Heft 877, Juni 2022

Ästhetikkolumne

Als Calder peinlich war von Jan von Brevern

Als Calder peinlich war

Wer im grauen Berliner Winter 2021/2022 die Neue Nationalgalerie betrat – diese lichte, von Ludwig Mies van der Rohe entworfene und 1968 fertiggestellte Halle –, fand sich inmitten einer Ansammlung bunter Stahlskulpturen wieder. Nach jahrelanger Renovierung feierte das Museum seine Wiedereröffnung mit einer Ausstellung des amerikanischen Bildhauers Alexander Calder. Calder, ein Heros der künstlerischen, und Mies van der Rohe, ein Heros der architektonischen Nachkriegsmoderne, das passte wohl einfach zu gut zusammen. (Zwar war Mies auch ein politischer Opportunist, der sich vor dem Krieg bei den Nationalsozialisten anbiederte, aber egal.) Beide vertraten in ihrem Feld eine Art formalen Minimalismus, und wenn Mies den International Style wie kein anderer Architekt prägte, dann könnte man Calders Skulpturen wohl ebenfalls mit diesem Begriff belegen: Ihre Formensprache ist unverbindlich und leicht wiedererkennbar, sie stören nicht groß, passen überall hin und stehen tatsächlich auch überall in der Welt herum. Schon im Eröffnungsjahr wurde eine große schwarze Stahlskulptur von Calder per Kran auf der Außenterrasse der Neuen Nationalgalerie abgestellt. Sie steht dort bis heute.

Berühmt geworden ist Calder seit den 1930er Jahren allerdings nicht für solche »Stabiles« genannten ruhenden Skulpturen, sondern für seine Mobiles, als deren Erfinder er gilt. Der Legende zufolge war es Marcel Duchamp, der Calder den Begriff »Mobile« vorschlug. Es sind – trotz ihrer teils enormen Größe – leicht und fragil wirkende, schwebende Konstruktionen aus Draht und bunten Metallelementen, die sich im leisesten Luftzug bewegen. Eine ganze Armada solcher Stabiles und Mobiles hatte sich nun in der verglasten Halle der Neuen Nationalgalerie zusammengefunden. Die Idee der Ausstellung mit dem Titel Minimal /Maximal ist schnell erzählt: Calder hat sehr große und sehr kleine Objekte produziert. Manche sind acht Meter hoch und zig Tonnen schwer, andere messen nur wenige Zentimeter und wiegen wenige Gramm. Was passiert, wenn man diese Objekte in einem Raum zusammenbringt?

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