Heft 869, Oktober 2021

Ästhetikkolumne

»Lumbung« – die Rückkehr der Scheune von Jan von Brevern

»Lumbung« – die Rückkehr der Scheune

Die Mitglieder des indonesischen Künstlerkollektivs ruangrupa haben das Konzept für die von ihnen kuratierte documenta 15 (offizielle Schreibweise: documenta fifteen) vorgestellt. Die – zumindest nach Besucherzahlen – weltweit größte Ausstellung von Gegenwartskunst, die im Sommer 2022 in Kassel eröffnen soll, wird die Überschrift lumbung tragen. Was ist »lumbung«?

Eine traditionelle indonesische Reisscheune, wie ruangrupa erläutert. Sie besteht aus Bambus, ist strohgedeckt und steht auf vier Holzpfählen, um die Ernte vor Ungeziefer zu schützen. Die Omega-Form der Fassade, wie sie in der vom Künstlerkollektiv zur Verfügung gestellten Skizze zu sehen ist, ist typisch für die Insel Lombok.

Iswanto Hartono, lumbung Zeichnung (2020)

Solche traditionellen Scheunen sind in hohem Maß symbolisch aufgeladen. Im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum steht ein indonesischer Reisspeicher aus Sulawesi, mehr als sieben Meter hoch, gleich in der Eingangshalle – nach eigener Auskunft das »Wahrzeichen« des ethnologischen Museums. »Reis ist das Grundnahrungsmittel in Tana Toraja«, schreibt die ehemalige stellvertretende Direktorin dazu, »und Reis spielt eine zentrale Rolle im rituellen Leben der Menschen.«

Auf solche Rituale bezieht sich auch ruangrupa. Als Speicher für kollektiv verwaltete Lebensmittel stehe die Reisscheune für die »gemeinsame Nutzung von Ressourcen und gegenseitige Fürsorge«. Es ist, man muss es zugeben, ein schönes Bild, das das Künstlerkollektiv da gefunden hat. Sie nennen es ein »künstlerisches und ökonomisches Modell«. Wer wollte etwas gegen »Werte« wie Kollektivität, Großzügigkeit, Humor oder Vertrauen haben? Wer wollte sich gegen das Teilen, die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und die Förderung des Allgemeinwohls aussprechen? Lumbung sei, so ruangrupa, nicht einfach nur ein Thema: »Es ist vielmehr tief in unsere alltägliche Praxis eingeschrieben und fasst unsere bisherigen Methoden und Wertvorstellungen zusammen.« In der Zeichnung dient der offene Raum unter der Scheune als Treffpunkt für die dörfliche Gemeinschaft. Dort wird – so darf man sich das wohl vorstellen – geredet, diskutiert, gelacht, werden Feste gefeiert und die Ernte gerecht verteilt. Man sorgt füreinander und übernimmt gemeinsam Verantwortung.

Das ist ziemlich genau das Idealbild der »warmen Gemeinschaft«, wie es Ferdinand Tönnies gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer Urszene der Soziologie – allerdings für einen ganz anderen Kulturkreis – als Gegenbild zur anonymen, städtischen »kalten Gesellschaft« gezeichnet hatte. Gemeinschaft stand bei Tönnies für eine ursprüngliche Geborgenheit, die im Prozess der Moderne abhandengekommen war. Zwar wiesen Historiker bald schon kritisch darauf hin, dass es diese imaginierte harmonische Gemeinschaft voller authentischer Nähe realiter wohl nie gegeben haben dürfte. Der Attraktivität des emphatischen Gemeinschaftsbegriffs und der mit ihm verbundenen paradiesischen Assoziationen konnten derart kleingeistige Einwände aber schon damals nichts anhaben.

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