härte gebärdet, um so Mitarbeiter zu rekrutieren und deren Selbstbild mit ein wenig kostenlosem Glitter zu versehen? Einiges, denn der Glaube an Härte und Heldentum in der Kriegführung hat seine Kosten.

Eine der am besten dokumentierten Episoden der Verteidigung kontraproduktiver militärischer Ideale ist die Geschichte des Maschinengewehrs. Maschinengewehre waren seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts verfügbar, aber Krieg galt als Frage der Disziplin und Entschlossenheit des einzelnen Soldaten, und mit dieser Vorstellung ließ sich das Maschinengewehr zunächst nur schwer vereinen. Es wurde als unmilitärische Spielerei abgetan, gerade gut genug, um damit in den Kolonien nackteWilde in Schach zu halten. Erst nach mehreren JahrenWeltkrieg wurde um 1916 herum auch dem Letzten klar, daß Willenskraft und Tapferkeit gegen Maschinengewehrstellungen nicht viel ausrichteten. »Die Generäle konnten sich nicht mit dieser Macht (desMaschinengewehrs) abfinden«, schreibt John Ellis. »Immer wieder warfen sie ihre Männer an die Front, voller Zuversicht, daß diesmal etwas mehr Vorbereitung, mehr Männer und eine zusätzliche Prise schiererWagemut ausreichen würden, denWiderstandswillen des Feindes zu brechen. Sie begriffen einfach nicht, daß sie nicht gegen dessen ›Willen‹, sondern gegen seine Maschinengewehre kämpften.« [1. John Ellis, The Social History of the Machine Gun. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1975.] Fast 80 Prozent der Opfer des Ersten Weltkriegs gingen auf das Konto des Maschinengewehrs.

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