Heft 902, Juli 2024

Gärtnern in Havanna

Urban agriculture als Zukunftsmodell von Jan von Brevern

Urban agriculture als Zukunftsmodell

Vom José-Martí-Denkmal an der Plaza de la Revolución überblickt man ganz Havanna. Ein Lift fährt auf die Aussichtsetage des 109 Meter hohen Betonturms. An diesem Mittwoch im Februar 2024 bin ich der einzige Besucher. Innen dröhnt die Klimaanlage und sorgt für Kühlschranktemperaturen, draußen kreisen schwarze Truthahngeier im Aufwind des Denkmals. Fast scheinen sie mit ihren gewaltigen Flügeln die dicken Glasscheiben zu berühren. Unten auf dem Platz hielt Fidel Castro früher zum 1. Mai seine gefürchteten Endlosansprachen (darüber, ob die Reden bis zu neun oder sogar bis zu zwölf Stunden dauerten, herrscht Uneinigkeit). Große Paraden finden hier – wegen akuten Treibstoffmangels – schon seit Längerem nicht mehr statt, und auch an diesem Tag warten auf der riesigen Fläche nur einige der farbenfroh lackierten Oldtimer-Cabrios auf Touristen. Gesäumt wird der Platz von Regierungsgebäuden: dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei, dem Sitz der Streitkräfte, dem Innen- und dem Kommunikationsministerium. Dahinter erstreckt sich nach Norden das Vedado-Viertel bis zum Meer.

Der Vedado war Anfang des 20. Jahrhunderts als Viertel der Wohlhabenden entstanden, in den Villen wohnten die Zuckerfabrikanten. Dann, noch vor der Revolution 1959, versammelte sich hier der internationale Jetset, die amerikanische Mafia baute Hotels und Casinos. Neben dem ikonischen Habana Libre – dem ehemaligen, damals noch brandneuen Hilton, das die Revolutionäre 1960 bequemerweise zu ihrem ersten Regierungssitz machten – sieht man nun neue Türme in den Himmel wachsen, allen voran einen zweiundvierzigstöckigen Wolkenkratzer, der demnächst als Luxushotel eröffnet werden soll. Während die Stadt verfällt, die alte Bausubstanz buchstäblich zerbröselt, baut die vom Militär kontrollierte staatliche Tourismusindustrie neue Hotelanlagen. Doch der Tourismus ist nach der Corona-Pandemie eingebrochen, die bestehenden Hotels sind schon jetzt kaum ausgelastet, und die dringend benötigten Devisen bleiben aus.

Aber ich suche die Stadt von hier oben nicht nach Hochhäusern ab, sondern nach Gärten. Denn seit den frühen neunziger Jahren ist Havanna aus einem unerwarteten Grund in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Eine grüne Revolution fand hier statt, wie man sie nicht für möglich gehalten hatte. Auf Brachen und in Gärten wuchsen Wurzelgemüse und Kürbisse, Mais und Zwiebeln, Guaven und Bananen. Havanna wurde zum Modell für urban agriculture: ökologisch, sozial und nachhaltig. Es gab kleine und kleinste Anbauflächen, dazwischen größere Betriebe, Hühner und Ziegen wurden gehalten, lokale Märkte entstanden in den Vierteln. Alles staatlich unterstützt, finanziell und vor allem mit Wissen gefördert. Universitäre Forschungseinrichtungen wurden gegründet, die sich mit der Optimierung von städtischer Landwirtschaft befassten, PhD-Programme aufgelegt. »Cuba has emerged as a world leader in sustainable agricultural practices«, schrieb die amerikanische Forscherin Carey Clouse 2014, und zentral dafür sei ein »flourishing urban farming program«. Experten aus aller Welt reisten an, informierten sich, staunten: 1998 soll es 8000 registrierte landwirtschaftliche Gärten in Havanna gegeben haben, die ganze 30 Prozent des Stadtgebiets einnahmen. Ließe sich von Kuba, dem Land der ewigen Revolution im Leerlauf, tatsächlich etwas lernen?

Doch scheint es der urbanen Landwirtschaft in den letzten Jahren so schlecht ergangen zu sein wie dem einstigen Hoffnungsträger Tourismus. Zwei Tage lang war ich durch den Vedado gelaufen, hatte Ausschau gehalten nach Organopónicos und Mini Huertas, der staatlich organisierten, aber teils privat betriebenen innerstädtischen Landwirtschaft, von der ich so viel gelesen hatte und die angeblich halb Havanna mit Obst und Gemüse versorgte. Die großzügige Bebauung des ehemals reichen Viertels mit seinen üppigen Gärten bot dafür die ideale Umgebung. Mit einer zehn Jahre alten Karte in der Hand, die mir die Positionen der Anbauflächen genau angab, durchstreifte ich die Straßen. Und fand – nichts. Bis mir eine Kollegin von ihrer Entdeckung berichtete: Vom Martí-Denkmal aus habe sie Felder gesehen. Und tatsächlich, Richtung Westen, am Rand des Vedado, sind zwischen Wohnblocks und Regierungsgebäuden Äcker zu erkennen. Ich rufe den Lift, fahre hinunter und mache mich auf den kurzen Fußweg dorthin.

Landwirtschaft in der Stadt

Wir – eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen, Architekten und Studenten aus Weimar – sind auf Kuba auf einer »fact finding mission«: Ließe sich hier eine akademische Partnerschaft aufbauen? Die Verbindungen der Bauhaus-Universität nach Kuba reichen in DDR-Zeiten zurück, als kubanische Architekten und Bauingenieure in Weimar ausgebildet wurden. Rubén Bancroft, bis heute eine der prägenden Figuren der kubanischen Architektenausbildung, promovierte in den 1970er Jahren in Weimar und gründete später die Architekturfakultät an der Technischen Universität Havanna (CUJAE). Mit ihm sind wir unterwegs, treffen Gesprächspartner an verschiedenen Universitäten, sprechen mit Stadtplanerinnen, informieren uns über die Situation der Architektur und Denkmalpflege auf Kuba, reden über mögliche Austauschprogramme für Studenten. Es dauert ein paar Tage, bis wir die grundlegendsten Dinge kapiert haben: dass zum Beispiel Architekten auf Kuba nicht als freie Architekten arbeiten dürfen (und wie sie es trotzdem machen); dass die Gehälter für Professoren so niedrig sind, dass viele von ihnen noch anderen, informellen Jobs nachgehen müssen; oder dass Universitätsseminare bisweilen per WhatsApp unterrichtet werden, weil aufgrund des Treibstoffmangels häufig keine Busse fahren und dann weder Studenten noch Dozenten an die Uni gelangen. Die Bedingungen sind schwierig, die Motivation von Lehrkräften und Lernenden aber ist hoch und das Interesse an internationaler Zusammenarbeit »auf Augenhöhe« groß. Wäre das kubanische Modell der städtischen Landwirtschaft, das, wie Jorge Peña, Professor für Architektur in Havanna, schreibt, reiche Anregungen für die Stadt der Zukunft bereithält, dafür nicht ein ideales Thema?

Mein Interesse an städtischer Landwirtschaft hat sich aus Lehrveranstaltungen in Weimar seit dem vergangenen Jahr entwickelt, in denen die Studierenden und ich aus kulturhistorischer Perspektive über die Herausforderungen des ländlichen Raums nachgedacht haben. Überall auf der Welt werden Alternativen zur gegenwärtigen Landwirtschaft erprobt. Hightech-Ansätze wie vertical farming und pixel farming (das auf KI-Roboter setzt) stehen neben kleinteiligen urban gardening-Initiativen. Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh stellen kleinbäuerliche Betriebe mit staatlicher Unterstützung gerade auf Permakultur um, dort wachsen wieder verschiedene Fruchtpflanzen gemeinsam auf Feldern, wodurch der Einsatz von chemischen Düngern und Pestiziden überflüssig wird, die Felder Unwetter und Dürren besser verkraften, Erträge und auch die Biodiversität sich verbessern. Die großflächige, monokulturelle Landwirtschaft, wie sie heute in den entwickelten Ländern betrieben wird, sorgt zwar noch für verlässliche Ernten, produziert nebenbei aber enorme Probleme: Abhängigkeiten der Landwirte von der Agrarindustrie (Dünger, Pestizide, Hybridsaatgut), enormer Wasserverbrauch und Nitratverschmutzung, verminderte Widerstandskraft der Böden gegen Wetterextreme.

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