Heft 857, Oktober 2020

Ästhetikkolumne

Kunst ohne Gattung von Jan von Brevern

Kunst ohne Gattung

Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Genremalerei zur revolutionären Gattung. Die Genremalerei? Waren das nicht jene braven Bilder, die fröhliche Bauern, spielende Kinder oder Küchenmägde bei der Arbeit darstellten? Ja, schon. Doch es war auch diejenige Bildgattung, die – im Gegensatz zur Historienmalerei – die Gegenwart zum Thema hatte. Einige Bildbetrachter sahen in ihr sogar die Zukunft aufscheinen. Und kaum etwas schien damals politisch so brisant zu sein wie die Zukunft.

Heinrich Heine, gerade erst im Pariser Exil angekommen, stand im Salon von 1831 vor Léopold Roberts Schnitter. Fast dreitausend Kunstwerke seien auf der Jahresausstellung im Louvre zu sehen gewesen, berichtet Heine, aber die meisten Besucher hätten den »hübschen Bildern« kaum mehr als einen flüchtigen, gleichgültigen Blick geschenkt. Man sei im Moment in Paris wahrlich mit anderen Dingen als mit Kunst beschäftigt. Die Julirevolution war gerade ein Jahr her, »die Gemüther waren mit ängstlicher Politik erfüllt«. In solch unruhigen Zeiten – so beginnt Heines Bericht für das in Stuttgart bei Cotta erscheinende Morgenblatt für die gebildeten Stände – hat die Kunst einen schweren Stand. Nur wenige Werke im Salon können die Aufmerksamkeit des Publikums fesseln. Darunter ist Delacroix’ noch immer populäres Gemälde Die Freiheit führt das Volk. Der Künstler aber, der Heine zufolge alle seine Kunstgenossen überflügelt, ist der heute vergessene Schweizer Maler Léopold Robert: »Sein großes Meisterwerk, ›Die Schnitter‹, ist gleichsam die Apotheose des Lebens; bei dem Anblick desselben vergißt man, daß es ein Schattenreich gibt, und man zweifelt, ob es irgendwo herrlicher und lichter sei als auf dieser Erde […] Das Pariser Publikum hat dieses gemalte Evangelium besser aufgenommen, als wenn der heilige Lukas es geliefert hätte.«1

Léopold Robert, Die Ankunft der Schnitter in den Pontinischen Sümpfen, 1831. Öl auf Leinwand, 142 × 212 cm, Louvre.

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