Ästhetikkolumne
Ästhetische Qualität von Jan BrevernEtwas ratlos stehen wir in der Kantine des Paul-Löbe-Hauses im Berliner Regierungsviertel. Wir, das sind eine Gruppe Studenten und ihr Dozent, Teilnehmer eines kunsthistorischen Seminars zum Thema »Orte der Kunst«, zu Besuch in der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung und Leiter des Referats »Kunst im Deutschen Bundestag«, hat uns durch die Gebäude geführt. Allein im Bereich »Kunst am Bau« gibt es hier Werke von über hundert Künstlern zu besichtigen; mehr als viertausend Objekte enthält zudem die ständig wachsende Artothek, aus der sich Abgeordnete Werke für ihre Büros ausleihen können.
Wir sind an einem LED-Laufband von Jenny Holzer, zwei Neonwandskulpturen von Neo Rauch, einigen Nagelbildern von Günther Uecker und einer großen Wand korrodierter Blechkisten von Christian Boltanski vorbeigelaufen. Alles sehr solide und dem ähnlich, was man auch in zahlreichen Museen für zeitgenössische Kunst zwischen Denver und Düsseldorf präsentiert bekommt. Was die Studenten während des Rundgangs besonders interessierte: die Auswahlkriterien, nach denen Kunst für den Bundestag angekauft wird. Seit 1995 entscheidet darüber ein eigenes Gremium, der Kunstbeirat, dessen Vorsitz der jeweilige Bundestagspräsident innehat und dessen Entscheidungen im Regelfall nicht der weiteren Zustimmung des Parlaments bedürfen. Aber wie wird entschieden? Letztlich, erläuterte uns Kaernbach, zähle ausschließlich die »ästhetische Qualität« der Werke.
Und nun befinden wir uns in der Kantine, ausgestattet vom kubanischen Künstler Jorge Pardo. Von der Decke hängen spacige Lampen mit bunten Plastikschirmen, die Holzstühle und -tische – ebenfalls Entwürfe des Künstlers – sind mit geschwungenen Intarsien versehen. Der Tagesspiegel hatte dem zuweilen liebevoll »Lampenladen« genannten Raum schon mal eine Atmosphäre »wie im schwedischen Möbelkaufhaus« bescheinigt. Frage an den Kurator: Ob die Restaurantbesucher denn merken würden, dass sie hier nicht einfach in einer flott designten Inneneinrichtung speisten, sondern in einem Kunstwerk, zumal einem ästhetisch besonders wertvollen? Kurzes Zögern. Dann: »Ja. Gute Kunst erkennt man.«
Erkennt man gute Kunst? Wenn ja, woran – an ihrer »ästhetischen Qualität«? Aber was ist ästhetische Qualität? Allem Anschein nach diejenige Eigenschaft, die Kunst zu guter Kunst macht. Also erkennt man gute Kunst daran, dass sie gut ist? Wenn man doch nur wüsste, wer dieser »man« ist, dem dieses kleine Kunststück offenbar so mühelos gelingt!
Zwei weitere Szenen zu »ästhetische Qualität«. Erstens: Ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Maler Balthus, dem 2018 eine Ausstellung in der Fondation Beyeler gewidmet war. Erkennbar sympathisiert die Autorin mit der Forderung einiger Aktivistinnen, Balthus’ Gemälde aus den Museen zu entfernen, weil sie junge Mädchen sexualisierten.1 Warum, wird hier gefragt, hat es dieser Maler in die Museen geschafft, während so viele andere, formal mit ähnlichen Mitteln arbeitende Künstler seiner Generation vergessen wurden? Dann aber nimmt die Argumentation eine erstaunliche Wende, denn auf einmal argumentiert die Autorin nicht mehr ethisch, sondern »ästhetisch«. »Was ist die ästhetische und kunsthistorische Relevanz dieses Werkes jenseits des Voyeurismus?«, lautet die Frage – die ja im Umkehrschluss suggeriert, dass die inhaltlichen Bedenken gegen Balthus wegfallen könnten, sobald seine ästhetische oder kunsthistorische Relevanz nachgewiesen wäre. Und tatsächlich wird dann dafür plädiert, endlich ein »Kriterium zurück in kuratorische und kunstwissenschaftliche Diskurse« zu holen, das lange als obsolet gegolten habe: »das der ästhetischen Qualität«.
Zweitens: Eine Tagung zur wachsenden Macht privater Kunstmuseen an der Technischen Universität Berlin, ein gutes Jahr zuvor. Auf dem Podium: Wissenschaftlerinnen, Sammler, Kuratorinnen. Es besteht Einigkeit darüber, dass sich die staatlichen Museen in der Defensive befinden und dass Handlungsbedarf besteht. Dabei wird viel von Qualität gesprochen. Sie sei das Pfund, so heißt es, mit dem die deutschen Kunstmuseen wuchern könnten. Um diese attraktiver zu machen, müsse man sich allerdings, so die Leiterin der Staatsgalerie Stuttgart, Christiane Lange, »noch mehr auf Qualität« besinnen. Jemand fragt aus dem Publikum, ob »Qualität«, bezogen auf Kunst, nicht selbst ein irreführender und autoritärer Begriff sei, der vielleicht eher zum Problem beitrage als zu seiner Lösung? Die Frage wird nicht verstanden.
Überwindung eines jeden Kanons
Was irritiert mich so am Sprechen über ästhetische Qualität? Vielleicht ist es die Selbstverständlichkeit, mit der sie eingefordert wird, die Sicherheit, mit der sie als Entscheidungsgrundlage für Ankäufe und Hängungen dienen soll – als ob »Qualität« eine den Kunstgegenständen inhärente Eigenschaft wäre. Als ob man nur genau hingucken, sich nur ein bisschen auskennen müsste, und es einem dann wie Schuppen von den Augen fiele: Ah, diese grünen Leuchtdinger von Neo Rauch, welch eine ästhetische Qualität! Und: Uh, dieses anzügliche Gemälde von Balthus, welch offensichtliche Abwesenheit von ästhetischer Qualität!
Ist es nicht eine Binsenweisheit der ästhetischen Theorie seit etwa zweihundertfünfzig Jahren, dass in ästhetischen Urteilen recht wenig über die Gegenstände, aber viel über den Urteilenden ausgesagt wird? Und ist nicht die Geschichte der Kunst seit dem frühen 20. Jahrhundert die Geschichte der »Selbstbefreiung der künstlerischen Produktion aus dem herkömmlichen ontologischen Gehege und die planmäßige Überwindung eines jeden Kanons«?2 Weder lassen sich, hieße das dann, allgemeine Kriterien für gelungene Kunstwerke angeben noch lassen sich überhaupt Kunstwerke von gewöhnlichen Dingen ohne die Hilfe von Hinweisschildern und institutionellen Rahmungen unterscheiden.3 Wie aber soll man gute Kunst erkennen, wenn die Kunst selbst hundert Jahre lang programmatisch darauf hingearbeitet hat, dass man nicht einmal Kunst erkennen kann?
Nun stecken sicherlich diejenigen in einer Zwickmühle, die im Zeitalter der »radikalen Entnormung« der Künste Gründe dafür angeben müssen, warum man öffentliche Mittel für den Ankauf des einen, aber nicht des anderen Kunstwerks aufwenden sollte.4 Trotzdem wundert es einen, was eigentlich aus der mühsam erarbeiteten Einsicht geworden ist, dass »Werte« und »Qualitäten« nicht immanente Eigenschaften von Kunstwerken sind, sondern in einem von komplizierten Interessenlagen durchzogenen Kraftfeld aus Produzenten und Käufern, Märkten und Museen, Kritik und Theorie ausgehandelt werden müssen – mit bekanntlich recht kontingenten Ergebnissen.
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