Ästhetikkolumne
Kunst ohne Gattung von Jan von BrevernIm frühen 19. Jahrhundert wurde die Genremalerei zur revolutionären Gattung. Die Genremalerei? Waren das nicht jene braven Bilder, die fröhliche Bauern, spielende Kinder oder Küchenmägde bei der Arbeit darstellten? Ja, schon. Doch es war auch diejenige Bildgattung, die – im Gegensatz zur Historienmalerei – die Gegenwart zum Thema hatte. Einige Bildbetrachter sahen in ihr sogar die Zukunft aufscheinen. Und kaum etwas schien damals politisch so brisant zu sein wie die Zukunft.
Heinrich Heine, gerade erst im Pariser Exil angekommen, stand im Salon von 1831 vor Léopold Roberts Schnitter. Fast dreitausend Kunstwerke seien auf der Jahresausstellung im Louvre zu sehen gewesen, berichtet Heine, aber die meisten Besucher hätten den »hübschen Bildern« kaum mehr als einen flüchtigen, gleichgültigen Blick geschenkt. Man sei im Moment in Paris wahrlich mit anderen Dingen als mit Kunst beschäftigt. Die Julirevolution war gerade ein Jahr her, »die Gemüther waren mit ängstlicher Politik erfüllt«. In solch unruhigen Zeiten – so beginnt Heines Bericht für das in Stuttgart bei Cotta erscheinende Morgenblatt für die gebildeten Stände – hat die Kunst einen schweren Stand. Nur wenige Werke im Salon können die Aufmerksamkeit des Publikums fesseln. Darunter ist Delacroix’ noch immer populäres Gemälde Die Freiheit führt das Volk. Der Künstler aber, der Heine zufolge alle seine Kunstgenossen überflügelt, ist der heute vergessene Schweizer Maler Léopold Robert: »Sein großes Meisterwerk, ›Die Schnitter‹, ist gleichsam die Apotheose des Lebens; bei dem Anblick desselben vergißt man, daß es ein Schattenreich gibt, und man zweifelt, ob es irgendwo herrlicher und lichter sei als auf dieser Erde […] Das Pariser Publikum hat dieses gemalte Evangelium besser aufgenommen, als wenn der heilige Lukas es geliefert hätte.«
Léopold Robert, Die Ankunft der Schnitter in den Pontinischen Sümpfen, 1831. Öl auf Leinwand, 142 × 212 cm, Louvre.
Für Heine kommt in Roberts Gemälde nicht nur die »Holdseligkeit Italiens« zum Ausdruck, sondern vor allem die Vision eines friedlichen und erfüllten Lebens. Aus der bukolischen Szene wird so eine gesellschaftliche Utopie. Das lässt für den aus Deutschland geflohenen Dichter die Figuren »wie von einer Glorie umflossen« erscheinen.
Heines Bildbesprechung enthält, für heutige Leser vielleicht überraschend, einen langen Exkurs über Bildgattungen und ihre Geschichte. Denn was ist dieser Maler eigentlich? »Ist er ein Historienmaler oder ein Genremaler?« Die traditionellen Gattungsbezeichnungen haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. Die Historienmalerei im alten Sinn gebe es nicht mehr, so Heine. »Tiefe Gedanken«, einst der höchsten Gattung vorbehalten, seien längst auch in den niederen Gattungen zu finden. Gerade deshalb erscheint Heine aber auch die Bezeichnung »Genre« zweifelhaft. Ist der alte Name noch angemessen, wenn sich die Funktion einer Gattung derartig gewandelt hat?
Bemerkenswert an Heines Besprechung ist, dass die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Kunst für ihn an die Frage nach der Gattung gebunden ist. Gattungen stehen im Zentrum des Kunstgeschehens – und wenn nur als normative Vorgabe, zu der man sich verhalten muss. Selbst sich un- oder antiakademisch gebende Maler wie Courbet oder Manet werden im 19. Jahrhundert weiterhin Genreszenen, Landschaften, Porträts und Stillleben malen. Weil die Gattungsnormen grundsätzlich in Kraft sind, können sie von den Künstlerinnen und Künstlern infrage gestellt werden; weil die Gattungshierarchie mit der Historienmalerei an der Spitze noch weithin akzeptiert ist, kann sie von Kunstwerken durchbrochen werden. Roberts Gemälde fällt auf, weil es diese Hierarchie ins Wanken bringt. Aber wie jeder Normverstoß bestätigt es zugleich die Existenz und Gültigkeit der Norm.
Heinrich Heine steht mit seinen Überlegungen am Anfang einer langen historischen Bewegung, in deren Verlauf Gattungsunterscheidungen im Bereich der Bildenden Kunst zunehmend bedeutungslos werden. Dieser Prozess scheint rund hundert Jahre später, am Anfang des 20. Jahrhunderts, abgeschlossen zu sein. Seitdem verfügt die Bildende Kunst über keine Gattungen mehr. Es wird dann noch Stilrichtungen und »Ismen« (Expressionismus, Kubismus, …) geben, Medien (Malerei, Video, …) und Sparten (Land Art, Konzeptkunst, …), aber ganz offensichtlich übernehmen diese eher deskriptiven Kategorien nicht die Funktion von Gattungen. Denn die alten Bildgattungen hatten normativen Charakter: Sie legten fest, was jeweils zum Gegenstand der Kunst werden durfte und welcher Rang einem Kunstwerk zukam. Sie bestimmten Formatfragen und Verwendungszusammenhänge. Von ihnen hingen soziales Prestige und Einkommen ab – nur die Historienmaler durften auf große Preise und auf öffentliche Aufträge hoffen.
Doch gerade weil die Gattungen lange Zeit als Garanten stabiler kultureller Hierarchien galten, wurden sie im Laufe des 19. Jahrhundert zunehmend als Einschränkung empfunden. Der Entfaltung der individuellen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten – nach und nach zum ästhetischen Wert erhoben – schienen sie diametral entgegenzustehen.
Mit der Abschaffung der Gattungen scheint sich daher ein modernistisches Versprechen auf Freiheit erfüllt zu haben. Normen, Hierarchien, Regeln sollten die Bildende Kunst – und vor allem das Künstlerindividuum – nicht länger einengen. Aber könnte der Kunst mit dem Glauben an eine feste Gattungshierarchie nicht auch etwas verlorengegangen sein?