Internetkolumne – Das Buch als Geldbäumchen

von Kathrin Passig

Ich war der beste Freund der Buchbranche. In meiner Kindheit herrschte Büchernot − die Stadtbücherei war nur mit dem Auto zu erreichen, alle zwei Wochen brachte man mich hin, aus pädagogischen Gründen durfte ich nicht mehr als vierzehn Bücher entleihen. Später lieh ich nicht mehr gern, ich kaufte lieber, und ich kaufte viel.Wenn ich es mir leisten konnte, griff ich zur bibliophilen Ausgabe. Diese Zeiten sind fort, für immer fort und ganz vergangen. Ich habe es nicht gleich bemerkt, es war ein schleichender Prozess.
Als ich dreiundzwanzig war, nahm das Internet allmählich Form an. Ich hörte auf, Zeitungen auf Papier zu kaufen, aber an meinem Verhältnis zu Büchern änderte sich wenig. Einige Jahre lang arbeitete ich nebenbei in einer Buchhandlung, in der ich Mitarbeiterrabatt bekam. Meine Einnahmen setzte ich in Bücher um wie ein dealender Junkie. 1998 endete diese Phase, Amazon kam nach Deutschland, und abgesehen von einigen Bahnhofs und Flughafenkäufen betrat ich danach keine Buchhandlung mehr.
Lange Zeit kaufte ich weiterhin alles, was mir interessant erschien, aber immer mehr Regalfächer füllten sich mit Ungelesenem.Wäre ich in dieser Zeit von einem Marktforschungsunternehmen befragt worden, ich hätte keine großen Veränderungen meines Leseverhaltens zu Protokoll gegeben. Ebenso wie die Buchbranche maß ich meine Einstellung zum Bücherlesen der Einfachheit halber am Kaufvolumen. Erst als ich eines der vielen virtuellen Bücherregale benutzte, in denen Leser notieren, was sie zu lesen gedenken, gerade lesen oder beendet haben, war das Auseinanderklaffen meines Kauf- und meines Leseverhaltens nicht mehr zu beschönigen: Ich las noch knapp drei Bücher im Monat zu Ende.
Mein Interesse am physischen Besitz neuer Bücher hatte schon länger nachgelassen. Ich hatte die Erinnerung an die Zeiten des Mangels überwunden und brauchte nicht mehr in meinem Buchbesitz zu baden wie Dagobert Duck, der sich die Talerchen auf die Glatze prasseln lässt. Gleichzeitig hatten sich die Schattenseiten des Buchbesitzes bemerkbar gemacht. Obsessive Buchkäufer stehen früher oder später vor der Wahl, in eine größere Wohnung zu ziehen oder ihr Verhältnis zum Buchbesitz zu überdenken. Ich entschied mich gegen einen Umzug und überließ meine Bücher dem »Berliner Büchertisch« − zuerst die ungeliebten, danach das Mittelfeld, am Ende auch die Schätze. Wo ich früher in Nick-Hornby-Manier sortierte und umsortierte, gibt es heute keine Systematik mehr. Ich finde nichts im Regal, suche dort aber auch nichts mehr. Was ich zitieren will, schlage ich im Netz nach, selbst wenn ich das Buch noch besitze und es nur ein paar Schritte zum Regal wären.
Der Autor Cory Doctorow schrieb 2006 in Forbes: »Die meisten Menschen sind keine Leser und werden nie welche sein − aber wer ein Leser ist, wird immer einer bleiben, und diese Menschen hängen am bedruckten Papier wie Fetischisten.« Mag sein, dass Leser immer Leser bleiben, schließlich bringe ich wie vor zwanzig Jahren den größten Teil des Tages mit Texten zu. Aber das Papier als Material wie auch das Buch als Form haben ihren Reiz für mich weitgehend verloren. Und wenn ich das Interesse am Buch verlieren konnte, dann ist niemand davor gefeit.
Spekulationen über die Zukunft des Buchs, die sich nur mit der Umstellung vom analogen auf den digitalen Konsum beschäftigen, greifen daher zu kurz. Die Stellungnahmen aus der Buchbranche handeln vom E-Book als ergänzender Darreichungsform derselben Inhalte wie bisher, die auf dieselbe Art, aus denselben Gründen und in denselben Situationen gekauft und konsumiert werden sollen. Das eigentliche Thema aber wären Veränderungen der Lesegewohnheiten, der Gründe für Buchkäufe, der sozialen Bedeutungen von Buchlektüre und -besitz. Dass das E-Book-Geschäft in Deutschland im Jahr 2010 allmählich in Gang kommt, ist nur ein Aspekt schon länger stattfindender Umwälzungen, die über die Papierfrage hinausgehen.
Es gäbe Präzedenzfälle, an denen man erkennen könnte, dass Argumente wie jenes vom Wohlgeruch neuer Bücher oder vom Sand, der nach dem Urlaub aus den Seiten zu rieseln habe, langfristig nur eine kleine Käuferschicht beschäftigen. Sowohl die Leser als auch die Werbekunden von Zeitungen und Zeitschriften hingen weniger als gedacht an den gewohnten Inhalten in der gewohnten Darreichungsform. In der Musikindustrie stellte sich heraus, dass der Wunsch der Kunden nach dem Plattencover als Kunstform, nach ganzen Alben, unkomprimierten Datenformaten, persönlicher Beratung, dem »warmenKlang« von Vinyl oder dem physischen Besitz von CDs nicht so ausgeprägt war, wie man angenommen hatte. Auch die Buchbranche lebt nicht in erster Linie vom Verlangen der Leser nach dem haptischen Papiervergnügen, nicht vomWunsch nach dem spezifischen Format »Buch« und noch nicht einmal vom Wunsch der Käufer, überhaupt Bücher zu lesen. Falls Verleger, Autoren, Buchhändler und Branchenverbände sich dessen bewusst sind, lassen sie es sich zumindest in der Öffentlichkeit wenig anmerken.
In der Debatte um die Zukunft des Buchs tauchen maximal zwei Gründe für den Kauf von Büchern auf: der Wunsch nach Unterhaltung und der nach Information. Aber Bücher erfüllen mehr als eine Funktion, und das nicht nur, weil ein Reiseführer anderen Zwecken dient als ein Roman. Häufig geht mit dem Kauf die Illusion einher, man eigne sich mit dem Papier auch gleich die Inhalte an; ein Buchkauf kann gefühlt die Lektüre vollständig ersetzen. Bücher dienen als Geschenk, sie zieren die Wohnung, sie verleihen Status, sie helfen bei der Identitätskonstruktion, sie werden aus schlichter Gewohnheit erworben, aus Sammeltrieb, um des Kaufvergnügens willen oder weil der Leser sich dem Autor näher fühlen möchte. Alle diese Funktionen reagieren unterschiedlich auf Veränderungen der Rahmenbedingungen.
Sobald das Lesen nicht mehr zwingend ein physisches Medium erfordert − und das ist schon seit vielen Jahren der Fall −, wird das Besitzen von Büchern uninteressanter. Wenn das Bücherregal nur noch unvollständig abbildet, was der Inhaber alles gelesen hat, weil ein Großteil dieser Lektüre ebenso in papierloser Form stattgefunden haben kann, lässt seine Attraktivität als Einrichtungsgegenstand nach. Unter anderem aus diesem Grund war das private Horten und Zurschaustellen bei Filmen noch nie eine weit verbreitete Praxis. Filmbesitz in größerem Umfang war und ist eine Sache für Spezialisten. Der Besitz von Büchern wird es in absehbarer Zeit wieder werden.
Zum Anstoßen eines solchenWandels in der Inneneinrichtung genügt es schon, wenn das Interesse anderer Menschen am Buchbesitz nachlässt. Die ökologische Nische der Selbstdarstellung via Bücherregal wird von der Selbstpräsentation im Internet gefüllt, die zu geringeren Kosten viel feinere Differenzierungsmöglichkeiten eröffnet. Das betrifft sowohl die Selbstdarstellung anderen gegenüber als auch die Vergewisserung über die eigene Identität. »Zwischen 20 und 28 war ich sehr stolz auf meine Bücher«, schreibt mein Koautor Aleks Scholz, »damals hatte ich noch kein Internet zu Hause. Ich stand oft abends davor, ging an ihnen entlang und sie gefielen mir. Dann nahm ich eines heraus und las darin, nach genussvollem Auswahlprozess. Die Bücher waren eine Verlängerung meiner Persönlichkeit, sie trugen zu dem bei, was ich sein wollte. Ich habe sie imWesentlichen gekauft, weil ich jemand sein wollte, der diese Bücher besitzt. Seit meinem Umzug nach Kanada hatte ich kein Buch mehr bei mir. Ich habe sie nie vermisst.«

(…)

Möchten Sie weiterlesen?

Testen Sie jetzt den Merkur im digitalen Probe-Abo. Oder erwerben Sie den Artikel für 2 € als Download in unserem Volltextarchiv. Sie sind schon Digital-Abonnent? Hier einloggen, um weiterzulesen.

Zurück zur Artikelübersicht.