Heft 847, Dezember 2019

Abschied von Delitzsch

von Hans Dieter Schäfer

Obwohl ich noch nicht in der achten Klasse war, sagte die Deutschlehrerin bei der Rückgabe eines Aufsatzes beiläufig: »Die gute Note nützt dir nix, denn du kommst nicht auf die Oberschule.« Dabei tippte sie auf mein Schulheft. Das Foto auf dem Umschlag zeigte im Vordergrund ein Mädchen mit Hammer und Metallbolzen an einer Werkbank. »Wir werden Facharbeiter«, stand in weißen Buchstaben darüber, die Unterschrift versicherte: »Wir dienen dem Aufbau und der Verteidigung des Friedens.« Einige Wochen später nahm mich unser Russischlehrer Herr Töpper beiseite. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, wiegelte er ab und gab mir den Rat, aus der Jungen Gemeinde aus- und in die Jungen Pioniere einzutreten.

Der Lehrer, der gleichzeitig Vorsitzender der Deutsch-Sowjetischen Gesellschaft war, beauftragte mich, an der Feier zum Vorabend des 1. Mai 1952 in der Aula der Oberschule mitzuwirken. Nach seiner Rede trat der Sohn eines Klassenfeinds auf die Bühne und trug die Verpflichtung der russischen Aktivistin Tamara S. vor, die Herstellung von Baumwollstoffen zu verdoppeln. Die Laienspielgruppe der FDJ baute ein Zelt auf, vor dem Bauern der neuen Produktionsgenossenschaften über den Zeitpunkt der Ernte diskutierten. Junge Frauen kletterten zwei Klappleitern hoch und taten so, als ob sie Getreidebündel von oben zum Drusch in eine Maschine schoben, während die Spieler im Chor ein Lied über Traktoren im Einsatz sangen.

Anfang des Jahres hatte die SED damit begonnen, Bauern des Kreises mit ihren Familien von den Höfen zu vertreiben – entweder begründete man die Enteignung mit der Nichterfüllung des Solls oder sprach ihnen die Fähigkeit zur Führung eines Betriebes ab. »Werktätige Bauern und Landarbeiter! Folgt dem Beispiel der Brigade Ferdinand Kunz! Der Bevölkerung mehr Fleisch, Milch und Fett!«, forderte ein Spruchband, das von Oberschülern ausgerollt wurde.

Den Abschluss der Feier bildete die Preisverleihung für Werktätige, die das Soll übererfüllt hatten. Dann verteilte der Parteisekretär Auszeichnungen an einige Schüler und heftete auch an meinen Jackenaufschlag das Abzeichen »Für gutes Wissen« der Jungen Pioniere. Hätten wir nicht ein Jahr später die DDR verlassen, wäre es vermutlich ein leichtes Spiel gewesen, aus mir einen unzuverlässigen Informanten zu machen, weil ich von der Werkbank verschont bleiben wollte.

Der Umzug zum »Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen« stoppte am Roßplatz, wo eine Solidaritätserklärung mit dem Brudervolk aus Nordkorea verlesen wurde. Auf einer weißgestrichenen Bretterwand hatte man in Schwarz US-Flugzeuge gemalt, die Napalmbomben abwarfen; Kreuze mit Zahlen markierten die Opfer unter der Zivilbevölkerung – dass der Norden den Süden überfallen und die gesamte Halbinsel bis auf die Enklave um Busan erobert hatte, wurde verschwiegen.

Weil alle in der Schule eine Freimarke für den Rummel bekamen, liefen wir beim Umzug mit, allerdings auf dem Bürgersteig, die Hände in den Hosentaschen. »Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille«, flüsterte mir mein Banknachbar zu, als die Gesichter von Ulbricht, Pieck und Grotewohl an uns vorbeigetragen wurden wie Heiligenbilder bei einer Prozession. Birken, die in wassergefüllten Konservendosen standen, schmückten die Häuserwände, während unter den Fensterbänken rote Tücher hingen. Etwa 7000 Menschen versammelten sich zur Abschlusskundgebung auf dem Markt, der jetzt Stalinplatz hieß, aber es dauerte nicht lange, da lösten sich die Formationen an den Rändern auf, obwohl der Fanfarenzug mit Trompeten und Trommeln Aufmerksamkeit erzwingen sollte. Einige der Demonstranten neben uns rauchten, andere unterhielten sich mit den Nachbarn. Bürgermeister Heinze sprach über den Stand des Wiederaufbaus der Zuckerfabrik und verglich das Rot der Fahnentücher mit dem Blut, das Arbeiter und Bauern der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg für die Zukunft Gesamtdeutschlands geopfert hätten.

Am Nachmittag tauschte ich auf dem Rummelplatz meine Freimarke für eine Wundertüte ein; die Überraschung bestand aus einem Ring aus Kunststoff mit einem echten Glasstein in der Mitte, der unter abgestempelten Briefmarken und Dragees zum Vorschein kam. Ein Bonbon im Mund schlenderte ich zum Hundetheater, vor dem der Budenbesitzer einen Pudel mehrfach durch einen Holzreifen springen ließ. Beim Hinausgehen traf ich Helga. Wir gingen an den Rand des Platzes zu einer Böschung und teilten uns die restlichen Dragees. Das Gras unterhalb war schwarz, denn ein Wagen der Schausteller hatte am Vorabend Feuer gefangen. Verrußte Eisenstangen wölbten sich über dem Fahrgestell, während noch immer Wasser aus einem Hydranten zu einem Rinnsal zusammenlief. Durch die Budenreihen zog ein kleinwüchsiger Clown mit gescheckter Pluderhose eine gleichgroße Ziege hinter sich her und machte mit einem Schild auf Brust und Rücken Reklame für die Liliputaner-Schau.

Helga gehörte zum Klassenfeind, denn sie war die Tochter des Molkereidirektors Thießen, der uns gegen Zigarren Butter, Käse und manchmal auch Speiseeis lieferte. Ich tat mich schwer, in der Schiffsschaukel die Bewegungen zu synchronisieren, denn bei jeder Talfahrt musste man in die Hocke gehen und sich bei der Bergfahrt kerzengerade aufrichten. Das Mädchen war kräftiger als ich, hatte aber am Handgelenk einen Verband von einer Muskelzerrung beim Völkerballspiel. Schließlich gelang es, uns beide aufzuschaukeln. Von oben sahen wir, wie das Kettenkarussell seine Sitze schräg nach außen gestellt über die Menge drehte, unten angekommen landete die Gondel jedes Mal vor einer Tafel, die für einen Blick durch stereoskopische Bilder warb.

Den Rummelplatz gibt es nicht mehr. Heute stehen dort Wohnungen. Die Partei hatte sie für Familien aus den Dörfern gebaut, die durch den Tagebau vernichtet wurden. Auf der Securiusstraße überholten uns einzelne Blauhemden aus dem Karl-Marx-Haus; manche führten in Futteralen ihre Schalmeien mit, die das Bekenntnis zum Frieden mit Marschrhythmen bekräftigt hatten. Wir bogen in den Stadtpark ein und gingen zum Heiligbrunnen. Auf dem Wasser schwammen Seerosen, zwischen denen Helga Frösche vermutete, doch als sie einen Stein hineinwarf, machte sich keiner bemerkbar. Wieder auf der Straße schien es, als ob der Himmel über dem Platz von Minute zu Minute heller würde. Das erneute Vorhandensein der Musik von den Karussells verstärkte die Offenheit der Atmosphäre. »Das sind die Caprifischer«, sagte ich und sah die Sonne im Meer untergehen.

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