Internetkolumne – Sümpfe und Salons

von Kathrin Passig

»Jedem, der wachen Auges durch das Internet streift, ist die antiintellektuelle Hetze in den Kommentaren vertraut, die sich gegen angeblich Sperriges richtet, gegen kühne Gedanken, gegen Bildung überhaupt. Man lese nur jene höhnischen Nutzerbeiträge, die sich als Wurmfortsatz unter einem typischen Feuilletonartikel finden.« So schrieb Adam Soboczynski im Juni 2009 unter dem Titel Das Netz als Feind.Warum der Intellektuelle im Internet mit Hass verfolgt wird in der Zeit.

Obwohl es wenig Sinn hat, Behauptungen über »das Netz« aufzustellen, ist nachvollziehbar, wie man zu diesem Eindruck gelangen kann. Mir ist kein Ort im deutschsprachigen Internet bekannt, an dem eine konstruktive Kommentarkultur herrscht, und auch befragte Freunde zuckten nur die Schultern. Am »Netz als Feind« liegt es nicht, denn im englischsprachigen Bereich gibt es Orte, an denen die Kommentare lesenswerter sind als der kommentierte Beitrag. Bei einigen Angeboten [1. Dieser Beitrag enthält keine Leseempfehlungen, dazu vollzieht sich der beschriebene Verfall zu schnell. Vor fünf Jahren hätte ich die Nachrichtenaggregationssite Reddit empfohlen, und es kurze Zeit später bereut.Was ich heute mit Gewinn lese, wird schon kurz nach Erscheinen des Beitrags seinen Nutzwert verlieren. ] lese ich die Kommentare grundsätzlich vor den Artikeln, und die Praxis scheint so verbreitet zu sein, dass sich dafür analog zu RTFM (»read the fucking manual«) in Diskussionen die Aufforderung RTFA, »erst mal den Artikel lesen«, etabliert hat.

Wenn Autoren die Qualität der Kommentare unter ihren Texten beklagen, ist das in der Sache nicht falsch, die Vermutungen über Ursachen und Abhilfe sind aber oft unterkomplex. Im Zusammenhang mit den Kommentarforen von Printveröffentlichungen, aber auch vieler Onlinemedien herrscht die hinderliche Vorstellung, es gebe hier den feinsinnigen, gebildeten Autor und dort das Kommentarproletariat, dem man notgedrungen ein Ventil für seine Meinung geben müsse, es sei jetzt halt so die Mode. In diesem Glaubenssystem sind langweilige, dumme und bösartige Kommentare unvermeidlich. Dass Ausnahmen von der Misere existieren, deutet aber darauf hin, dass niedrige Beitragsqualität ein selbstgemachtes Problem ist. Konstruktive Beiträge entstehen nicht von allein, und auch nicht nur, weil ein Anbieter sie sich wünscht.

Man kann den Betreibern von Kommentarforen, Communities und anderen Kommunikationsangeboten aber höchstens mittelgroße Vorwürfe machen. Die technischen Voraussetzungen für den Meinungsaustausch mit Menschengruppen, die nicht mehr an einen Kneipentisch passen, gibt es noch nicht lange. Außerhalb spezialisierter Nerdkreise hatte niemand länger als zehn bis fünfzehn Jahre Zeit, um Erfahrungenmit der Förderung und Erhaltung konstruktiver Kommunikation in großen Gruppen zu sammeln. Es ist keine Überraschung, dass zentrale technische wie soziale Probleme ungelöst sind.

Die erste Aufgabe, vor der Gründer einer Kommunikationsplattform stehen, ist die Beschaffung einer passenden Starterkultur; aus einem Sumpf wird nie mehr ein Salon. Häufig rekrutieren die Betreiber dazu ihren Freundeskreis oder schon vorhandene Autoren. Eine einigermaßen homogene und überschaubare Gruppe bringt in diesem quasi vorgesellschaftlichen Zustand meistens auch ohne ausgefeiltes Regelwerk eine zivile Form des Austauschs hervor. Schon an diesem Punkt scheitern viele Gemeinschaften an fehlendem Beteiligungsinteresse oder werden von Nutzern mit einer ganz anderen Agenda als geplant besiedelt. Trotzdem ist der erste Schritt noch vergleichsweise einfach.

Wenn er gelingt und eine produktive Diskussionskultur entsteht, wird schon ab einer relativ kleinen Gruppengröße Moderation unumgänglich. Das Erreichen dieser Schwelle ist ein schwieriger Moment, denn zuerst muss das Problem erkannt und akzeptiert werden, und vor dem Festlegen der Regeln muss irgendjemand die Regeln des Gesetzgebungsprozesses festlegen. Man müsste zuerst einmal über die Abstimmung abstimmen, aber wer soll an der Abstimmung über die Abstimmung teilnehmen? Auch halbwegs demokratische Systeme formen sich unter zweifelhaften Umständen, und die hier getroffenen Entscheidungen sind oft Anlass für jahrelang schwärende Konflikte.

Wächst die Gemeinschaft erfolgreich, steht sie über kurz oder lang vor dem Problem, dass die Regeln, die für eine kleine Gruppe gut funktioniert haben, nicht mitskalieren. Das Phänomen wird oft als »Eternal September« bezeichnet, benannt nach dem September 1993, als AOL seinen Kunden den Zugang zum Universitätsangehörigen vorbehaltenen Usenet öffnete. Bis dahin war nur der September mit seinem Zustrom tölpelhafter Studenten ein schwieriger Monat gewesen, und bis zum Oktober hatten die Neulinge gelernt, sich im Netz zu bewegen.
AOL und Usenet sind mehr oder weniger Geschichte, aber der Eternal September wird für jeden neu erschlossenen Internetkontinent wieder heraufbeschworen.Mit wachsender Teilnehmerzahl wird es für Moderatoren und andere Interessierte schwieriger, neue Nutzer mit den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Gemeinschaft vertraut zu machen. Die durchschnittliche Beitragsqualität sinkt, das Verhältnis von Signal und Rauschen wird ungünstiger. Wer sich stärker für Inhalte interessiert als für Sozialgeräusche, zieht sich in diesem Stadium zurück, was die Plattform wiederum für andere Teilnehmer unattraktiver macht. Dieser Prozess läuft weiter, bis der kleinste gemeinsame Nenner erreicht ist; Beispiele für die Revitalisierung umgekippter Biotope im Internet sind mir nicht bekannt.

Freiwillig oder unfreiwillig klein bleibende Gemeinschaften vermeiden diese Probleme und handeln sich dafür andere ein. Wie bei Beziehungen gibt es auch bei neuen sozialen Kreisen eine Phase der Frischverliebtheit, in der sich die Teilnehmer von ihrer besten Seite zeigen. In den ersten Monaten oder Jahren einer Onlinegemeinschaft befinden sich alle Teilnehmer gleichzeitig in diesem Zustand. Später bildet sich eine phasenverschobene Mischung aus Neuzugängen und Alteingesessenen.Wenn Letztere zu stark überwiegen, legen alle die Fü.e auf den Tisch, der Diskussionsstandard verfällt, und der Mangel an Nachwuchs führt zu geistiger Stagnation. Eine solche Zombiecommunity kann noch lange weiterexistieren, aber sie ist nur noch eine leere Hülle.
Selbst wenn eine Gemeinschaft anfangs gut funktioniert, lässt die Qualität der Auseinandersetzung im Laufe der Zeit nach. Das muss kein Naturgesetz sein, dazu ist das Internet noch zu jung, aber in den letzten Jahren standen Betreiber und Nutzer immer wieder vor denselben Problemen, und entsprechend viel wurde im Trial-and-error-Verfahren daran gearbeitet.

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