Merkur, Nr. 250, Februar 1969

Die deutsche Unruhe

von Wilhelm Hennis

 

Definitionen

Mit der politischen Sprache kann man nicht sorgsam genug umgehen. Die Worte, in denen wir politische Erscheinungen erfassen, tragen alle in sich zur Rechtfertigung oder Mißbilligung dieser Erscheinungen bei. Etwa zu sagen, ein Volk sei von »tiefer Unruhe« erfaßt, beinhaltet sicher etwas völlig anderes als die Aussage, es sei von »hektischer Aufregung« ergriffen, obgleich es sich gewiß um den gleichen Sachverhalt handeln kann. Bürgert sich für eine Erscheinung einmal ein bestimmter Begriff ein, setzt sich etwa »Unruhe« und nicht »Aufregung« durch, so ist für eine Beurteilung des Sachverhalts eine wichtige Vorentscheidung gefallen. Denn es handelt sich um Unruhe, die ohne tiefere und begründete Ursache im Gegensatz zur bloßen Aufregung doch kaum gedacht werden kann. So wendet sich die Aufmerksamkeit vom Phänomen — dem damit gewissermaßen eine Vorabrechtfertigung zuteil geworden ist — schnell ab, um sich auf die Suche nach den Ursachen zu machen. Zu Unruhe gehört eine verständliche Veranlassung außerhalb der Unruhigen — seine allgemeine Vernünftigkeit vorausgesetzt —, zur Aufgeregtheit nicht unbedingt.

Man mache die Probe: Für die Stimmung, die sich im Laufe des letzten Jahres eines großen Teils des deutschen Volkes, insbesondere der studentischen Jugend, bemächtigt hat, hat sich der Begriff der Unruhe ohne nähere Befragung eingebürgert. Aber kann man bestreiten, daß jene so benannte Stimmung, für die die Große Koalition, die Studienverhältnisse an unseren Universitäten, unterbliebene Reformen unserer Gesellschaft etc. als Verursachung benannt werden, von völlig anderer Art und innerer Begründung ist als jene Unruhe, die wohl jeden, der sich nicht gern etwas vormacht, als Folge der Ereignisse in der Tschechoslowakei in den letzten Monaten ergriffen hatte? In diesem zweiten Fall war der Begriff Unruhe m. E. vollkommen richtig am Platze. Auch wer gern einen kühlen Kopf bewahrt, den konnte physische Furcht ergreifen, eine tiefe Bedrückung, die sich völlig angemessen als »Unruhe« äußern konnte. Aber gilt das auch für die studentische Bewegtheit und ihre in aller Regel fast uneingeschränkt positive Kommentierung in der liberalen Publizistik unseres Landes? Im Laufe der letzten Monate sind Ströme von Tinte geflossen, um die Ursache der Unruhe, die unser Land erfaßt hat, zu ergründen. Dabei liegt, wie gesagt, in dieser Formel: Ursache der Unruhe schon eine Vorentscheidung. Der Fragehorizont erscheint von vornherein begrenzt durch eine zu rationale Prämisse. Kann Unruhe denn überhaupt etwas anderes sein als eine verständliche, vernünftige Reaktion auf eine nicht hinzunehmende Lage?

Allgemein ist das Urteil, daß die Unruhe der studentischen Jugend zumindest »im Kern« verständlich, begründet, ja, wie es der Bundesinnenminister gesagt hat, berechtigt sei. Scharf wird unterschieden zwischen der »Form« des Protestes — die auf weitgehende Kritik, ja scharfe Verurteilung stößt — und den »tieferen Ursachen« des Protestes. Wenn die Jugend, und noch dazu in so radikaler, kompromißloser Weise, ihre Unruhe bezeugt, so muß sie doch einen vernünftigen, beachtlichen Grund haben. In einer der Bundestagsdiskussionen über die studentischen Unruhen meinte ein Abgeordneter wörtlich, »daß man die Ursache der Unruhen systematisch totschweige«. Offenbar kannte dieser Abgeordnete die Ursachen ganz genau und wußte zudem, daß es Interessenten gibt, denen an einer Unterdrückung der öffentlichen Diskussion dieser Ursachen liegt.

Ich glaube, wenn die Dinge so liegen würden, brauchten wir uns um den geistigen Zustand der Nation nicht sonderlich zu sorgen. Wäre die Unruhe eine verständliche, in sich schlüssige Reaktion auf bestimmte Mißstände unseres öffentlichen Lebens, so wäre es ein Gebot praktischer Vernunft, diese Ursachen präzis ausfindig zu machen und ihnen mit den Mitteln der Politik zu begegnen. Aber ist die Unruhe, die einen Teil unseres Volkes erfaßt hat, denn wirklich ohne Einschränkung eine verständige, in sich begründete Reaktion auf bestimmte Mißstände? Als nicht geringste Ursache wird allgemein die unterlassene oder verschleppte Hochschulreform bezeichnet. Auch wer vieles an unseren Universitäten für reformbedürftig hält, wird doch die Frage aufwerfen müssen: ist der Zustand unserer Hochschulen denn wirklich so, daß er die Reaktion rechtfertigt, deren Zeuge wir an den deutschen Universitäten in der letzten Zeit waren? Wie müßten unsere Universitäten eigentlich aussehen, damit sie keinen Anlaß zu Unruhe und Unbehagen gäben, sondern — man erlaube mir das Herumreiten auf diesen Begriffen — »Ruhe« und »Behagen« auslösen?

Die Frage so stellen, macht m. E. die wenig politische Denkweise deutlich, die sich mit der Unruhe verbindet. Außerhalb des privatesten Bereichs der Liebe und der Freundschaft einerseits, rein technischer Produkte andererseits — (eine perfekte, »keinen Wunsch unerfüllt lassende« Waschmaschine, Auto, Stereoanlage etc.) — lassen Institutionen, deren Qualität in erster Instanz gebildet wird von Menschen, also unvollkommenen Wesen, stets zu wünschen übrig. Das liegt in der Natur des Menschen, und diese Natur überträgt sich auf seine Gebilde: Schulen, Universitäten, Kirchengemeinden, Kabinette, Staaten. Der Mensch braucht all diese Institutionen, um bestimmte Unvollkommenheiten seiner Natur zu kompensieren. Er ist angewiesen auf Institutionen, und um sie so vollkommen wie möglich zu machen, muß Klugheit in sie eingehen.

Aber jede geschichtliche Betrachtung zeigt, daß »Glück« hinzukommen muß, um ihnen ein möglichst großes Maß von Vollkommenheit zu geben. Statt von Glück spricht der moderne Mensch in diesem Zusammenhang lieber von »günstigen Umständen«, »einer besonderen historischen Lage« etc. — der Sache nach läuft es aber auf das gleiche hinaus: die Tatsache nämlich, daß dem Politiker nie alle Bedingungen und Umstände so an die Hand gegeben sind, daß er unsere Ansprüche an gesellschaftlich-politische Institutionen, die Forderungen, die ein fortgeschrittenes und wissenschaftlich geklärtes Bewußtsein an die Einrichtung moderner Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Parlamenten etc. stellen könnte, auch voll einzulösen vermag. Das ist nun ganz gewiß kein Argument, mit dem man politische Kritik abwürgen kann! Aber das Anerkennen dieser Lage verbietet es, utopische Forderungen zu stellen, und das sind genau solche, in denen alle Bedingungen zur Disposition des Menschen stehen. Alles utopische Denken orientiert sich ja entweder am Schlaraffenland, einer Welt ohne Mangel, oder am Zwangsstaat, in dem despotisch nicht nur über die Bedingungen, sondern auch über die Wünsche disponiert wird.

Daß alle menschlichen Institutionen und nicht zuletzt die politischen, aber auch die der Bildung, immer zu wünschen übrig lassen, kann nun kein Anlaß zu Unbehagen und Unruhe sein, sondern einzig zu Politik, d. h. der konstanten, ein hartes Bohren von dicken Brettern darstellenden Bemühung um Verbesserung dieser Welt und ihrer menschlichen Einrichtungen. Unruhe ist kausal zu rechtfertigen oder zu begreifen, jedenfalls unter vernünftigen Menschen, doch nur durch eines: durch Angst und Furcht. Das Extrem von Unruhe ist Panik. Unruhe ist verständlich, wenn das Kino brennt, das Schiff sinkt. Aber was ist da, wo sie verständlich ist, das erste Gebot? Nichts anderes als Ruhe! Höchstes Lob wird gespendet, wem es gelingt, selbst in solcher Situation Ruhe zu bewahren, dafür zu sorgen, daß Frauen und Kinder zuerst von Bord gehen. Rechtfertigt der Zustand der deutschen Universität und der Zustand der deutschen Politik allgemein wirklich jene panischen Stimmungen, die sich in diesem Land breitmachen? Es klingt sehr geistreich, wenn man heute die Unruhe als erste Bürgerpflicht proklamiert. Aber auch wenn sie von einem preußischen Stadtkommandanten stammt, so ist die These, Ruhe sei die erste Bürgerpflicht, doch eine ganz vernünftige Bemerkung, die jedem politischen Denker gut angestanden hätte — vorausgesetzt, daß kein Zustand der Tyrannis und Bedrückung vorhanden ist, der Unruhe verständlich machen würde, dem zu begegnen aber auch die kalte Ruhe des klugen politischen Planens angemessener ist als jede Form der Unruhe. Wer für unsere Gesellschaft Unruhe als erste Bürgerpflicht postuliert, suggeriert den Eindruck, wir lebten bereits in einer Tyrannis oder könnten doch jederzeit in sie hineinschlittern. Wer so redet, weiß nicht, was eine Tyrannis ist — oder er hat es vergessen. Wir brauchen kritisches Bewußtsein, Klugheit, Mut, Überlegung, aber ich wüßte wirklich nicht, was uns Unruhe helfen könnte.

 

Rationalisierungen

Ich glaube, diesen Vorbemerkungen würde sich wohl jeder vernünftige Mensch, und damit meine ich ein rationales Wesen, das mit Überlegung, Urteil, Maß auf Fragen antwortet, mit Bedachtsamkeit, zu der sich Wille gesellt, anschließen können. Die Frage, die ich aufwerfen möchte: Sind die Deutschen solche Menschen? Oder genauer — denn wie könnte man von »den Deutschen« reden? —: geben die uns historisch-gesellschaftlich bekannten Verhaltensweisen (Attitüden, wie die Soziologen sagen) eine hinreichende Gewißheit, daß in Deutschland eine kluge, pragmatische Einstellung zur Politik dominant bleibt? Es sind nicht wenige und sicher nicht die Schlechtesten, die in der gegenwärtigen Unruhe eine große Hoffnung für unseren Staat meinen sehen zu können. Ich möchte Wasser in diesen Wein schütten, glaube es als politischer Wissenschaftler tun zu müssen.

Max Weber hat den revolutionsbewegten, sicher auch sehr idealistischen Studenten von 1919 »sterile Aufgeregtheit« vorgeworfen. Traf er damit nicht vielleicht etwas, was über sein damaliges Auditorium hinausging? Ist die Unruhe, das Unbehagen, das sich in diesem Lande breitmacht, wirklich Ausdruck einer demokratischen Politisierung? Oder muß man nicht eher fürchten, daß wir vor den Anfängen des Rückfalls in eine uns vertraute alte Irrationalität politischen Verhaltens stehen, die mit hehrem Idealismus nur zu oft Hand in Hand gegangen ist? Richard Löwenthal, der Berliner Politikwissenschaftler, dem bestimmt kein Mensch reaktionäre, undemokratische oder auch bloß »konservative« Denkweise ankreiden kann, der die studentische Unruhe an ihrem Berliner Brennpunkt aus nächster Nähe beobachten konnte, hat vor kurzem die ersten besorgten Fragen gestellt. In den letzten Jahren sei in das Engagement der kritischen Intelligenz ein neuer Ton gekommen, der die Traditionen der totalen Kritik, der Romantik und der Utopie wieder aufnehme. Löwenthal hat die Befürchtung ausgesprochen, daß wir es in der radikalen Protestbewegung mit einer neuen Form jenes wiederkehrenden Phänomens zu tun haben könnten, das der französische Kritiker Julien Benda einmal die »trahison des clercs« genannt hat: »den Verrat der Intellektuellen nämlich an ihrer ureigenen Aufgabe als kritische, die Wahrheit suchende und nicht eine vorgegebene angebliche Wahrheit verbreitende Individuen«. Auch ich glaube befürchten zu müssen, daß sich in der studentischen Protestbewegung und bei ihren liberalen, Beifall spendenden publizistischen Kommentatoren ein Ton bemerkbar macht, der aufhorchen lassen sollte. Ich meine jene aktivistische Ungeduld, jenes unbedingte Fordern, es müsse alles anders werden, und dies gefälligst schleunigst, ohne weitere Verzögerung. Nicht zuletzt aber ein unüberhörbar ästhetisierendes Unbehagen an allen Unvermeidlichkeiten der modernen Industriegesellschaft, deren Verketzerung dem Menschen keinen Ausweg aus den Unschönheiten und Beengungen des modernen Lebens eröffnet, sondern nur in die Sackgasse sozialer Utopien mit totalitären Versuchungen weisen kann.

Es ist oft genug gezeigt worden, daß die studentische und überhaupt die Protestbewegung unserer Tage ein internationales Phänomen ist. Die Ursachen, auf die man die »deutsche Unruhe« im allgemeinen zurückführt, sind aber durchweg »deutsche Ursachen«: anstoßerregende Traditionsbestände der deutschen Institutionen, Versäumnisse bundesrepublikanischer Politik. Eine Analyse der behaupteten Kausalverbindungen sollte daher nicht ins Weite schweifen — die allgemeine Bedrohtheit dieser Welt, die »Umbrüche« der Industriegesellschaft etc. —, sondern sich an die vermuteten spezifisch deutschen Ursachen halten; nur diesen kann man politisch begegnen. Vor allem aber: gibt es nicht spezifisch deutsche Anfälligkeiten, für die wir ein helles Ohr haben sollten?

Ich möchte versuchen, sie deutlich zu machen und gehe dabei aus von einer Fragestellung, wie sie sich einem politischen Wissenschaftler von selbst aufzwingt. Politische Bildungsarbeit in einem Lande setzt ja immer eine Diagnose der Vitalität, der natürlichen Abwehrkräfte, gewissermaßen eine Orthologie, Gesundheitslehre des Patienten voraus, genauso wie eine Diagnose der Umwelt, des gesellschaftlichen Gesamtzustandes, in dem die Menschen agieren. Jede Diagnose eines Arztes beginnt mit einer Anamnesis. Welche Krankheiten hat der Patient durchgemacht, sind in der Familie bestimmte Krankheiten gehäuft vorgekommen? Außerdem sucht der Arzt Informationen über die Umwelt einzuholen (den Arbeitsplatz, die häuslichen Verhältnisse, Ehefrieden, Verhältnis zu den Kindern etc.). Zwischen den Umständen und der Art und Weise, wie ein Patient mit ihnen fertig wird, gibt es keine festgelegte Beziehung. Der eine meistert sie, der andere zerbricht an ihnen. Die Wirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre hatte die Vereinigten Staaten nicht weniger schrecklich im Griff als das Deutsche Reich. Die Amerikaner erhofften sich Hilfe von Roosevelt, die Deutschen von Hitler. Den Engländern gelang bis jetzt die psychologische Bewältigung des Verlustes ihres Empires in bewunderungswürdiger Weise; werden wir der deutschen Teilung auch weiterhin begegnen ohne irrationale Revancheversuchungen? Man kann es hoffen, darf man dessen sicher sein?

Sehen wir uns unter diesem Gesichtspunkt der »politischen Orthologie« die allgemeinen Erklärungen für die deutsche Unruhe unserer Tage einmal etwas genauer an. Wenn ich recht sehe, so sind zwei Linien der Argumentation voneinander zu unterscheiden: Eine, wenn ich so sagen darf, mehr ästhetisch-physikalische und eine zweite historisch-politische. Gehen wir die erste Argumentationslinie durch. Da wird abgestellt — ich brauche nicht hundertfach beizubringende Belege für das Vokabular von Leitartikeln und dutzendfachen Resolutionen im einzelnen vorzulegen — auf: politischen Immobilismus, mangelnde Handlungsbereitschaft, jahrelange Sterilität. Die Bundesrepublik sei gekennzeichnet durch Stagnation, Wohlstandsbürgeridylle; das oberste Ziel der Politik sei »trügerische Ruhe, die man fälschlich Ordnung nenne«. Anstoß wird genommen an Bequemlichkeit, Innovationsfeindlichkeit. Unsere Gesellschaft sei, wie es so schön heißt: verfettet, verkrustet, versteinert, vereist, verharscht, verhärtet, eingefroren, verfestigt, langweilig. Die deutsche Politik zeichne sich durch Einfalls- und Ratlosigkeit aus. Politische Bewegung sei erstarrt, die Große Koalition insbesondere suche Übereinkunft im Stillstand, nicht in der Bewegung. Konformität sei Trumpf. Von den etablierten, d. h. verfestigten Kräften ist die Rede. Beliebt ist auch die Rede von den »eingeschliffenen« Formeln und Floskeln. Man wird sagen dürfen, daß der Gesamttenor dieser Vorwürfe darauf hinzielt, die deutsche Politik, der Gesamtzustand der Gesellschaft sei durch Stillstand gekennzeichnet. Als Ursache der Unruhe erscheint mithin — die Ruhe.

Es kann nun nicht Sache dieses Aufsatzes sein, diesen Vorwürfen im einzelnen nachzugehen. Aber ich glaube doch, es sei mit Leichtigkeit die These vertretbar, daß es in der deutschen Geschichte bisher noch nie zwei Jahrzehnte so rapiden tiefgreifenden Wandels, solch überfließender Mobilität gegeben hat, wie die Jahre von 1948 bis 1968. Und das ohne Krieg, ohne Gewalt, ohne Zwang. Nur ganz junge Menschen mit einem minimalen historischen Horizont, die sich nur in Wochen und Monaten der Rückerinnerung bewegen können, außerstande, aus eigener Anschauung heutige Vorgänge und Erscheinungen von den entsprechenden vor fünf oder zehn Jahren abzuheben, können auf die kuriose Idee kommen, unsere Gesellschaft sei durch Immobilität und Stagnation gekennzeichnet. Noch nie hat es — und das gilt für alle Gebiete der deutschen Politik, der Wirtschaftspolitik, der Kulturpolitik, des ganzen Bereichs der Gesellschaftspolitik, der Art und Weise wie die Menschen leben, lieben, wohnen, sich ernähren etc. etc., was und wieviel sie lesen usw. usw., solch gewaltige Veränderung in einer so kurzen Zeit gegeben wie in den zwei Nachkriegsjahrzehnten. Und diese Wandlungen haben sich keineswegs von selbst, aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Dynamik heraus entwickelt, sondern sind sehr wohl zu einem Gutteil Folge bewußter Reformpolitik, Ergebnis eines enormen Aufwandes öffentlicher Mittel, einer Reformpolitik, die jedem Vergleich mit vergleichbaren Ländern, und das sind im Grunde nur Frankreich, England und die Benelux-Staaten, gelassen standhalten kann. Ein dummer Schönredner, wer behaupten wollte, in diesem Lande sei alles zum Besten bestellt. Aber geschlafen haben wir nicht, jedenfalls kaum mehr, als auch beim Nachbarn üblich. Es ist überaus verwunderlich, daß das oben gekennzeichnete Vokabular, in dem immer wieder die »Versteinerung«, die »Verharschung« dominiert, vor allem von Soziologen in Umlauf gebracht worden ist, die eigentlich besser als alle anderen wissen müßten, daß die Probleme unserer Gesellschaft mehr solche eines überschnellen Wandels als solche reaktionären Verharrens sind.

Was wird nun gegen die Versteinerung und Verharschung unserer gesellschaftlichen Strukturen, also den »Stillstand« gefordert? Es sind wenige Begriffe, auf die man diese Forderungen immer wieder reduzieren kann: Engagement, Öffnung, Offenheit, Mobilität, Mobilisierung, Dynamik, Mut zum Experiment, zur gesellschaftlichen Beweglichkeit. In die deutsche Politik müsse Bewegung hineinkommen, oder, wie es Ralf Dahrendorf formuliert hat, in Deutschland »müsse endlich wieder Politik gemacht werden«; wobei »Politik« für ihn offenbar synonym ist mit den aufgeführten Begriffen. Da der Begriff der Demokratie weithin mit gesellschaftlichem Fortschritt identifiziert wird, wird gegenüber dem Verharren und Zurückbleiben Handeln, Bewegung, Fluß gefordert.

Nicht daß ich die Protestbewegung mit dem SDS identifizieren möchte, aber immerhin gibt es ein Marxzitat (es fehlt in kaum einer der Schriften des SDS und der ihm nahestehenden Kreise), das mir die Denkstimmung des Protestes besonders prägnant wiederzugeben scheint. In der »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in der Marx, und das wohl mit Recht, die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit als versteinert bezeichnet — das oben angeführte Vokabular macht ständig Anleihen bei Marx —, heißt es: »Man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.« Nehmen wir das Vokabular der Protestbewegung ernst, und warum sollten wir das nicht tun, so bleibt als Ergebnis, daß der erste Vorwurf gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft darauf hinausläuft, daß sie in Erstarrung, Bewegungslosigkeit verharrt, und die Gegenforderung scheint mir im Begriff Bewegung, Dynamik am bündigsten zusammengefaßt.

 

Der Nationalsozialismus: »Bewegung« oder Obrigkeitsstaat?

Die Ursache der deutschen Unruhe wird aber nicht nur in einer behaupteten Erstarrung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und Politik gesehen, sondern auch im Festhalten spezifisch deutscher, restaurativ obrigkeitsstaatlicher Traditionen. Im politischen Denken dominierten restaurativ-obrigkeitliche Konzeptionen; auch die gesellschaftlich-politischen »Strukturen« — der Justiz, Schule, Verwaltung, Universität, Fabriken — verharrten in unerträglichem Ausmaß in vordemokratisch-autoritären Herrschaftsformen. Diese obrigkeitsstaatlichen Traditionen, die als irrationale »Herrschaft« in allen Institutionen aufzudecken Hauptziel der protestierenden Kritiker unseres Staates ist, werden im allgemeinen auch von denjenigen ungefragt akzeptiert, denen eine abgewogene Beurteilung unserer gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zukommen sollte. Daß der Nationalsozialismus ein fatales Endprodukt der obrigkeitsstaatlich autoritären Entwicklungstendenzen der deutschen Geschichte sei, ist in diesem Zusammenhang eine kaum je befragte Annahme. Ich möchte sie in Frage stellen, und man verzeihe mir, wenn ich auf einen gewissen Zusammenhang von biographischer Erfahrung und diagnostischem Scharfblick glaube aufmerksam machen zu sollen.

Immer wieder bestätigt sich mir die Beobachtung, daß, wer den Nazismus schon vor dem 8. Mai 1945 erkannt und gehaßt hat, sowohl den Nationalsozialismus wie auch die behaupteten restaurativ »faschistoiden« Tendenzen der Bundesrepublik völlig anders beurteilt, als wer — sei es auf Grund des Lebensalters oder welcher Gründe auch immer — sich diese nachträgliche Distanz erst nach dem 8. Mai 1945 angebildet oder angelesen hat. Ich kenne nur wenige, die das Naziregime aus eigener Anschauung fürchteten und die am Nazismus seine reaktionären, obrigkeitsstaatlichen oder antidemokratischen Tendenzen als so besonders bedrückend empfanden. War es nicht eher das Tyrannische, zwingend alles in Marsch Setzende, das Totalitäre im wirklich privat-existentiell erfahrenen Sinne, die Herstellung einer unentrinnbaren Wir-Atmosphäre, das Gefühl, daß ständig etwas geschieht, Aktionen bevorstanden — war es nicht dies, was die Menschen fürchten ließ? Der Stahlhelm war reaktionär, die SS wohl kaum. Herr von Papen war für den Obrigkeitsstaat, Hitler sicher eher für die levee en masse, genannt »Bewegung«. Es soll nicht bestritten werden, daß die nazistische Ideologie sich inhaltlich mit reaktionären Versatzstücken ausstaffierte: Blubo, den alten Germanen, Treuemythologemen, einem antiquierten Dienst- und Nationalethos. Aber wer hat das denn, von den Anhängern wie den Gegnern der »Bewegung«, so besonders ernst genommen?

Nie hätte der Nazismus die Deutschen für sich gewinnen können, wenn seine Anziehungskraft auf diesen »Glaubensinhalten« beruht hätte. Er wäre eine hinterwäldlerische Nationalposse gewesen — was er nun ganz gewiß nicht war. Gewiß hat sich die Nazibewegung von den alten autoritär-traditionalistischen Mächten, die sich dafür hergaben, gern die Steigbügel halten lassen. Aber wenn die Bundesrepublik heute im Vergleich zu England, Frankreich, ja selbst den USA die egalitärste, »durchdemokratisierteste« Führungsschicht aller westlichen Industriestaaten hat, so kann man doch nicht übersehen, daß dies nicht zuletzt die Folge der Taten Hitlers ist, der die profiliertesten Vertreter der alten Mächte, sobald sie sich gegen ihn wandten, in Hekatomben dem Henker überantwortete. Im Nationalsozialismus nur das Autoritäre, Obrigkeitsstaatliche zu sehen, aber das Element der Bewegung nicht sehen wollen, heißt ihn so gut wie überhaupt nicht erkennen. Wenn gegen die Etikettierung der studentischen Rebellion als »linksfaschistisch« eingewandt wird, daß faschistisch »immer nur das zu nennen sei, was diese Rebellen subjektiv und objektiv bekämpfen, die Verhärtung gesellschaftlicher Gruppen und Tendenzen zum undemokratischen Autoritären« (K. H. Bohrer, im Merkur, Heft 238), so spricht das der Realität des deutschen Faschismus Hohn.

Aber zurück zur Diagnose und Anamnesis unseres Patienten. Betrachten wir die konventionelle Krankengeschichte der deutschen Gesellschaft, wie sie den Analysen der linken Kritiker unserer Gesellschaft zugrunde liegen, einmal etwas näher. Danach gilt es als ausgemacht, daß der Großvater der Bundesrepublik, das Bismarckreich, an obrigkeitsstaatlichem, autoritärem Antidemokratismus verstarb. Das gleiche gilt für den unmittelbaren Vorgänger, also gewissermaßen den Papa der Bundesrepublik, die Weimarer Republik mit ihrem Fortsatz, mit dem es 1945 zu Ende ging. Daß der Widerstand gegen die demokratisch-fortschrittlichen Tendenzen der modernen Gesellschaft das Bismarckreich in den Untergang führte, ist für die liberalen und sozialistischen Kritiker ausgemacht.

In der gleichen Weise wird der Faschismus als Verzweiflungslösung der spätkapitalistischen bourgeoisen Gesellschaft verstanden, gestützt auf die autoritären Mächte der Vergangenheit: Heer, Bürokratie und Wirtschaftsführung. Mit beiden Systemen nahm es ein böses Ende, d. h. zwei eindeutige Fälle in der Familie: die Diagnose für die Bundesrepublik ist da leicht aufgemacht. Alles läßt darauf schließen, daß sie den gleichen Leiden erliegen könnte. An Symptomen, die man so klassifizieren könnte, fehlt es nicht: der autoritäre Adenauer, der diesen Staat formte, mangelnder Sinn für die Bedeutung und den Nutzen von Kritik und Opposition, Wiederaufleben von nationalistischem Denken, nicht zuletzt der Tatbestand der rechtsradikalen NPD. Die Notstandsgesetze waren für viele das Tüpfelchen auf dem i. Der alte deutsche Obrigkeitsstaat sammele seine Kräfte, schmiede die Waffen, um gegen Fortschritt und Demokratie zu Felde zu ziehen.

Was an dieser Krankengeschichte als erstes ins Auge fällt, ist, daß man über den Großvater, wenn ich so sagen darf, also über die Bismarckzeit, den Wilhelminismus hinaus nicht weiter nach rückwärts forscht. Diese Begrenzung des Interesses ist neueren Datums. Sie ist typisch für die zumeist geistes- und ideengeschichtlich uninteressierten Neuhistoriker und in die politische Wissenschaft verschlagenen Zeithistoriker. Während unmittelbar nach 1945 doch wenigstens einige Jahre lang in zum Teil tiefbohrenden Untersuchungen gefragt wurde, wie Deutschland, ein Land mit einer hohen geistigen Kultur, den — wie das Buch von Friedrich Meinecke hieß — Weg in »Die deutsche Katastrophe« hatte gehen können, und man die Anfänge einer besonderen deutschen Fehlentwicklung in der Herauslösung aus der westeuropäischen Tradition lange vor 1871 oder gar 1848 zu erkennen meinte, so werden solche Fragen heute fast nur noch von Ausländern zu stellen gewagt. Es mag sein, daß Untersuchungen, die das Ganze der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung in Frage stellten, diskriminiert wurden durch viele kurzschlüssige, die Dinge allzu sehr vereinfachende Linienzüge von Luther über Friedrich den Großen, Bismarck bis Hitler. Aber ist denn der Marxismus zufällig in Deutschland entstanden? Ist er denkbar ohne die Philosophie des deutschen Idealismus? Könnte eine Philosophie wie die Herbert Marcuses sich irgendwo anders entwickeln als im Umkreis sowohl des Protestantismus wie des Idealismus? So wie nach dem Ersten Weltkrieg große Denker wie Ernst Troeltsch die Fragen nach dem deutschen Sonderweg mit bohrendem Ernst stellten, hat man auch nach dem Zweiten Weltkrieg tiefer in eigentümliche Problemlagen der deutschen Geschichte hineingeleuchtet.

Eine Geschichtsschreibung Deutschlands, die nicht ständig von der Frage angetrieben wird, wie es in diesem Lande zum Nationalsozialismus hat kommen können, ist m. E. keinen Pfifferling wert. Man muß aber feststellen, daß die übliche deutsche Universitätshistorie der älteren, mittleren und jüngeren Historikergeneration genau wie die linken publizistischen Kritiker solche Fragen nicht mehr stellen beziehungsweise — das gilt für die linken Kritiker — sie in einem engen Soziologismus historisch ganz kurzatmig beantworten zu können glauben—und zwar einzig aus den besonderen deutschen Zusammenhängen von Kapitalismus und Obrigkeitsstaat. Seit 1955 huldigen die deutschen Historiker der Tendenz, den Deutschen ihre Geschichte zurückzugeben. Philosophie- oder religionshistorische Fragestellungen gehen seit vielen Jahren nie mehr hinter 1850 zurück, und die Maßstäbe des deutschen Abweichens aus der westeuropäischen Tradition sind einzig die der Französischen Revolution. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß manche unserer jungen Historiker durch einen idealistischen Balken im eigenen Auge sich den Blick verstellen auf viel Problematisches der deutschen Geschichte. Es ist für mich sehr kennzeichnend, daß unsere europäischen Nachbarn in der Analyse der Unruhe und des Unbehagens in diesem Lande fast unisono einig sind: es geht wieder los mit ihnen, den »unruhigen Deutschen«, ein Begriff, der schließlich nicht erst seit den letzten Monaten zum europäischen Vokabular gehört.

Man verzeihe mir eine paradoxe, an Onkel Bräsig anklingende Formulierung. Aber ich möchte die Frage doch stellen: Sollte die Ursache der deutschen Unruhe vielleicht in der Unruhe der Deutschen liegen? Die Ursache des Unbehagens im Unbehagen der Deutschen? Man wird mir zustimmen, daß »Unruhe« und »Unbehagen« im gegenwärtigen Deutschland Begriffe sind, um politische Tatbestände zu beschreiben. Aber man vergegenwärtige sich, daß es jedenfalls sehr viel schwieriger möglich ist, sie in eine andere europäische Sprache zu übersetzen und ihnen dabei einen politisch verständlichen Sinn zu geben. Unruhe und Unbehagen sind in allen anderen europäischen Sprachen Begriffe zur Erfassung von Privatstimmungen, wie Melancholie, Unzufriedenheit etc. Sie sind untauglich zur Erfassung öffentlicher Zustände. Wenn Sie das Vokabular der therapeutischen Heilmittel betrachten, die der Bundesrepublik gegen die Ursache der Unruhen empfohlen werden: Bewegung, schnelles Handeln, Tat, Innovation, so ist es jedenfalls alles nichts, was diesem Land seine Ruhe wiedergeben könnte. Und wie sollte das auch sein, wenn in der Ruhe, im Stillstand die Ursache der Unruhe gesehen wird?

Sicher ist es unbestreitbar, daß man die deutsche Kultur etwa im Vergleich zur englischen und französischen als eine des Gehorsams, ja des Parierens bezeichnen kann. Unterordnung unter die Obrigkeit, Befehl und Pflicht sind Zentralbegriffe der deutschen politischen Kultur gewesen. Aber schließen diese Begriffe eigentlich aus, daß die Deutschen bei aller auferlegten oder selbst auferlegten Zucht nichtsdestoweniger ein Volk der tiefen Unruhe, des tiefen inneren — wenn ich das Modewort gebrauchen darf — Engagements, ein Volk mit allen Fähigkeiten und Verwirrungsmöglichkeiten emotionaler Erregung sind? Es wird immer wieder gesagt, wir seien das Volk ohne Revolution. Das mag richtig sein für den politischen Bereich im engeren Sinne. Ganz unrichtig ist es sicher für den das Politische überlagernden Bereich des Geistes und des Glaubens. Eine Geistes- und Sozialgeschichte der Deutschen, die entlang der Kategorien Gehorsam und Pflicht geschrieben würde, würde doch so gut wie nichts vom besonderen Wesen der Deutschen offenlegen können. Sind wir denn nicht das Volk der vielen tiefen Brüche, der radikalen Formlosigkeit, des ständigen Infragestellens alles dessen, was bei viel Kräuseln an der Oberfläche in den westlichen Nationen viel unbefragter über die Generationen hinweg fortgeführt wird? Im Vergleich zu den großen deutschen geistigen Bewegungen sind die der romanischen und der angelsächsischen Nachbarvölker ausgezeichnet durch eine viel behutsamere und immer vorsichtigere Anpassung des Denkens an neue Umstände oder der Umstände an neue Gedanken. Die griechisch-römische Tradition der Philosophie der Mitte, der Mesotes, der Mediocritas hat in den romanischen Ländern und auch in England die geistigen Temperamente jedenfalls sehr viel stärker vor Exzessen bewahrt.

Ganz anders Deutschland, dessen »Maß« und »Zucht« nie frei von mystischer Zwangshaftigkeit war und ist. Unsere großen geistigen Bewegungen, die Reformation und der Idealismus, sind in sich selbst und in ihren Auswirkungen Brüche von einer Radikalität, denen die anderen europäischen Völker nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen haben. Das hat man außerhalb Deutschlands auch immer so gesehen. Vor der deutschen Zipfelmütze hat sich noch nie jemand gefürchtet, wohl aber vor dem Furor teutonicus, der deutschen Wildheit und Besessenheit, unserer Radikalität und Unfähigkeit zum Kompromiß. Der unsoziale, für Vermittlungen wenig begabte Grundzug des deutschen politischen Denkens sowohl in Luthers Reformation wie im Individualismus der deutschen idealistischen Philosophie mag nach politischen Kompensationen der Disziplinierung verlangt haben. Jedenfalls kann man kaum bestreiten, daß die beiden bedeutendsten geistigen Erscheinungen unserer neueren Geschichte eine entschiedene Absage an jene bedächtige Vernünftigkeit sind, die in der Tradition des Aristoteles und des Katholizismus Grundbestandteile der abendländischen Philosophie und Sozialstruktur gewesen sind. Wenn wir keine Tradition als Revolutionäre haben sollen, haben wir denn etwa eine solche als Reformer? Wollen wir nicht eher immer das Kind mit dem Bade ausschütten?

 

Deutschland — das Land Faustens oder Leberecht Hühnchens?

Ich möchte versuchen, einige Belege für meine These vorzubringen, daß ein Grundzug des deutschen Denkens nicht ein Übermaß an Ruhe und knechtischer Hingabe ans Gegebene ist, sondern eher ein Übermaß an bewegter Unruhe — sowohl im geistigen wie im weiteren politischen Bereich. Gewiß hat Luther gesagt, daß man der Obrigkeit gehorchen solle. Aber das ist doch nur die eine Seite der Medaille der protestantischen Reformation. Die andere ist die absolute Freisetzung des Individuums im Bereich des Glaubens und des Denkens gegen alle kirchliche Autorität. Der unsoziale Charakter des lutherischen Protestantismus im Vergleich schon zur Gemeindegläubigkeit der reformierten Calvinisten ist oft hervorgehoben worden. Nirgendwo sonst hat das Wiedertäufertum zu solch fanatischen Exzessen geführt wie in Deutschland. Die Autorität der katholischen Kirche ist eine Sache, die Unduldsamkeit, die erkenntnistheoretische Anmaßung des Protestantismus eine andere. Mit dem Luthertum beginnt in Deutschland jene Geistesrichtung, die ich als hermeneutische Leidenschaft bezeichnen möchte. Ich meine jene von gnostischem Fanatismus nicht freie Tendenz, à tout prix — auch dem Pakt mit dem Teufel! — zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die geringe Sympathie des Luthertums für die Muße, die Besinnung, ist der Hintergrund sowohl für die Radikalität des wissenschaftlichen Fragens wie für die besondere Intensität der beruflichen Hingabe, die wir als eine der weltgeschichtlich bedeutsamsten Auswirkungen der Reformation kennengelernt haben. Die besondere Form deutscher »Tüchtigkeit«, deutschen Fleißes, die rastlos schaffende Tätigkeit, die Außenstehenden als so befremdend unruhig am deutschen Wesen auffällt, das »Leben, um zu arbeiten«, ist zweifellos ein Erbteil des Luthertums.

Nicht weniger bedeutsam für die Tradition deutschen Denkens und Handelns ist die radikale Zerstörung der traditionellen Ethik und praktischen Philosophie durch Kant. Kant löste bekanntlich das zentrale Theorem der traditionellen Ethik und Politik, wonach es in diesen Bereichen um das Wollen des Guten geht, das natürlich nur mit Hilfe der Vernunft erkannt werden kann, ab durch die Postulierung des guten Willens als Zentralbegriffs von Politik und Ethik. Da eine schlechthin verbindliche, allgemeingültige Erkenntnis des Guten nicht möglich sei, verzichtet Kant auf jene vermittelnden Formen der zwar nur, aber eben doch relativ richtigen Erkenntnis des Guten, die kennzeichnend waren für die ganze Tradition der Politik und Ethik. Stattdessen die Freisetzung des vollkommensten Subjektivismus, sofern man nicht Kants Formel des kategorischen Imperativs als Ersatz hinnehmen will.

Zu welch befremdlichen Konsequenzen die Philosophie des guten Willens schon bei den unmittelbaren Nachfolgern Kants führte, zeigt Fichtes fanatische Philosophie der Tat. Und warum eigentlich hat unter den großen Dichtern unserer klassischen Epoche Schiller im Bewußtsein der Deutschen, vor allem im 19. Jahrhundert, immer den ersten Platz, Goethe den zweiten einnehmen müssen? Ich glaube, doch einfach deshalb, weil Goethe in jenem Drama der Deutschen, das er als einziges all seiner dramatischen Werke als eine Tragödie bezeichnete, im Faust, uns einen Spiegel vorgehalten hat, in den zu schauen uns wenig Freude macht. Der Faust ist das Drama der deutschen Unruhe, der Rastlosigkeit, des ständigen Ungenügens — alles wird ihm schal, nie findet er Ruhe und Erfüllung, stets drängt er weiter, als Erkennender hermeneutisch und als Täter in der Gestalt des homo faber. Im Pakt mit dem Teufel verpfändet er seine Seele für den Fall, daß er einmal sagen sollte: »Verweile doch, du bist so schön«. Und als er es am Schluß, nach ruchloser Tat, dann doch einmal sagt, da sinkt er tot zu Boden. Aber ist nicht gerade dieses — wenn man so will — Versagen die Ursache seiner Errettung?

Die deutsche Geistes- und Sozialgeschichte bis zum Beginn des vergangenen Jahrhunderts ist nicht dadurch gekennzeichnet, daß sie über die Grenzen Deutschlands hinaus — etwa in der Art der französischen Könige — Machtpolitik betrieben hätte. Dazu war das alte Reich in sich zu schwach und zerstritten. Aber mit dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts tritt Deutschland mit dem Anspruch auf nationale Einigung in den Kreis der europäischen Nationen ein, immer bemüht, seine Verspätung nachzuholen. Das vollzog sich nicht ohne besondere Anstrengung. Der deutsche Nationalismus von Fichte über den Turnvater Jahn bis zu Treitschke spricht eine besonders schrille Tonart. Und jene philosophische Richtung, die dann das Deutschland des 19. Jahrhunderts bestimmt hat (weniger Kant als Hegel) — was ist sie anderes als eine hemmungslose Philosophie der Bewegung nicht nur des Geistes, sondern dort, wo sie politisch relevant wurde, bei den Junghegelianern der rechten und der linken Observanz, eine bewußte, eine fanatische Philosophie der Tat, die im Marxismus ihre radikalste Ausprägung gefunden hat?

Heute, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, haben wir genügend Distanz zur Geistesgeschichte der letzten zweihundert Jahre, um sagen zu müssen, daß Marx und der Marxismus ja wohl doch die — soweit unsere Perspektive reicht (von China bis nach Kuba) — weltgeschichtlich bedeutsamste Gabe der Deutschen an diese Welt gewesen ist. Und was ist er, als die radikalste Absage an alle Traditionen nicht nur der Vernunft, sondern der Vernünftigkeit, ein Zerreißen aller Bande der Menschlichkeit mit den vagesten Ausblicken auf eine neue Humanität. Es ist heute Mode, im Marxismus das humanistische Element hervorzuheben. Das ist aber nur möglich, wenn man über jenen furchterregenden Fanatismus einen Mantel des Schweigens deckt, der nicht erst das Denken der Marx-Nachfolge kennzeichnet, sondern das eigentliche Fremdartige der Marxschen Denkweise selbst ist. Der fanatische Zynismus, die Rechthaberei, die Tat um jeden Preis, die aufgeregte Besessenheit, mit der Marx und seine Nachfolger überall das Gras der Notwendigkeit wachsen hörten, wo ist sie auf fruchtbareren Boden gefallen als in Deutschland? Das — wenn ich so sagen darf — expressionistische Element, die leidenschaftliche Maßlosigkeit des Marxschen Denkens ist richtig verstanden worden und kongenial aufgenommen nur in Rußland und in Deutschland. Der italienische, der französische Marxismus — vom angelsächsischen nicht zu sprechen — ist im Vergleich dazu seren-scholastisch, von langweiliger Vernünftigkeit bestimmt. Das expressionistische Philosophieren Ernst Blochs — wo kann es auf Sympathie zählen außerhalb Deutschlands?

Lassen wir den Marxismus beiseite, der im nachhinein doch als die bedeutendste deutsche Philosophie erscheint, und halten wir uns an die, die in den Philosophielehrbüchern als deutsche Philosophen nach Kant und Hegel erscheinen. Sind Nietzsche und Heidegger Philosophen mit Zipfelmütze, des Gehorsams, der Resignation, der Ruhe, der Langeweile? Nach Idealismus und Marxismus ist der Existentialismus als weiterer Zweig am Baum deutscher Radikalität wiederum ein spezifisch deutsches Geistesprodukt.

Mit dem Bismarckreich tritt Deutschland in den Kreis der um die Macht in der Welt rivalisierenden modernen Nationalstaaten ein. Mag Bismarck, selbst ein Mann alter Tradition, sich darum bemüht haben, dieses nervöse, mächtige Reich in das System der europäischen Politik einzuordnen, es sich gewissermaßen setzen zu lassen — seine Nachfolger waren nicht imstande, jene Unruhe, von der dieses Volk mit der beginnenden Industrialisierung und im Besitz einer großen militärischen Macht erfaßt wurde, zu bändigen und zu zügeln. Ja, im Gegenteil, jene Figur, die der ganzen Epoche den Namen gegeben hat: Wilhelm der Zweite, war er nicht ein irritierendes Bild deutscher Unruhe? Seine Rastlosigkeit, die Reiselust, die ewige Bewegung von einem Ort zum anderen, das Forcierte seiner Art, das schneidig Forsche, das ewige Säbelrasseln — vielleicht alles auf dem Untergrund von Schwäche, aber wer konnte das so genau wissen? — sie hat das Bild der Deutschen in der Welt geprägt, nicht die Filzpantoffeln und die Zipfelmütze Leberecht Hühnchens. Bei einem Blick auf die deutsche Sozialgeschichte der letzten 100 Jahre erscheint es geradezu grotesk, im deutschen Wesen quietistische Neigungen dominant zu sehen, die durch stärkeres politisches Engagement, durch politische Bildungsarbeit vielleicht noch gefördert, korrigiert werden müßten. Seit einem halben Jahrhundert zumindest, seit der Reaktion auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg, ist Deutschland unbezweifelbar ein Land der aufgeregtesten geistigen Unruhe, die sich in einem hektischen politischen Aktivismus niedergeschlagen hat.

 

Falsche Mischungen

Richard Behrendt, der aus der Emigration zurückgekehrte, heute in Berlin lehrende Soziologe, hat als ganz junger Mann, im Jahre 1932, eine wie ich finde bis heute kaum überholte Analyse zur Soziologie und Psychologie der damaligen Politik unter dem Titel »Politischer Aktivismus« veröffentlicht. Er verstand unter Aktivismus eine bestimmte, einem Menschen habituell eigene psychische Einstellung und soziale Haltung, welche generell unter allen Lösungsmöglichkeiten eines Problems diejenige bevorzugt, die die unmittelbare und am schnellsten und eindeutigsten Entscheidung bringende Tat herbeiführt. Er verstand diese Einstellung als eine typische, d.h. sie sei gewissen Menschen so weit eigen, daß deren Wesen und ihre soziale Auswirkung dadurch maßgebend beeinflußt werde. Hintergrund dieses bedeutenden Buches waren natürlich die aktivistischen Bewegungen im Deutschland der 20er Jahre, sowohl die von links wie die von rechts. Denn der radikale Aktivismus, der Kult der Praxis, wurde ja nicht nur von der Linken proklamiert, sondern im Kult der Bewegung, der befreienden Tat genauso von der Rechten. Die psychische Unausgefülltheit des modernen Menschen, dem Religiosität, Familie, auch der Beruf nicht mehr genügend Möglichkeit zur Erfüllung geben, lenkte ihn auf die politische Tat als am einfachsten sich anbietende Möglichkeit sittlicher Befriedigung. Was früher außerhalb aller Möglichkeiten lag, die Aktivierung großer Massen für politische Ziele, die Mobilisierung praktisch einer ganzen Nation, das sei unter modernen Umständen möglich geworden.

Von allen Begriffen, die sich anbieten, um die gegenwärtige Unruhe so präzis wie möglich zu beschreiben, würde ich, Behrendt folgend, mich für den Begriff »politischer Aktivismus« entscheiden. Auch Jürgen Habermas, der der studentischen Bewegung gewiß mit mehr Sympathie gegenübersteht als ich, hat seine Kritik, seine Befürchtungen an das bloß aktivistische, um das Ziel wenig besorgte Element der studentischen Bewegung geknüpft. Die hektische Suche nach Anlässen, um die studentische Bewegung in Gang zu halten, das Hochspielen von Trivialitäten, Ungeschicklichkeiten eines Rektors oder der Universitätsverwaltung, nur um die »Aktionen« im Fluß zu halten, ist eines der kennzeichnendsten Elemente der Vorgänge seit eineinhalb Jahren. Ganz okkasionalistisch, wie es sich gerade anbot, sah man heute im überkommenen Disziplinarrecht, morgen im Recht der Studentenwerke, in der Fahrpreiserhöhung städtischer Verkehrsbetriebe, in der überkommenen Form der Universitätsfeiern, schließlich in der »Drittelparität« Möglichkeiten, Vehikel, um die Protestbewegung in Gang zu halten.

Dieses Inganghalten der Aktivität ist, wie die Schriften der studentischen Protagonisten belegen, noch immer ihre Hauptsorge. Dabei ist ein rauschhafter Zug dieses Aktionismus nicht mehr zu übersehen. Für die an ihnen aktiv Beteiligten werden die studentischen Aktionen der letzten Monate, wie ich glaube annehmen zu müssen, unvergessen bleiben. Die prägende Kraft der Jugendbewegung, das Hohe-Meißner-Erlebnis, hat in diesem Jahrhundert in Deutschland kein ziviles Pendant gehabt (nur die verlorene Generation der Schützengräben des Ersten Weltkriegs ist damit vergleichbar). Täusche ich mich, wenn ich glaube, daß die ekstatischen Erfahrungen eines Sturms auf die Bastion des Pressezaren, die rhetorische Demütigung einer Magnifizenz vor einer studentischen Vollversammlung, die Grübelei um den Zusammenhang von Theorie und Praxis vor der nächsten Aktion oder auch die Befriedigung, der Büste des Sokrates einen BH angepinselt zu haben, zu den kaum zu vergessenden Erfahrungen tausender einzelner Individuen gehören werden? Und wenn nichts von der ganzen »Bewegung« bleiben wird als die kleine Erfahrung, wie leicht es ist, aus einer Magnifizenz, Spektabilität, oder dem »Herrn Minister« einen schlichten Herrn Meyer oder Schulze zu machen — »ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr«.

Man wird festhalten müssen, daß viele junge Menschen in der Aktivität der ASTAs, ihrer studentischen Gruppen, einen Lebensstil gefunden haben, den sie für eine unabsehbare Zukunft dem bürgerlichen, der solche erfüllte Aktivität verwehrt, als Ideal gegenüberstellen werden. Es mag sein, daß die studentische Bewegung in Resignation versackt. Die auf der Strecke zurückgebliebenen Resignierten werden sich aber doppelt frustriert um die Bemühung und um den Preis ihrer Aktivität gebracht empfinden. Ich zweifle, ob Resignation und bürgerliche »Anpassung« die allgemeine Antwort sein wird. Eine vor nichts zurückschreckende anarchistische Gruppe wird mit Sicherheit zurückbleiben. Es ist also nicht nur das utopische Element in der studentischen Bewegung, das auf mich bedrückend wirkt, das empfinden auch die liberalen Kritiker; sondern gerade das, was von den liberalen Kritikern so gepriesen wird: das »Engagement«, der »Elan«, die vor nichts sich scheuende »Einsatzbereitschaft«. Ich kann es nicht verhehlen, ich mag diese Worte nicht.

Ist denn der Pragmatismus der Generation, die 1945 aus dem Krieg kam, einer Generation, die gesehen hatte, wohin der bloße idealistische Aktivismus führt, nicht eine der großen Hoffnungen der deutschen Nachkriegsentwicklung gewesen? Ist hier, nachdem Generationen deutscher Politik sich den Blick durch Selbsttäuschung hatten trüben lassen, nicht endlich ein wenig Nüchternheit in das deutsche Denken und Handeln hineingekommen? Mir scheint, daß es genau diese Nüchternheit ist, die weiß, daß sich in dieser Welt alles eng aneinander stößt, daß man sich in vielem bescheiden muß, daß nicht nur im öffentlich-politischen Bereich, sondern auch im Privaten menschliche Erfüllung gesucht werden muß — ist das alles wirklich so schal, mies, kleinlich, verklemmt, »privatistisch«, wie es die Kritik heute hinstellt? Der Verfasser ist politisch kein Freund Adenauers gewesen. Aber ist die Kargheit seines Stils, sein Verzicht auf alle Flausen und Schönrednereien nicht ein erfrischender, wirklich humaner Gegenzug im neueren Lauf der deutschen Geschichte gewesen?

Der Haß, auf den Adenauer bei deutschen Intellektuellen schon zu seinen Lebzeiten stieß, war der Vorbote der gegenwärtigen studentischen Bewegung. Denn es war genau seine Nüchternheit, seine, wie man es verstand, schwunglose Ideenarmut, das ästhetisch und emotional so gar nicht Erhebende, was an ihm fremd und abstoßend wirkte. Er konnte die Phantasie nicht beschäftigen. Aber kann das ein Vorwurf gegen einen Politiker sein? Ich habe den Eindruck, daß die Deutschen einmal wieder beginnen, unfähig zu werden, die Trennungslinie von Öffentlichem und Privatem zu erkennen. Eines der ersten theoretischen Warnzeichen vor der Heraufkunft der totalitären Tyrannis, Helmut Plessners »Grenzen der Gemeinschaft« von 1929, erkannte die deutsche Versuchung in dieser »grenzenlosen« Vermengung der politischen und der privaten Sphäre, dem Verlust der Einsicht, daß die Kategorien, die im politischen und öffentlichen Bereich maßgebend sind, andere sind als die, unter die man das private Leben stellen mag. Diese Trennungslinie festzuhalten, ist in der vergesellschafteten Welt der Moderne sicher unendlich schwieriger als in der liberalen bürgerlichen Gesellschaft von gestern. Gehalten werden muß sie trotzdem. Die eilige Denunzierung des privaten Strebens nach dem »kleinen Glück« der Wohlstandsgesellschaft, um im Jargon der Kritiker zu reden, ist tendenziell totalitär — und auch sehr deutsch. »Helden und Händler« — das war ein deutscher Titel; die Literaten der »antiautoritären Bewegung« schreiben nur die sozialistische Paraphrase dazu.

Ich sagte schon eingangs, daß zum Befremdlichsten an der gegenwärtigen Protestbewegung ihre ästhetisierenden Untertöne gehören. Die Welt, in der wir leben müssen, ist nicht schön. Ihre Schönheit soweit wie möglich zu erhalten, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben der Politik. Ich bezweifle aber, ob sie sie produktiv fördern kann. Das bloße Anstoßnehmen an ihrer Häßlichkeit, die schlichte Forderung nach einer freieren, schöneren Welt, das bleibt expressionistische Rhetorik, wenn eine aktivistische Bewegung an künstlerischen Impulsen so arm ist wie die gegenwärtige deutsche Protestbewegung. Daß man diese Welt schal, langweilig, öde, trist, mies findet, daß sie einen unerfüllt läßt, das ist doch alles privat und politisch nicht sehr relevant. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Stimmungshintergrund und auch die Richtung der Kritik, die gegenwärtig in Deutschland geäußert wird, sich nur noch in Nuancen unterscheidet vom Stimmungsaktivismus jener linken Leute von rechts, die in den zwanziger Jahren in Ernst Jünger eine Zeit lang ihren Wortführer fanden. Auch damals wollte man Revolution machen, das Bestehende wegfegen, den verwesenden bürgerlichen Staat zerstören. Auch damals hatte man es mit dem Wegfegen, dem Zerschlagen — Vokabeln, die den Wortführern der neuen »Bewegung« so leicht über die Lippen kommen. Aber genau wie heute war man auch damals unfähig, sich präzis darüber auszudrücken, was für ein Stück denn nun gespielt werden solle, wenn die alte Theaterdirektion einmal vertrieben war. Damals wie heute war die Revolution das Ziel der Bewegung. Und zwar eine hundertprozentige — nichts schien erhaltenswert, alles mußte fortgeräumt werden, kein Steg durfte bleiben, der mit dem Vergangenen verknüpft. Aber warum eigentlich kann nur auf kompletten Trümmern neu gebaut werden? So wenig wie im pathetischen Schrifttum der zwanziger Jahre vermag ich in dem der Revolutionäre von heute eine andere Begründung dafür zu finden, als den äußersten Haß wider die Bürgerlichkeit — Bürgerlichkeit nicht nur in ihrem soziologischen Sinn, sondern als Antithese zu einem bestimmten Begriff von Humanität. Die Öde, die Langeweile, die Temperamentlosigkeit, die Wohlanständigkeit, das sind alles ästhetische Kategorien, mit Politik haben sie wenig zu tun. Denn die Aufgabe der Politik kann nie etwas anderes sein als die Schaffung eben eines gesicherten Kreises von Bürgerlichkeit, von Ordnung, von Ruhe, von Sicherungen der Privatrechte, in denen der Einzelne nach seinem Gusto, nach seiner Fasson leben mag, wie er will und wie er es für schön und richtig findet.

In einem der großartigsten Zeugnisse für die letzten Jahre der Weimarer Republik, in Leopold Schwarzschilds »Tagebuch«, lese ich eine Kritik an Ernst Jünger, die man Wort für Wort den vitalen Helden unserer Tage ins Stammbuch schreiben möchte. Da heißt es bei diesem nüchtern-klugen, dabei wahrlich nicht temperamentlosen intellektuellen Juden:

Man kann in dieser Welt nicht alles vereinen. Man kann nicht Asket sein und Don Juan zugleich, obgleich beides mystisch und ästhetisch schön ist. Man kann nicht Bier brauen und zugleich Temperenz predigen, obwohl beides sich verteidigen läßt. Man kann nicht die Demut des Wirkens für einen Verband mit dem Rausch unverbundenen Aventurismus verkoppeln. Ich bin für Abenteurer, sie könnten herzerquickend sein, ganze, wilde, dämonische Kerle. Sie mögen in Afrika Neuland entdecken, sie mögen in Costarica Bananenwälder pflanzen, sie mögen in Monte Carlo ihr Hab und Gut auf zwei Kartenblätter setzen — aber sie mögen in dieser privaten Sphäre bleiben. In der Gesellschaftssphäre, in der Volkssphäre, handelt es sich um anderes. Wer Nationalist sein will, Diener der Nation, hat nicht mehr an seinen privaten Lebensstil zu denken, sondern an die Lebensvoraussetzungen der Millionen Menschen, die sich unter dem verführenden Namen Nation verbergen. Es sind die Voraussetzungen der Ordnung — irgendwelcher! — nicht der Abenteurerei, nicht des Elementaren. Insoweit der Mensch Teil der Nation ist — er ist keineswegs mit allem nur dies! — hat er den Anspruch darauf, daß sie ihm die Primitivitäten sichere, zu deren Sicherung sie existiert: Nahrung, Rechtssicherheit, Schutz gegen Gewalt und einige diffizilere Dinge. Nicht aber darf die Nation verindividualisiert werden. Nicht darf man sie als Person auffassen, die zu einem Lebensstil hingerissen werden dürfte, den sie — da sie eben nicht Person, sondern nur ein Netz feinster Beziehungen und Bedingungen ist — ohne schwere Verwirrung dieses Netzes nicht überstehen kann. Und nicht darf man, vor allem, dieser nicht existierenden Person den Lebensstil aufzwingen wollen, den man der eigenen Person gemäß findet. . . . Diejenigen, die ihren privaten Lebenstrieb naiv auch ihrem Volk einimpfen wollen, ihre privaten Erfüllungen in mystischer Verwechslung auch für die Erfüllung einer Gemeinschaft halten, haben noch nicht das ABC der Menschheit erfaßt. (Die letzten Jahre vor Hitler, Hamburg 1966, S. 38 f.)

Wenn man das bedenkt, so erscheint es mir für die Möglichkeiten, die in der gegenwärtigen deutschen Unruhe stecken, überaus kennzeichnend zu sein, daß das quietistische Element, wie es in allen anderen Industriestaaten — wenn ich es recht sehe — durch die Hippiebewegung repräsentiert wird, in der deutschen Protestbewegung so gut wie völlig fehlt. Bei uns, und das unterscheidet die deutsche Lage radikal von der amerikanischen studentischen Bewegung, dominiert einseitig das aktivistische Protestelement, das die Gesellschaft à tout prix verändern will, einen bestimmten, privat vielleicht schönen und ehrenwerten Lebensstil der Gesellschaft als ganzem oktroyieren möchte. Leopold Schwarzschild kannte den Begriff nicht, aber wir kennen ihn: das ist totalitär. In der studentischen Bewegung, mit dem Aktivismus eng verknüpft, beginnt eine tief illiberale Tendenz zu dominieren. Die intolerante Unduldsamkeit, die Unfähigkeit, miteinander zu diskutieren, das Alles-schon-so-genau-Wissen, die Irrationalität trotz ständigen Zitierens der Rationalität — ich glaube, man kann vor ihnen nicht mehr die Augen verschließen. Ich bin außerstande, in der deutschen Unruhe eine Hoffnung zu sehen.