Merkur, Nr. 198, August 1964

Architektur und »bloßes Bauen«

von Werner Hofmann

 

I

Die neue St. Gallener Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, inmitten eines locker bebauten Villenviertels auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt gelegen, zählt zu den wichtigsten Bauten der beiden Nachkriegsjahrzehnte. Man wird das Datum ihrer Entstehung bald in jedem Handbuch finden und von da an die bestandene Feuerprobe eines neuen Architekturwollens datieren. Die augenfälligsten Gestaltungsprinzipien der Anlage, eines räumlich abgestuften Komplexes von vier eng aufeinander bezogenen Gebäuden, sind: konsequente Beschränkung auf den rechten Winkel und die kubische Grundform, Betonung der Mauer als einer Metapher für blockhafte Horizontalität, und dichte räumliche Verklammerung der einzelnen Gebäude zu einer Anlage, die an das »campus« einer amerikanischen Hochschule erinnert. Obwohl jedes Gebäude für sich besteht, kann es nicht isoliert gesehen werden, denn es ist Glied eines wohlüberlegten, das Terrain geschickt nutzenden Gesamtumrisses, der den Baumintervallen zwischen den Baublöcken eine wichtige, koordinierende Rolle zuweist. Plattformen, Podeste, Treppen, Rampen, Blumen- und Wasserbecken geben diesen »Zwischenräumen« die formale Artikulation und damit dem ganzen Bild seine Syntax.

Als ich die Anlage im Dezember 1962 (einige Monate vor ihrer Fertigstellung) besuchte, hatte ich seit langem wieder das Erlebnis durchdachter Monumentalität. Das berühmte Verkünderwort Le Corbusiers stellte sich ein: »Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper.« Hier schien eine überzeugende Antwort auf die Frage vorzuliegen, die uns das Unbehagen am epigonalen Bationalismus unserer Wiederaufbaustädte in den Mund legt: gibt es heute noch Möglichkeiten, den Baukörper als künstlerisches, raumplastisches Ereignis zu akzentuieren, also die standardisierten Sprachmittel unserer Architektur für bestimmte Ausdrucks- und Symbolbereiche zu gewinnen?

St. Gallen gab den Anstoß zur näheren Beschäftigung mit diesem Fragenkreis. Einige Reisen schärften den Blick und wiesen die Anschauung auf neue Zusammenhänge, eine Anzahl wichtiger Neuerscheinungen erweiterte die Basis sachlich-theoretischer Information. Die nachfolgenden Zeilen, zugleich Anschauungsbericht und Literaturanzeige, legen davon Rechenschaft ab.

*

Notre-Dame du Haut, Ronchamp. Ich kannte die Kirche Le Corbusiers aus vielen Veröffentlichungen, ehe ich sie im Frühjahr aufsuchte. Die Bewunderung schlug in Enttäuschung um. Das Auge, bisher von kühnen photographischen Ausschnitten gefesselt, entdeckte plötzlich das Aufdringliche der photogenen Pathetik; es zeigte sich irritiert von Farben- und Oberflächeneffekten, die interessant sein wollen und äußerlich wirken. Der unleugbare plastische Aufwand erinnerte mich an Filmaichitekturen (Lang, Dreyer, Eisenstein). Architektur, die eine Fülle neuer Möglichkeiten erschließt, aber deren plakative Originalität doch heute bereits im Zwielicht des Modischen steht. Es ist nicht schwer, aus diesem Alterswerk eines Genius, der nicht nur Architekt, sondern auch Bildhauer und Maler sein will, viele der Sprachelemente herauszulesen, aus denen Walter Förderer, die aphoristische Zuspitzung und den »gag« vermeidend, die rhythmische Prosa seiner St. Gallener Schule geformt hat. Ronchamps romantische Aufdringlichkeit befremdet, da sie zur Bravour ausartet, die stellenweise Schönheit nimmt den Mund zu voll, sie verflacht zur Schauarchitektur.

Le Corbusier hat die Kirche eine »Arche« genannt. Der Vergleich ist nicht übel. Tatsächlich denkt man an einen gestrandeten Schiffsrumpf, den die Fluten auf einem Hügel zurückgelassen haben. Der symbolische Hinweis auf die christliche Kirche ist unverkennbar. Dazu kommt eine andere Beziehung. Das Schiff als formal geschlossene Größe hat auf Le Corbusier immer schon starke Faszination ausgeübt. In seinem Traktat »Vers une Architecture« (1922), der nun in der Reihe der »Bauwelt Fundamente« des Ullstein-Verlages seine zweite deutsche Ausgabe erlebt, verherrlicht er den Ozeanriesen, das Flugzeug und das Automobil. Was ihn am Passagierschiff fasziniert, ist nicht nur die nüchterne, zweckbedingte Formkonzeption: es ist die Autarkie der darin untergebrachten Lebensvorgänge. Das Schiff ist von der Umwelt unabhängig, ein Gemeinwesen in nuce, das seinen Bewohnern all das unter einem Dach bietet, was die städtische Architektur auf eine Vielzahl von Bauten und Einrichtungen verteilt. Diese Idee hat Le Corbusier in seiner »Cité radieuse« in Marseille zu verwirklichen versucht – sie ist das säkulare Gegenstück der »Arche« von Ronchamp. In diesem »Wohnschiff« ist alles untergebracht, was der Mensch unserer Zivilisation an Dienstleistungen benötigt. Das Haus liegt inselhaft in einem Park, im Innern gibt es Geschäftsstraßen, eine Apotheke, ein Hotel, auf dem Dach, das allen Bewohnern als Aussichtsterrasse dienen soll, einen Kindergarten. Anstelle von Funktionsdifferenzierung (wie Förderer sie in St. Gallen vorschlägt) der Versuch, verschiedene Funktionen auf einen gemeinsamen architektonischen Nenner zu bringen. Die Tendenz ist unverkennbar, Le Corbusier hat sie schon in seinem eben erwähnten Traktat (von dem später noch die Rede sein wird) mit dem Schlagwort der »Turm-Stadt« propagiert. Schon damals wollte er Cafés, Erholungsstätten und Luxusgeschäfte – diesen »Schimmel, der die Gehsteige überwuchert« – auf den Dächern unterbringen. Konsequenz dieser »Purifizierung«: das Straßenleben verkümmert, die Menschen retirieren auf Park-Inseln, die ihre Wohntürme umgeben, oder sie entfliehen, gleich Dschungelbewohnern, die sich vor wilden Tieren in den Baumkronen in Sicherheit bringen, dem Straßenverkehr in die Idylle ihrer Dachgärten. Die Stadt wird gespalten, sie existiert in zwei einander nicht mehr durchdringenden Bereichen: einmal punktuell (oder besser: vertikal) in den Türmen, das andere Mal horizontal in den mächtigen Verkehrsadern. Dazwischen ist Niemandsland.

Le Corbusiers Wohntürme sind Mehrzweckbauten. Das ist keine architekturgeschichtliche Innovation, Ich dachte an die Cité radieuse, als ich einige Monate später in Padua den gotischen Palazzo della Ragione besuchte. Die riesige Halle – »ein abgeschlossenes Unendliches, dem Menschen analoger als der Sternenhimmel«, heißt es darüber in der »Italienischen Reise« – ruht auf einem Erdgeschoß, in dem sich, wie im römischen Castrum, zwei Straßen mit Geschäften kreuzen. Das repräsentative Gebäude der Bürgerschaft dient also gleichzeitig dem Geschäftsleben und überdies dem städtischen Flanieren. Das Innen nimmt das Außen in sich auf, das Haus wird zur Straße. Das Bauwerk steht inmitten der öffentlichen Verkehrsachsen und nicht, wie bei Le Corbusier, in einer abgesonderten Parklandschaft. Das kommt auch formal zum Ausdruck: das kommerzielle Erdgeschoß weist einfache Formen auf, die Würdeformen sind dem festlichen, der Versammlung dienenden Obergeschoß vorbehalten. Das Problem unserer Tage, die Differenzierung der Nutzzonen von den Repräsentativzonen eines Bauwerks (oder einer Stadt), ist hier bereits beispielhaft gelöst.

Diesem Phänomen stand ich wenige Tage später in Urbino gegenüber. Der Frührenaissancepalast des Luciano Laurana wirkt nach außen als unregelmäßiger, festungsartiger Baublock. Seine südwestliche Schauseite, die nach der Toskana blickt, wird von zwei Ecktürmen flankiert, in deren Mitte eine Loggia durch alle Stockwerke reicht. Diese Loggia ist ein Meisterwerk der Bedeutungsdifferenzierung: in ihr demonstriert der Architekt vier Phasen der Verwandlung vom Schweren zum Leichten, von der anonymen Zweckform zur künstlerisch geprägten und verfeinerten Hoheitsform. Die Metamorphose beginnt im Erdgeschoß mit einem auf zwei schrägen Stützmauern ruhenden Segmentbogen, der sich im ersten Stock in einen Rundbogen verwandelt; im zweiten Stock ist der Rundbogen nicht mehr in die Mauer geschnitten, sondern ruht auf zwei ionischen Säulen, desgleichen im dritten Stock, wo die Loggia ihre größte Tiefe und ihre vornehmste formale Ausprägung vorweist. Das ist die »bel étage«, von der der Herzog, selber gerahmt, in die zum Bild gerahmte Landschaft hinausblickte – ein Schaufenster im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Verwandlung vom Groben zum Leichten – wo finden wir sie in unserer heutigen Architektur derartig konzentriert an ein und demselben Formmotiv vorgeführt?

Man sollte keine unbilligen Fragen stellen. Genug, daß die Problematik unserer Situation allenthalben erkannt wird. Ermutigend, daß denkende Architekten immer mehr von den Extremen abrücken und erkennen, daß der Ausdruckswert eines Bauwerkes nicht dessen Nutzwert zu unterdrücken hat, und daß auch die umgekehrte Vergewaltigung kein taugliches Rezept wäre. Nach Wien zurückgekehrt, fand ich das Augustheft der Schweizer Zeitschrift »Werk« vor und darin ein Gespräch mit Walter Förderer über seine inzwischen eröffnete Hochschule. Darin stehen Formulierungen, die unsere Situation beispielhaft klar präzisieren: »Wir sehen die beiden äußersten Positionen: die Standardisierung einerseits mit der Möglichkeit eines Bauens als – fast – Nicht- Architektur und anderseits künstlerische Architektur, die >bewohnte Skulptur<, als Möglichkeit extrem personeller architektonischer Ausdrucksweise. Wir sind der Meinung, daß der heutige Architekt das Maß des Künstlerischen, der Würde seiner jeweiligen Aufgabe entsprechend, zwischen diesen beiden Extremen zu suchen hat. Auf dieser Suche gerät er allerdings . . . in Auseinandersetzungen mit denjenigen unter den Pionieren, die kurzerhand die Erfüllung von Bedürfnis und Zweck des zu Gestaltenden zum ästhetischen Wert erhoben haben, die das Verhältnis des Menschen zur Architektur als das des bloßen Benützers auffaßten und jeden weiteren Ausdruckswert der Architektur verneinten. Indem wir diese Meinung einer Prüfung unterziehen, gewinnen wir auch eine neue Einstellung zum 19. Jahrhundert und weigern uns fortan, die Architekten der letzten 150 Jahre in fortschrittliche und reaktionäre einzuteilen.«

Das klingt ebenso überzeugend wie vielversprechend. Mit Recht verlangt Förderer eine neue Einstellung zur Vergangenheit. Das wäre dem Verständnis des Formenvorrates der »modernen Architektur« überaus nützlich. Dieser Vorrat wirkt überraschend neu und ungewohnt, wenn man unter Architektur die Prototypen der jeweils gängigen Hochsprache des Bauens versteht, also etwa den Tempel, die Kathedrale und den Palast. Das sind, auf ihr Gemeinsames befragt, lauter axialsymmetrische, geschlossene Baukörper mit betonten Front- oder Schauseiten. Darin liegt das Geheimnis ihrer Würdeform. Und gerade damit bricht das neue Bauen, wenn es zum offenen, unregelmäßigen Grundriß, zur lockeren Fügung der Baumglieder greift. Es ist unrepräsentativ, und darum geht es der symmetrischen Fassade und der vorgeblendeten Schauwand aus dem Wege. Das mutet revolutionär an, ist es freilich nur bedingt – denn dahinter stehen, von unseren Kirchen und Palästen in den Schatten der Anspruchslosigkeit gedrängt, die Bauformen, die eben nicht die Hochsprache, sondern das »volgare« sprechen. Man denke etwa an die offenen, unregelmäßigen Grundrisse der englischen Landhäuser (lange vor Wright), an die Bauten der nordamerikanischen Siedler, der italienischen Villen. Man denke an die Städte Nordafrikas, die Olbrich um die Jahrhundertwende bereiste, an die Balkandörfer, die Richard Neutra als Soldat im ersten Weltkrieg kennenlernte und die ihm die Idee einer »Architektur des Natürlichen« eingaben, und an die von Gropius und Le Corbusier bewunderten Getreidesilos Nordamerikas. Von Schinkel bis Wright und Mies van der Rohe war das »Understatement« dieses Volgare eine ständige Fundquelle, eine Bekräftigung für jeden, der nach elementaren, phrasenlosen Formen suchte. (Ähnlich vollzieht sich seit etwa 1800 die formale Erneuerung der Malerei, auch sie rückt von der Hochsprache der Renaissance ab und lernt eine neue Strenge im Volgare der Gotik, der Negerskulpturen, der Kunst der sogenannten Primitiven kennen.) Hier lebt die noch ungeschriebene Vorgeschichte des Neuen Bauens. Doch nicht minder ergiebig wäre die umgekehrte Blickrichtung: die Aktualisierung der Vergangenheit mittels der Gegenwart. Wer Le Corbusiers Villa Savoye im Kopf hat, wird den Dogenpalast und Palladios Palazzo Chiericati in Vicenza mit neuen Augen sehen und deren erregende »Aktualität« wahrnehmen.

Das 19. Jahrhundert bedarf einer Revision. Um einen Ansatzpunkt zu gewinnen, müßten Ruskins »Seven Lamps of Architecture« in die Diskussion eingeführt werden. Ich möchte den Herausgebern der »Bauwelt Fundamente« empfehlen, diesen Text in ihr Publikationsprogramm aufzunehmen. Einige Hinweise sollen das begründen. Man kann Ruskins Vorstellung von Architektur und Kunst als naturalistisch bezeichnen, will man sie gründlich mißverstehen. Ebenso erweist man ihr aber einen schlechten Dienst, wenn man sie nur als Vorhersage des 20. Jahrhunderts nimmt und sich dabei auf die mehrmals ausgesprochenen Grundsätze der Materialgerechtigkeit, der Asymmetrie und die Forderung nach »honesty« beruft, womit Ruskin die äußerliche Verkleidung kritisiert und jenes Gebäude das edelste nennt, »which to an intelligent eye discovers great secrets of his structure.« Dieser Denker muß in seinen Widersprüchen erkannt werden.

Ruskin erlebt den ersten Aufschwung der Ingenieurbaukunst. Er mißtraut dem Eisen, wenngleich er einräumt, daß es, einmal im Besitz seiner Gesetze, eine wichtige Rolle spielen wird. Aber er wehrt sich dagegen, Eisenkonstruktionen als Architektur zu bezeichnen. Darum die apodiktische Forderung: Architektur bleibe auf die nichtmetallischen Materialien beschränkt. Damit definiert er indirekt das Eisen als das Nutzmaterial par excellence. Für Ruskin ist Architektur etwas Erhabenes, ein Komplex differenzierter Würdeformen, sie besteht in der Disposition von Gebäuden und deren Schmückung mit Plastik und Malerei. Alles andere ist bloßes Bauen. Die architektonischen Formen stehen jenseits der Zwecke, sie sind unnotwendig (woraus geschlossen werden kann, daß die Formen des bloßen Bauens Notwendigkeit verkörpern.) Indem Ruskin so dem Wunschbild Architektur seine bereits bedrohte Würde bewahren möchte, verdünnt er es und entleert es zugunsten des »mere building«. Das sind aber genau die Extreme, innerhalb derer sich das 19. Jahrhundert tatsächlich bewegt hat: hier die schöne, zwecklose und äußerliche Schmuckform, dort die nüchterne Zweckform. Was nützt es, daß Ruskin zwar diese Dichotomie kritisiert, er hat sie, wenigstens in ihren theoretischen Formulierungen, mit auf dem Gewissen.

Er war zugleich (und wohl gegen seinen Willen) einer der ersten Apostel der Kunstlosigkeit, indem er, das Maschinenprodukt verachtend, das Handwerk pries und Architektur in die Inselhaft der »nobleness« verwies. Manchmal zögert man freilich, ihm diese Verantwortung anzukreiden, denn es gibt viele Einsichten, die zu seiner Entlastung sprechen. Etwa die Warnung davor, Architektur zum bloßen Rahmen für plastischen Schmuck verkümmern zu lassen; oder die Forderung, der farbigen Dekoration der Bauwerke ihre Eigenständigkeit gegenüber den architektonischen Formen zu belassen (»colour never follows form« ist ein Grundsatz, dem auch die Malerei des 20. Jahrhunderts Gültigkeit verschaffen sollte). Bahnbrechend mutet die Feststellung an: »all art is abstract in its beginnings«. Das ist das Credo des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Wissen mißtraut Ruskin dem »finish« und empfindet Verachtung für eine bestimmte Art von »refinement in execution«, ähnlich wie Delacroix Unbehagen verspürt, wenn er seine Skizzen zu Ende malt. Lange bevor Loos seinen Aufsatz »Ornament und Verbrechen« (1908) schrieb, verurteilte Ruskin das Ornament, weil es die »necessities« verhüllt. Er lehnte die vermeintlich künstlerischen Verzierungen der Eisenbahnstationen ab und proklamierte einen der Glaubensartikel des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich »not to decorate things belonging to active life« und »not to mix ornament with business«. Von hier ist es nicht weit zu Sullivans »Die Form folgt der Funktion«. Doch hütet sich Ruskin, die nützliche Form zum Absolutum zu erheben. Darin steckt seine Bedeutung für unsere Gegenwart, die, vom Kult des Funktionellen übersättigt, wieder ähnlich denkt.

Ruskins Wirkung auf den Kontinent ist noch zu untersuchen. Ich nehme an, daß Otto Wagner, Wiens großer Pionier der Jahrhundertwende, dem das Historische Museum seiner Vaterstadt kürzlich eine längst fällige Ausstellung widmete, mit den Gedanken der »Seven Lamps« vertraut war. Ruskin verlangte von den Bahnhöfen nicht künstlerische Prätentionen, sondern: »Carry him (den Reisenden)safely, dismiss him soon: he will thank you for nothing else.« An diesen Rat denkt man vor Wagners Stadtbahnkonzept, wenngleich dort die Nutzform stufenweise in die Würdeform übergeleitet wird. Otto Graf hat das in seinem Vorwort zur Wagner-Ausstellung so formuliert: »Es ist aussichtslos, wie es immer wieder geschieht, die Stadtbahn von den schönen Stationen her zu verstehen. Die Architektur dieses großen Verkehrssystems kommt nur in der Bewegung der Maschinen und der Massen ins wirkliche Dasein. Die gesamte Gestaltung ist darauf ausgerichtet, etwas zu bauen, das verlassen wird. Die Form ist überall offen und in ständigem Differenzierungsprozeß begriffen. Je schneller die Bewegung der Maschinen, desto einfacher wird die Form …«

Auch Loos dürfte Ruskin gekannt haben. Ruskin wollte das Ornament aus allen Nutzformen verbannt wissen, Loos stellt fest: »Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande.« Auch das moralische Pathos klingt nach Ruskin, ebenso das Lob der handwerklichen Fertigung oder die einschränkende Definition der Architektur: »Nur ein ganz kleiner teil der architektur gehört der kunst an: das grabmal und das denkmal. Alles andere, alles, was einem zweck dient, ist aus dem reiche der kunst auszuschließen.« Man merkt, wie sich, ein halbes Jahrhundert nach Ruskin, das Dilemma verschärft hat. Dann kamen die zwanziger Jahre und forderten den architektonischen Gebrauchsgegenstand. Heute steht die Architektur in einer neuen Phase ihrer Gewissenserforschung: »Der Bau als Kunstwerk, der nur als persönliche Leistung konzipiert ist, nimmt wenig oder keine Rücksicht auf die Forderungen der Aufgabe. Er setzt ihnen eine vorbedachte freikünstlerische Absicht entgegen und schafft damit – vielleicht – einen selbständigen, plastischen Wert. Das standardisierte Bauen andererseits bringt im besten Falle eine an sich akzeptable, vorbedachte Ästhetik hervor, die in ihrem Ausdruckswert aber auch nicht vom Wesen der Aufgabe bedingt ist. So sind personelle und technische Lösungen zwar zueinander Extreme, aber gleichermaßen indifferent gegenüberspezifischen Forderungen, also beide vor der Aufgabe versagend.« (Förderer)

Man zögert, dieser harten Standeskritik vorbehaltlos beizupflichten. Es scheint, daß hier dem Architekten zu viel abverlangt wird. Das Bauwerk, dem der Zweck seine Form diktiert, ist eine der Wunschvorstellungen des »fortschrittlichen« 19. Jahrhunderts. Nutzbauten – man überblicke z. B. die Geschichte des Krankenhauses – hatten jedoch immer die Tendenz, sich der gängigen Formensprache anzupassen. Ist darum nicht das »Versagen vor der Aufgabe«, oftmals rhetorisch bemäntelt, eine Folge der überaus komplexen Situation des Architekten, der nun jedem Auftrag seine unverwechselbare Gestalt geben soll? Es ist ja keineswegs so, daß ihn klar umrissene Aufgaben erwarten. In der Regel muß sich der Bauherr unserer Tage erst vom Architekten seine Wünsche und Bedürfnisse darlegen lassen – das läßt der Überredungskunst keinen geringen Spielraum. Die Aufgabe ist keine gegebene, unveränderliche Größe, sie ist das, was der Architekt aus ihr machen will und kann.

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Die moderne Architektur ist zu einem wesentlichen Teil durch die messianische Überredungskraft ihrer Schöpfer verwirklicht worden. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Architektur als Religions- und Weltanschauungsersatz gepredigt. Die Schriften Louis H. Sullivans, der stärksten Persönlichkeit der Chicago School, sind die erste Poetik des neuen Architekturwollens. Die Reihe »Bauwelt Fundamente« legt eine Einführung in Sullivans Gedankenwelt von Sherman Paul vor, der eine umfangreiche Textauswahl beigegeben ist. Sullivans romantischer Idealismus verbindet die Morphologie Goethes mit einem enthusiastischen Glauben an die schöpferischen Möglichkeiten der Demokratie. Zusammen mit Emerson, Thoreau und Whitman zählt dieser Architekt zu den Aposteln des amerikanischen Sendungsbewußtseins. Gestützt auf die seitdem dogmatisierten Leitgedanken der Aufrichtigkeit, Einfachheit und Ursprünglichkeit, wird Architektur als ein organisches Ganzes gelehrt. Die Natur ist das große Vorbild, doch will Sullivan den Architekten nicht auf die Nachahmung, sondern auf die Natur der Dinge verpflichten. Solcherart versucht er, den Prozeß des Bauens als eine schrittweise Entfaltung von innen nach außen darzustellen und damit zu überbrücken, was sein Jahrhundert als Kluft erlebt: den Abstand zwischen Funktion und Zierform, Ingenieur und Architekt. Das führt ihn dazu, die Rolle des Ornaments neu zu überdenken. Die Zierform muß aus dem Material herauswachsen, sie muß strukturbedingt sein und darf nicht als bloße Applikation auftreten. Andererseits – und das bringt einen Bruch in sein morphologisches Gedankengebäude – muß er einräumen, daß das Ornament, weit davon entfernt, Notwendigkeit zu besitzen, ein »geistiger Luxus« ist. Diese Definition steht im Widerspruch zur Forderung nach einer organischen, gewachsenen Architektur, dafür postuliert sie einen Grundsatz, den das 20. Jahrhundert vielfach realisiert hat. Einigt man sich nämlich, daß das Ornament (oder besser: die Zierform) nicht aus der Baumasse herauswachsen muß (wofür Sullivan selbst in seinen Bauten keine Beispiele gibt), dann folgt daraus, daß es zu dieser in einem kontrapunktischen Verhältnis zu stehen hat: »Intuitiv wissen wir, daß unsere starken, gewaltigen und einfachen Formen mit natürlicher Sicherheit den Schmuck tragen werden, von dem wir träumen …«

Was Ruskin von der Farbe sagt – colour never follows form – wäre sonach abzuwandeln in: ornament never follows structure. Anders formuliert: die elementar vereinfachten Formen können Zierformen nur vertragen, wenn diese, radikal verselbständigt, eine polare Spannung provozieren. Bevor jedoch dieser Dialog beginnt, muß man sich des idealistischen Wunschbildes entledigen, daß behauptet, Struktur und Ornament verhielten sich zueinander wie der Baum zum Blatt. Übrigens hat Sullivan selbst das Ornament kontrapunktisch gehandhabt. Aus den funktionellen Bereichen verdrängt, steigert es sich in eigenen Reservaten zu tropisch üppigen Formen. Es wird plastisch und tritt aus der Fläche in den Baum. Hier wird der Weg frei vom Ornament zum plastischen Capriccio, wie es ähnlich etwa bei Gaudi und Endeil auftaucht. Konzediert man dieser Zierform, daß sie nichts Natürliches, sondern etwas Künstliches vorzustellen habe, so behauptet man, daß die emotionale Form nicht mit der funktionellen identisch sein muß und proklamiert eben jenen funktionsfreien Bereich am Bauwerk, dessen Bewältigung die Architekten seit hundert Jahren in Verlegenheit bringt.

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Man kann sich dieser Verlegenheit entziehen, indem man nicht nur, wie Ruskin und Sullivan, die zeitweilige Entbehrlichkeit des Ornaments erwägt, sondern seine völlige Entfernung fordert. Dafür ist niemand schärfer als Adolf Loos in seinem Aufsatz »Ornament und Verbrechen« (1908) eingetreten. Die Formulierungen dieses Pamphlets sind ebenso einschneidend wie die Revolution des Kubismus, mit dem sie das Entstehungsjahr teilen. Zusammen mit allen, in den beiden Büchern »Ins leere gesprochen« (1921) und »trotzdem« (1931) veröffentlichten Arbeiten ist dieser Aufsatz nun im 1. Band der Sämtlichen Schriften enthalten (Verlag Herold, Wien-München 1963). Erst nach Erscheinen des zweiten Bandes wird man eine Würdigung des schriftstellerischen Gesamtwerkes versuchen können. Darum seien jetzt nur einige Hinweise notiert.

Mit Loos verhält es sich ähnlich wie mit Ruskin: sein Denken ist zwiespältig, von Tradition und Innovation abwechselnd fasziniert. Nur die Formulierungskraft und der oft bissige Esprit seiner Prosa, die keinen Widerspruch duldet, täuschen darüber hinweg. Dies aussprechen, heißt eine Legende antasten, doch scheint es an der Zeit, den messianischen Gestus und die Zarathustra-Weissagungen auf ihre Substanz zu befragen. Diese ist, wie bei einem polemischen Kopf dieses Ranges nicht anders zu erwarten, komplex und widersprüchlich. Das gilt übrigens ganz allgemein für den Prediger-Architekten, also auch für Sullivan, van de Velde, Wright und Le Corbusier.

Loos denkt die Unterscheidung zwischen Architektur als Kunst und als »bloßes Bauen« weiter. »Was einem zweck dient, ist aus dem reiche der kunst auszuschließen.« Folgerichtig unterscheidet er zwischen Architekten und Baumeistern. Entsprechend dem Antiakademismus der Jahrhundertwende gilt seine Vorliebe den letzteren, denn sie sind gleichsam noch unverdorben. Der Architekt, ein Stadtmensch, ist ein Entwurzelter. Was er baut, fügt sich, im Gegensatz zum Werk des Baumeisters, nie in die Landschaft ein. Daraus folgt: alle guten Architekten sind Baumeister, die Bezeichnung Architekt ist ein Schimpfwort. Führt man dieses Wortgeplänkel auf die Überzeugungen zurück, die dahinter stehen, dann enthüllt es eine traditionalistische Attitüde, die dem Bauern Kultur zuspricht, dem Stadtbewohner aber nicht. Loos hat eine geheime Sehnsucht nach der Goethe-Zeit, er sinnt einem verlorenen Paradies nach. Er lobt den Handwerker, er stellt Tischler und Schuster hoch über den, der »angewandte Kunst« hervorbringt, und zieht darum den handwerklichen Gegenstand (wie schon Ruskin und Morris) dem Maschinenprodukt vor. Merkwürdig: die Bewunderung angelsächsischer Lebensformen bleibt aristokratisch voreingenommen, denn sie macht vor den industriellen Produktionsmethoden halt. Dafür stimmt sie in den Fortschrittshochmut des 19. Jahrhunderts ein und behauptet: »Die gotik? Wir stehen höher als die menschen der gotik. Die renaissance? Wir stehen höher. Wir sind feiner und edler geworden.« (Wer, die entwurzelten Stadtmenschen oder die Bauern?) Mit Recht betont Franz Glück, der Herausgeber der Sämtlichen Schriften, daß es falsch wäre, aus Loos eine starre Theorie zu destillieren. »Loos . . . stellte die Regel auf und wußte, daß es die Ausnahme gab.«

Schmälert man die Bedeutung dieses großen Mannes, wenn man die Vielschichtigkeit seines Denkens der von den Epigonen propagierten monolithischen Strenge vorzieht? Wer Augen hat, kann der Analyse der Bauten und Projekte eine ähnlich komplexe Struktur entnehmen. Obwohl Loos das Haus als Zweckgebilde auffaßt, kann er dem Versuch der Monumentalisierung nicht widerstehen, etwa in der Stufenpyramide des Grand Hotel Babylon (auch symbolische Vorstellungen sind dabei im Spiel) oder im Projekt für das Gebäude der Chicago Tribüne (1923). Über einem neungeschossigen Kubus erhebt sich ein Wolkenkratzer in Gestalt einer dorischen Säule – ein Haus oder die Würdeform eines Architekturmales oder ein Zwitter? Mit der These, »daß der echte Prototyp des großen Bürogebäudes die klassische Säule . . . sei«, hat sich schon Sullivan beschäftigt. (Das große Bürogebäude, künstlerisch betrachtet, 1896). Daraus ergibt sich die Frage nach den literarischen und anschaulichen Quellen. Loos war von 1893 bis 1896 in den USA. Er hat von dort starke Eindrücke mitgenommen, sich darüber aber in den bisher veröffentlichten Schriften kaum geäußert. Hier steht die Forschung noch vor lohnenden Aufgaben, obgleich zu befürchten ist, daß sie sich mit Mutmaßungen wird begnügen müssen. Richard Neutra hat in seinen Lebenserinnerungen (Auftrag für morgen, Claassen Verlag, Hamburg 1962) versucht, Licht in das Dunkel der amerikanischen Jahre zu bringen; aber auch sein Bericht, reich an biographischen Details über Loos‘ Aufenthalt in New York, vermag die architekturgeschichtlichen Beziehungen nicht aufzuklären.

»Auftrag für morgen« ist Lebensbericht und architekturphilosophisches Bekenntnis in einem. Neutras große Vorbilder sind Loos, Wright und Sullivan. Bauen allein genügt ihm nicht, er will »heilsam« bauen, seine fixe Idee ist das »Gesundheitshaus«. Wieder geht es um die Rückgewinnung des verlorenen Paradieses. Neutra will ein »Architekt des Natürlichen« sein. Er strebt nach einer Architekturgestalt, in der das Innen mit dem Außen verschmilzt. Die Leitidee dieses Wollens ist die Höhle, sie tritt dem jungen Architekten bereits während des Krieges auf dem Balkan entgegen: »Die Häuser standen in weit aufgelockerten Dörfern, die aus Felsbrocken und Feldsteinen der Landschaft erbaut waren, so daß sie in ihrer Umgebung aufgingen und oft überhaupt nicht als Behausungen zu erkennen waren.« Später greift Neutra zur biologischen Metapher: »Ein Haus ist in gewisser Weise der Nachfolger des Mutterleibes«. Daraus leiten sich die Zielsetzungen ab: das Haus soll dem Menschen Geborgenheit, Behaglichkeit und wohlausgewogenes Gleichgewicht spenden. Neutra zieht die Bemühung um das Individuum den dem Kollektiv geltenden Planungsaufgaben vor. Skeptisch gegenüber den architektonischen »Massentransaktionen«, formuliert er eindringliche Warnungen an die Adresse der selbstherrlichen Planer und Utopisten.

Seit Loos Amerika besuchte, ist das Interesse an den transatlantischen Vorgängen nicht mehr erloschen. Neutra ging 1923 über den Ozean. 1910 erschienen in Deutschland und Holland Publikationen über das Schaffen von Wright. Bereits 1913 stellte Gropius in einem Essay die amerikanischen Getreidesilos den Pyramiden Ägyptens zur Seite. Neun Jahre später bewunderte Le Corbusier in ihnen die »prachtvollen Erstgeburten der neuen Zeit.«

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Die Auseinandersetzung mit dem neuen Kontinent hat verschiedene Wege eingeschlagen. Le Corbusier z. B. hat sich am kubisch geschlossenen Baukörper, an der Plastizität der Blöcke und Zylinder orientiert, während man sich in Deutschland mehr am Gliederbau, am gläsernen Kathedralenaspekt der Wolkenkratzer begeisterte (Mies van der Rohe). Hierüber berichten zwei Bände der »Bauwelt Fundamente«: »Ausblick auf eine Architektur« (Erstausgabe 1922) von Le Corbusier und »Frühlicht 1920-22« von Bruno Taut. Längst vergriffene Quellenwerke ersten Ranges werden somit wieder zugänglich gemacht.

Le Corbusiers Prosa gleicht Trompetenstößen. Jeder Satz ist Aufruf oder Verdammung. Der gedankliche Appell setzt sich im optischen fort: jede Buchseite soll provozieren, Hervorhebungen, Zwischentitel und Konfrontationen sollen Schockwirkungen erzeugen. Manche Formulierung könnte von Loos stammen, den Le Corbusier bewundert hat. Etwa diese, gegen die »angewandte Kunst« gerichtete: »Der zivilisierte Mensch trägt englische Anzüge und besitzt Bücher und auf der Staffelei gemalte Bilder.« Doch in zentralen Fragen steht Le Corbusier im Gegensatz zu Loos. Der einschränkenden Begriffsbestimmung der Architektur (Denkmal und Grabmal) hält er eine expansive entgegen: »Baukunst lebt im Telefonapparat wie im Parthenon.« Folglich: »Das Haus ist eine Wohnmaschine.« Da Architektur eine »künstlerische Tatsache« ist – »sie steht außerhalb von Konstruktionsfragen, jenseits von ihnen« -, ist auch die Zweckformeine künstlerische Form, sind Ingenieur-Ästhetik und Baukunst »im tiefsten Grunde dasselbe.« Genau besehen möchte Le Corbusier eine Wechselwirkung zustande bringen: der Gebrauchsgegenstand soll ästhetisch nobilitiert, das Kunstwerk ernüchtert werden – beiden gemeinsam ist Harmonie und Vollkommenheit.

Le Corbusier beschwört das Vorbild Athens und Roms. Renaissance und Barock werden schroff abgelehnt, ebenso die Gotik, denn sie geht nicht von den großen primären Formen ans. Darum fehlt ihr die »letzte Schönheit« und darum ist sie »kein Werk der bildenden Kunst«. So spricht der leidenschaftliche Verfechter mediterraner Formenartikulation. In diesem Urteil ist die Ablehnung des »natürlichen Bauens«, der organisch gewachsenen Form, der Höhle und des Mutterleibes mitenthalten. Die 1929 erbaute Villa Savoie in Poissy (bei Paris) ist ein Beispiel dieser Haltung: man glaubt, diesen Stützenbau vom Erdboden abheben zu können.

Man betritt eine andere Welt, wenn man zu Tauts »Frühlicht« greift und auf der ersten Seite das Manifest »Nieder der Seriosismus« liest: »Hoch, dreimal hoch unser Reich der Gewaltlosigkeit! Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall! und hoch und immer höher das Fließende, Grazile, Kantige, Funkelnde, Blitzende, Leichte – hoch das ewige Bauen!« An späterer Stelle heißt es: »Die Sklerose der Tektonik nähert sich einer Lösung. – Entwicklung liegt im Aufsplittern und Neukomplizieren, die Monumentalisis, das Einfache, Primäre, alles, was im Zwange der Massenanziehung genießt – ist Müdigkeit, Krankheit, Kindheit oder Alter . . . Ich weiß, daß ich in den Augen meiner zünftigen Kollegen ein Sakrileg begehe, wenn ich die Gotik Karikatur nenne wie den Barock. Nun denn, was ist Karikatur? Mutation in einer Richtung, Hybridierung des Typischen.. . Doch eben in dieser einseitigen Hybris liegt der Reiz dieser Stile . . .« (Hermann Finsterlin).

In der Zeitschrift »Frühlicht« spiegelt sich die geistige Erregung der ersten Nachkriegszeit wider. Zugleich läßt sich der Dialog der verschiedenen Richtungen ablesen, in denen eine Neuorientierung des Bauens versucht wurde. In den ersten Heften überwiegt die hybride Phantastik in Gestalt von Architekturträumen, wie man sie sich auf einer Bühne verwirklicht vorstellen könnte. Man schwelgt in einem Überbarock. Metaphorisch wird die Höhle, der Mutterleib, aber auch das Luftschiff (zum Zwecke der »Auflösung der Städte«) und das Glashaus (von Scheerbart inspiriert) zur Legitimation herangezogen. Aussprüche von Novalis, Suso und Böhme sollen den Drang ins Grenzenlose, die Freude an Verschmelzung und Verwandlung apostrophieren. Die Formmöglichkeiten setzen beim prämorphen Brei an, der sich gleich einer Haut um den Bewohner schmiegt, sie läutern sich zu schwebenden kristallinen Formen. Man entwirft Kult- und Stimmungsarchitekturen, das Schelling-Wort, wonach Architektur gefrorene Musik sei, soll veranschaulicht werden. Doch neben der schwärmerischen, in die Wolken oder ins Erdinnere drängenden Mystik kommen auch dadaistische Einfälle zu Wort. Anstelle des schablonenhaften Architekturdekors empfiehlt man, die Mauern von den Bauleuten mit Strichmännern bekritzeln zu lassen. Allein im Hinblick auf die gegenwärtige Renaissance des »organischen Bauens« hat diese Publikation größten Quellenwert, denn sie verdeutlicht die romantisch-expressiven Ursprünge dieser Tendenz. Gaudi und Sant’Elia sind in den Spalten dieser Zeitschrift wohl zum ersten Mal in Deutschland bekannt gemacht worden. Darüber hinaus dokumentiert »Frühlicht« die Versachlichung des expressionistischen Pathos. Allmählich kommen neben Finsterlin, Taut und Krayl auch Architekten zu Wort, die nicht der »Sklerose der Tektonik« entgegentreten wollen. Wir finden einen wichtigen Aufsatz von Oud; Mies van der Rohe kommentiert seine Glashochhäuser, Ehrenburg stellt Tatlin vor, Iszelenof berichtet über die neueste russische Architektur. Dazu das Satyrspiel: Schwitters erläutert, wie er sich die Verwandlung der Großstadt in ein gewaltiges Merzkunstwerk vorstellt. Man sieht: ein unorthodoxer, offener Horizont, in dem erstaunlich viele Möglichkeilen des Bauens zur Diskussion gestellt werden. Eine Zeitschrift, wie sie heute wieder notwendig wäre.

 

II

Seit Joedicke seine noch immer unübertroffene »Geschichte der modernen Architektur« (Verlag Gert Hatje, Stuttgart 1958) vorlegte, erschienen drei Bücher, die man als Gesamtdarstellungen bezeichnen kann: »Zwischen Glashaus und Wohnfabrik« von Eberhard Schulz (Schünemann, Bremen 1959), »Drei Meisterarchitekten« von Peter Blake (Piper, München 1962) und »Der Schlüssel zur Architektur von heute« von Udo Kultermann (Econ, Düsseldorf 1963).

Das Buch des englischen Architekten und Kritikers Peter Blake ist die Ehrenrettung des Künstlerarchitekten, es behandelt Leben und Werk von Le Corbusier, Mies van der Rohe und Frank Lloyd Wright. Ein Buch, das die Augen öffnet: die Werkanalysen sind von der unaufdringlichen Klarheit und Schärfe, die den Fachmann verrät, die Kritik trifft immer ins Schwarze. Zu den Vorzügen dieser wichtigen Untersuchung gehört die Besinnung auf eine Tatsache, die viel zu selten bedacht wird: »daß nämlich die Geschichte der Kunst von Künstlern bestimmt wird und nicht von >Strömungen<. Keine >Strömung< – ökonomischer, soziologischer oder technischer Art – hätte Ronchamp, den Barcelona-Pavillon oder Taliesin West schaffen können. Und es gäbe keine moderne Architektur, wie wir sie kennen, ohne individuelle schöpferische Akte jener Art, wie sie diese großen Gebäude darstellen.« Denn »ungeachtet des Zeitgeistes hätte bei allem Wagemut der Ingenieure und visionären Blick jener Architekten, die mit der Vergangenheit brachen, die moderne Architektur kaum mehr als utilitaristische Lösungen erreicht, wäre nicht um die Jahrhundertwende und in dem darauf folgenden Jahrzehnt ein halbes Dutzend großer Künstlerpersönlichkeiten in Erscheinung getreten…« Das resümiert ein Ausspruch von Mies, wonach »Technologie, wenn sie ihre wahre Erfüllung findet, in Architektur transzendiert« (zit. bei Schulz).

Der Grund, warum Blake sich auf Le Corbusier, Mies und Wright konzentriert, ist ein künstlerischer. Er bezweifelt nicht, daß z. B. Gropius mehr zur Grundlagenforschung des industriellen Bauens beigetragen hat, daß Aalto und Mendelsohn zu praktischeren Lösungen gelangt sind. Dennoch waren Le Corbusier, Mies und Wright bedeutender, weil sie die größeren Künstler waren. »Alle drei hatten eine Art poetischer Vision der Welt, in der sie lebten. Indem sie nun dieser poetischen Vision Form zu geben versuchten, drangen sie oft weiter und wagemutiger auf neues Gebiet vor als ihre rationaler denkenden Berufsgenossen, die durch die prosaischeren Forderungen des Augenblicks gehemmt wurden.« Mit anderen Worten: sie vermieden es, Sklaven ihrer eigenen Doktrin zu werden. Blake analysiert nicht drei Vollzugsorgane des »Zeitgeistes«, sondern schöpferische Lebensläufe mit ihren Kehren und Widersprüchen. Das gibt seiner Untersuchung die Lebensnähe.

Man kann allerdings das Buch auch anders lesen, nämlich als die Analyse dreier Grundkategorien des Bauens in ihrer »modernen« Ausprägung: der Form (Le Corbusier), der Struktur (Mies) und des Raumes (Wright). In dieser Sicht tritt die Einzelleistung gegenüber dem entwicklungsgeschichtlichen Kettenglied zurück. Dem kommt der Autor durch den häufigen Hinweis auf Einflüsse und Querbeziehungen entgegen. Da die geschichtlichen Fäden oft durcheinander laufen, nimmt Blake die Gelegenheit wahr, innerhalb der drei Lebensläufe die Leistungen anderer Pioniere zu erörtern. Das rundet sein Buch zu einem Panorama der modernen Architektur ab. Le Corbusiers Aufenthalt in Wien bringt die Rolle Hoffmanns zur Sprache, bei Mies wird Behrens, bei Wright dessen Lehrer Sullivan behandelt.

Udo Kultermanns »Schlüssel zur Architektur von heute« erfüllt nicht die Erwartungen, die der Titel erweckt. Das Buch will »nicht bestimmte Bauten vorstellen, sondern gesellschaftliche und politische Aspekte aufzeigen, die Beziehungen zwischen Architektur und menschlichen Verhaltensweisen deutlich machen.« Der Autor hat dieses Versprechen nicht eingelöst. Seine Werkanalysen bringen kaum neue Gesichtspunkte; vage Hinweise auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Ordnungen, auf das Verlangen nach Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit bleiben unverbindlich. Wo sieht Kultermann den Funktionalismus des Kugelhauses von Ledoux? Und wo die Begründung für die runde Gestalt des Frankfurter Atomreaktors? Wieso kommt es, wenn Architektur gesellschaftlichen Bedingungen entspricht, daß auch im kommunistischen China Schalenkonstruktionen und Hängedächer gebaut werden? Wo es tatsächlich gesellschaftliche Motivationen gibt, blickt Kultermann in die falsche Richtung. So leitet er aus dem Brand von Chicago (1871) die Forderung ab, mit einem neuen Konstruktionsprinzip in kürzester Zeit Wohnraum für Zehntausende zu schaffen. »Die Konsequenz war der Hochbau.« Kein einziges der Hochhäuser der Chicago School war jedoch als Wohnbau errichtet worden. Von sozialpolitischer Bedeutung sind diese Bauten aus anderen Gründen: sie kamen den Bodenspekulanten entgegen und befriedigten das Symbolbedürfnis des business man.

In seiner ersten Hälfte ist Kultermanns Buch ein durchaus brauchbarer Geschichtsbericht über die wichtigsten Ereignisse vom Kristallpalast (1851) bis zur Mitte unseres Jahrhunderts. Die zweite Hälfte ist die interessantere, in ihr betritt der Autor Neuland. Er berichtet über Arbeiten und Projekte der letzten zehn Jahre, deren Diskussion meistens noch den Fachzeitschriften vorbehalten ist. Kultermann referiert ausführlich über nukleare Architektur, die Überdachung von Häfen, Bauten aus aufblasbaren Stoffen und klimatisierte Natur, ohne jedoch in geistesgeschichtliche und soziologische Zusammenhänge hineinzuleuchten.

Mag sein, daß ihm gerade bei der Behandlung dieser Utopien Zweifel an der Brauchbarkeit seiner Prämisse kamen. Sein Glaube an den Funktionalismus der modernen Architektur verdrängt die Frage nach deren künstlerischen Maßstäben und macht ihn blind gegenüber dem willkürlichen Spiel der Utopisten; sein naiver Fortschrittsoptimismus ist, eben weil er in jeder Caprice ein Weltheilmittel vermutet, konservativer als es den Anschein hat. Wer die letzten Kapitel des Buches aufmerksam liest (sie verdienen es!), erkennt eine vom Autor zwar nicht verschwiegene, aber nur ungenügend analysierte Tendenz. Architektur als das formale Ergebnis einer lückenlosen Planung, das Anspruch auf Eigenständigkeit und Dauer erhebt, soll abgeschafft werden. Es taucht eine Vision dessen auf, was man als praktikable Über-Architektur umschreiben könnte. Man fühlt sich in die Rolle Ruskins gedrängt, wenn man zweifelt, ob Plastikzelte, Talüberdachungen und Wasserspiele noch als Architektur anzusprechen sind.

Im Zeitalter der Apparate, so scheint es, wird auch Architektur zum Gerät, das sich rasch errichten, abmontieren und versetzen läßt – zur transportablen Einrichtung. Die Verfechter dieser Konstruktionsweisen wollen ein möglichst großes Maß an Anpassungsfähigkeit erreichen, also Einrichtungen, mit denen man vielerlei Aufgaben gerecht werden kann. Der junge deutsche Architekt Frei Otto formuliert das so: »Jeder… müßte eigentlich erkennen, daß die Anforderungen, die an einen Bau gestellt werden, fast nie konstant sind, daß sie sich rasch, ja beinahe täglich verändern, und er wird vielleicht auch erkennen, daß das Tempo solcher Veränderungen heute schneller ist als früher.« Das Ergebnis dieses schielenden Kotaus vor den Zwecken ist, daß die Überdachung eines Tanzparketts der eines Mausoleums gleicht. (Abb. bei S. 161) Diese Disponibilitäts-Architektur bedeutet für Kultermann einen entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkt, dem er vorbehaltlos Beifall spendet. Kein Wunder, denn sie verwirklicht ja konsequent seine Überzeugung, daß »seit der Französischen Revolution das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrer Bedürfnisse« gilt. Prinzipien machen jedoch – zum Glück! – keine Kunstwerke. Träfe Kultermanns Behauptung auf die kunst- und architekturgeschichtliche Entwicklung seit 1789 zu, dann hätten tatsächlich jene recht, welche diesem Zeitraum seine künstlerischen Werte absprechen.

Von den Experimenten, denen Kultermann breiten Raum widmet, ist bei Schulz keine Rede. Sein »Leitfaden durch die zeitgenössische Baukunst« reicht von der Jahrhundertwende bis zu den Schalenbauten der Gegenwart. Dem geschickt, wenn auch manchmal überspitzt formulierenden Verfasser gelingt das Kunststück, auf etwa 80 Seiten die wichtigsten Baugedanken des Jahrhunderts darzulegen und einer geistesgeschichtlichen Analyse zu unterziehen. Daran schließt sich ein Schlagwortverzeichnis, dem man den Einwand nicht ersparen kann, daß es im Grunde nur die Kapitel der Einführung (Schule, Renaissance des Kirchenbaues, Turmhaus und Zellenstadt usf.) um etwa dreißig Kurzessays bereichert. Die Auswahl ist zwar willkürlich, aber instruktiv (Aquariumseffekt, Ausstellungsarchitektur, die Rolle der Fabrik, Hallen, Heiterkeit und Leere usf.). Auf etwa sechzig Seiten folgen gut herausgegriffene Selbstzeugnisse der Architekten von Van de Velde bis Candela.

Schulz verhehlt nicht, daß die Architektur unserer Gegenwart in ihm Bedenken auslöst. Der Titel seines Buches bringt das plakativ zum Ausdruck. Der Text bezeugt einen vorurteilslosen Scharfblick, wie er selten geworden ist. Er stimmt nicht in den blinden Jubel um die moderne Architektur ein. Was ihn beunruhigt, ist, daß jede Errungenschaft mit ihrer Kehrseite behaftet scheint: Größe paart sich mit Monotonie, künstlerische Provokation schlägt in Prahlsucht um, der Funktionalismus gefällt sich in einem nüchternen »Armutsstil«, die »geplante Heiterkeit« degeneriert in absichtsvolle Leere. Schulz bietet eine Fülle geistreicher Beobachtungen zur Psychologie und Symbolik, wobei es ihm nicht schwer fällt, den Dogmen der Rationalität und Funktionalität des Neuen Bauens eine Reihe wesentlicher, irrationalen Antrieben entspringende Motive entgegenzuhalten. Sullivan, von seinen Nachbetern zu eng interpretiert, könnte aus solchen Überlegungen eine Rehabilitierung erfahren. Wieder einmal zeigt sich, daß große Persönlichkeiten von jeder Generation neu entdeckt werden müssen. Die Problematik der Architektur in der modernen Gruppengesellschaft wird von Schulz erkannt und in der Frage formuliert: »Kann die Verbändegesellschaft unserer Tage noch Hoheit darstellen?«

*

Das ist eine Frage, auf die unsere ästhetisch isolierende Betrachtungsweise des einzelnen Bauwerks keine Antwort zu geben vermag. Gewiß gibt es in unserem Jahrhundert eine Reihe von Meisterwerken der Architektur. Doch in der Regel stehen sie, bar jeder »Hoheit«, als beziehungslose Fremdkörper inmitten banaler Baudistrikte, solcherart nicht einen Höhepunkt, vielmehr einen unüberbrückbaren Abstand dokumentierend. Das ist die Kluft zwischen »architecture« und »mere building«. Von Ruskin bewußt gemacht, ist sie zu einem der Kernprobleme unserer urbanistischen Planung geworden. Soll man die drei städtischen Bereiche (Arbeits-, Wohn- und Erholungszonen) streng voneinander trennen, also die Kluft zwischen dem profanen Alltag und den Stätten der ästhetischen »Erbauung« akzentuieren? Soll man sie mischen? Oder ist die Wiederbelebung der langsam verödenden Innenstädte die Zukunftslosung? Die Reihe »Bauwelt Fundamente« legt zu dieser Diskussion vier gewichtige Beiträge vor: »Die Stadt im Aufbruch der perspektivischen Welt« von Jürgen Pahl, »Das steinerne Berlin« (Erstausgabe 1930) von Werner Hegemann, »Entfaltung einer Planungsidee« von Ludwig Hilbersheimer und »Tod und Leben großer amerikanischer Städte« von Jane Jacobs.

In seinem Vortrag »Was ist Architektur?« (1906) hielt Sullivan der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor: »Wie ihr seid, so sind eure Bauwerke; und wie eure Bauwerke sind, so seid ihr. Ihr seid eins mit eurer Architektur, jeder ist das getreue Abbild des andern.« Jürgen Pahl versucht, »die Wechselwirkungen zwischen sozialer und baulicher Gestalt dar (zu) legen.« Er geht von der Überzeugung aus, daß »das Verhältnis der baulichen Gestalt zur sozialen Gestalt… ein Verhältnis der Ebenbildlichkeit« ist. Damit bekennt er sich zur ganzheitlichen Betrachtungsweise mit allen ihren Vorzügen und Problemen.

Das gebaute Faktum Stadt soll geistesgeschichtliche und soziologische Kräfte widerspiegeln. Es wird, theoretisch wenigstens, in jeder Faser seiner Wirklichkeit zum Teil eines sinnvollen Ganzen, also zu einem Bedeutungsträger. Nun stellt sich aber heraus, daß die Wirklichkeit gewisse Unschärfen und Inkongruenzen aufweist, daß die Symptome in unterschiedlicher Dichte und niemals vollzählig auftreten. Darum muß der Autor ideale Typen konstruieren, Retortendestillate der Vollkommenheit, in denen sich der Prototyp der vorperspektivischen Stadt des Mittelalters und jener der perspektivischen Stadt der Neuzeit gleichsam in abstracto konstituiert. Gedanken und Begriffe Jean Gebsers werden dabei ausgiebig herangezogen. Pahl legt eindringliche, gut belegte Strukturanalysen vor, wobei von kunstgeschichtlichen Impulsen wenig, dafür um so mehr von religiösen und politisch-ökonomischen Kräften die Rede ist. Überaus bedeutsam ist die nachdrücklich hervorgehobene Zäsur, welche die Symbolik der mittelalterlichen Stadt von der Ästhetik des neuzeitlichen Stadtgebildes trennt. Nun erst kann man von Stadtbaukunst im Sinne eines Planens und Disponierens reden, das seine Kriterien dem formalen Effekt entnimmt. Diese Trennlinie mag überscharf gezeichnet sein, zumal sie vergißt, daß eine Reihe von Straßen- und Platzformeln der Renaissance bereits im Mittelalter vorgebildet sind, dort aber noch (wie Gantner gezeigt hat) der rationalen, idealtypischen Durchbildung entbehren – doch das sind entwicklungsgeschichtliche Details, die an der Polarität nichts ändern, ihr aber den Charakter des Abrupten nehmen.

Selbst wenn man mit dem Kennwort des »organisch Gewachsenen« vorsichtig umgeht, muß man doch dem mittelalterlichen Stadtkörper (die rasterartig angelegten Gründerstädte ausgenommen) konzedieren, daß er verästelt, verwachsen oder gar verfilzt anmutet. Diesen Formwucherungen, von den Romantikern des 19. Jahrhunderts als Vorbilder organischen Bauens gepriesen, tritt seit der Renaissance der klar artikulierte, für sich bestehende Baukörper, das Gefüge perspektivisch angelegter Straßen und Plätze entgegen. Doch im Augenblick, da die Stadtbaukunst ihrer selbst bewußt wird, treten bereits Verfallserscheinungen auf: die Schaufassade, der perspektivische Gewaltstreich, der nur auf theatralische Gesichtspunkte und Massenwirkungen Bedacht nimmt. Pahl urteilt über den Ausgang des Quattrocento: »So tritt bei hoher, ja höchster Vollendung der Form, in einem Rausch immer wieder auf Steigerung bedachter ästhetischer Wirkung in Raum, Proportion und Dekor, bereits der Beginn jenes Verlustes an Gestalt zutage, der die ganze Neuzeit, freilich in schwankendem Maße, aber immer wieder sich verstärkend, kennzeichnend durchzieht, und derschließlich, mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, zur völligen Auflösung führt.«

Was Ruskin als unvereinbaren Gegensatz empfindet – »Architektur« und »bloßes Bauen« – hat seinen Ursprung in dem geschichtlichen Augenblick, als das bedeutsame Bauwerk von seiner Umgebung isoliert und zum ästhetischen Selbstwert erhoben wird. Man sollte demnach einmal die Architektur seit der Renaissance unter diesem Doppelaspekt betrachten: der immer prächtigeren Entfaltung der künstlerischen Architektur, mit der die inselhafte Bildung raumgreifender »Nobelzonen« Hand in Hand geht, antworten, mehr und mehr in den Slum absinkend, die Behausungsnotdürfte der Massen. Was bei dem Baron Haussmann in Paris zu krassem Hell-Dunkel ausartet, beruht auf der Entwicklung mehrerer Jahrhunderte.

Pahls Überlegungen haben die Gegenwart, aber keine romantisch-mittelalterliche Lösung im Auge. »Heute ist die perspektivische Welt zusammengebrochen. Ihre gesellschaftliche Ordnung und ihr gesellschaftliches Bewußtsein sind dahin.« Auf die Strukturmodelle der vorperspektivischen Welt zurückzugreifen, scheint unmöglich. Man könnte, die These von den Wechselwirkungen zwischen baulicher und sozialer Gestalt akzeptierend, zu dem Schluß gelangen, daß die Verantwortung für die Gestaltlosigkeit der Großstadt nicht nur bei den Architekten, sondern bei allen jenen liegt, welche für die soziale Gestalt unserer Welt die Verantwortung tragen. Oder ist die partielle Chaotik unserer Städte nichts anderes als der Preis, den wir für deren streckenweise Asthetisierung entrichten müssen? Demnach wäre Planung, d. h. das Bewußtmachen formaler Beziehungen und Kraftlinien innerhalb der Stadtgestalt, der Sündenfall, mit dem wir seit der Renaissance behaftet sind?

Die völlige Verwahrlosung der städtischen Physiognomie hat die Großstadt in einen Verruf gebracht, von dem sie sich bis heute nicht befreien konnte. Reformer und Idealisten stempelten sie zur irdischen Hölle und verlangten, wie billig, die Errichtung des irdischen Paradieses: die locker besiedelte Gartenstadt. Als Werner Hegemann seine »Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt« schrieb – der Untertitel enthüllt bereits die Anklage seines Buches – glaubte er, im Vorbild der englischen Kleinhausstadt den probaten Ausweg gefunden zu haben. In dieselbe Richtung zielen die großräumigen Planungsvorschläge, die Ludwig Hilbersheimer seit drei Jahrzehnten für die »dezentralisierte Großstadt« vorlegt. Mit dem Versuch, der Stadt einen mehr ländlichen, dem Dorf einen mehr städtischen Charakter zu geben, verbindet Hilbersheimer die Selbstkritik an seinem ursprünglichen Planungskonzept von 1924, das eine Hochhausstadt vorschlug: »Die Arbeits- und Wohnfunktionen einer Stadt könnten voneinander geschieden, senkrecht miteinander verbunden werden: unten die Arbeitsstadt und darüber die Wohnstadt.« Von der »Einförmigkeit« dieser »Nekropolis« betroffen, gab Hilbersheimer später der horizontalen Expansion den Vorzug vor der vertikalen Konzentration. Heute erkennen wir, daß im Gefolge dieser Auflockerung, die wieder zur unverdorbenen Natur zurückfinden will, die Zerdehnung und Auflösung des großstädtischen Organismus steht.

Vision idyllischer Puristen, ist die dezentralisierte Großstadt das Resultat romantischer Mißverständnisse und zugleich unverhohlener Mißbrauch dessen, was in der Umgebung unserer Städte noch an Natur vorhanden ist. Sie ist weder Fisch noch Fleisch, weder Stadt noch Land. Dennoch wird sie immer wieder gegen den »großstädtischen Mythos« und dessen »Krebsgeschwüre« ausgespielt. Auch Lewis Mumford tut das in den letzten Kapiteln seines Buches »Die Stadt« (Kiepenheuer & Witsch, Köln 1663). Es ist eines der klügsten und kenntnisreichsten Werke zur Geschichte des Urbanen Gemeinwesens aus der Sicht der Kultursoziologie. Der Großstadt steht der Autor zwiespältig gegenüber, für die Zukunft räumt er ihr keine Chancen ein. Was soll mit der Megalopolis unserer Gegenwart geschehen? Mumford erblickt in Slumsanierung und Mustersiedlungen nur oberflächliche Maßnahmen. Er lehnt die Zonentrennung ab, erwartet sich aber auch vom »Zusammenwachsen des städtischen Gewebes« keine Lösung, sondern die Entstehung einer unförmigen »Anti-Stadt«. Mumfords Sympathien gelten einem Abkömmling der Howard’schen Gartenstadt, der Regionalstadt. Sie verkörpert für ihn die Gestalt, »welche die ideale Stadt der Zukunft annehmen könnte, indem sie die städtischen und ländlichen Bestandteile zu einem lockeren regionalen Gebilde zusammenfaßt, das viele Mittelpunkte hat, aber als Ganzes funktionieren kann.« Deutlich steckt hinter dieser Prophezeiung eine ganzheitliche, organische Architektur-Ideologie. Was Mumford der Großstadt vorwirft, ist die Verachtung organischer Prozesse. Die Stadt sollte aus dem zersplitterten Menschen wieder ein Ganzes formen: »Wir müssen der Stadt die mütterlichen, lebenspendenden Funktionen, die selbständigen Aufgaben und symbiotischen Bedingungen zurückgeben, die seit langem vernachlässigt oder unterdrückt worden sind.« Die Maßnahmen, die Mumford zur Verwirklichung dieses schwärmerischen Glaubens vorschlägt, sind allerdings nicht gerade neu (Bewahrung des Grüngürtels, Anlage eines Verkehrsnetzes, das eine größtmögliche Zahl von verschiedenen Verkehrsmitteln bewältigen kann).

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Neuerdings mehren sich die Stimmen, die dem Schlagwort von der Krankheit der Großstadt wieder mit Skepsis begegnen und im Symptom der »Unordnung« keinen Krankheitsherd, sondern das Gegenteil, ein Zeichen der Lebenskraft, erblicken wollen. Eine der klügsten und temperamentvollsten ist die von Jane Jacobs. Ihr Buch ist, was man eine Abrechnung nennt, es vereint die provozierende Aggressivität eines Pamphlets mit der Gründlichkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung. Es ist, von amerikanischen Zuständen ausgehend, für uns Europäer eine Warnung, sein Grundton jedoch nicht die unvermeidliche apokalyptische Vision, sondern der Glaube an die »wunderbaren Möglichkeiten« der großstädtischen Dynamik. Um das anzudeuten, greife ich einige der wichtigsten Gedanken des Buches heraus. »Eine große Stadt kann niemals ein reines Kunstwerk sein«. Damit wird der Totalitätsanspruch der ästhetisch-keimfreien Planung zurückgewiesen. Die säuberliche Zonentrennung der utopischen Puristen, die von einer City Beautiful träumen, wird in ihrer wirklichkeitsfernen Reißbrettästhetik als ein Stimulans von Verödung und Langeweile erkannt, die Absonderung der Verkehrs- von den Wohnbereichen als Fluchtgeste entlarvt: »Als Le Corbusier in den zwanziger Jahren seine Cit6 Radieuse als eine Park-, Wolkenkratzer- und Schnellstraßen-Version von Howards kleinstädtischer Gartenstadt entwarf, schmeichelte er sich, daß er für ein neues Zeitalter und damit für ein neues Verkehrssystem plante. Das tat er nicht. Was das neue Zeitalter anging, paßte er sich lediglich in oberflächlicher Manier gewissen Reformen an, die sehnsuchtsvoll ein vergangenes einfacheres Leben, das Jahrhundert des Pferdes, zurückwünschten …«

Das Rezept, das gegen die Zonentrennung, d. h. gegen die homogene Nutzung von Stadtvierteln und deren zeitweilige Verödung vorgeschlagen wird, entspringt der großen Tradition der amerikanischen Architekturpamphletisten seit Sullivan. Es ist ein demokratisches Rezept, es lehnt die urbanische Segregation ebenso ab wie die der Rassen. Es tritt nicht für das geplante oder künstlich differenzierte Nebeneinander, sondern für das Ineinander ein. Es bejaht die Großstadt, weil sie ihren Bewohnern eine Vielzahl von Wahlmöglichkeiten bietet, und es bestreitet den Satz, daß ein Gewebe von verschiedenen Nutzungen gleichbedeutend mit Chaos sei. Die Voraussetzungen für die großstädtische Mannigfaltigkeit erblickt Jane Jacobs in vier Umständen, nämlich in der Notwendigkeit gemischter primärer Nutzung und kurzer Baublocks, im Vorhandensein alter Gebäude und in einer Konzentration der Bevölkerung.

Diese Thesen stützen sich auf Tatsachen: die Verödung und den Verfall amerikanischer Städte. Sie beginnen mit der Beschreibung eines nahezu trivialen Tatbestandes, den Zwecken und Funktionen des Bürgersteiges, und münden schließlich, Schritt für Schritt auf Fakten gestützt, in den Versuch einer Neuformulierung der gesamten urbanistischen Fragestellung. Demnach sollte man 1. die tatsächlichen Vorgänge beobachten, 2. induktiv arbeiten, von den Einzelheiten zum Allgemeinen vorgehen und 3. nach »nicht durchschnittlichen« Merkmalen suchen, welche die Art und Weise verraten, in der sich die durchschnittlichen Faktoren verhalten.

Man ist versucht, dieser Einstellung pragmatische Nüchternheit vorzuwerfen. Was nützen induktive Methoden und Verhaltensforschung, wenn die urbane Wirklichkeit zwar analysiert, aber nicht gestaltet wird? Und wenn diese Gestaltung der zündenden Poetik entbehrt? Es scheint, daß wir an einer Wende halten. Den strengen, funktionalistischen und ästhetischen Programmierungen der ersten Jahrhunderthälfte antwortet ein gewisses laissez-faire. Wahrscheinlich ist es, zu Kompromissen bereit, menschenfreundlicher und lebensnäher als die stolzen, absolutistischen Utopien von Le Corbusier bis Kenzo Tange – sicherlich ist es prosaischer. Jane Jacobs rät den Planern und Weltveränderern zur Mäßigung. Man vermutet darin eine Spiegelung der politischen Einfallslosigkeit, die sich mit dem Status quo legitimiert. Die Entsprechungen zwischen Architektur und Politik liegen jedoch heute auf einer anderen Ebene. Eberhard Schulz betrachtet die Architektur des Internationalen Stils »als das Asyl der nicht verwirklichten politischen Ideale der Generation zwischen 1920 und 1950.« Das ethische Pathos und das Unbedingtheitsstreben dieser Architektur scheinen eine solche Deutung zu rechtfertigen. Heute liegen die Dinge anders. Die moderne Architektur lebt nicht mehr im Exil – doch soll man das begrüßen? Die Behörden und die Interessenverbände haben sich der Architektur bemächtigt, um mit ihrer Hilfe den Scheinidealen der Konsumgesellschaft eine ebenso optimistische wie aufwendige Fassade zu bereiten. Die Architekten, willfährige Helfer dieser Betriebsamkeit, sind zu weltanschaulichen Schaufensterdekorateuren geworden.