Heft 896, Januar 2024

Alte Frauen duzt man nicht

Wider die allzu vertrauliche Nennung historischer weiblicher Persönlichkeiten beim Vornamen von Jonathan Schilling
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»Als Mädchen habe ich einmal drei Tage geweint, daß mein Onkel eines meiner Gedichte mit meinem Namen in ein Wochenblatt drucken ließ; ein solches Grauen hatte ich vor der Öffentlichkeit, – jetzt bin ich seit Jahren gewöhnt, meinen Namen gedruckt zu lesen; – aber er gehört ja meinem Manne, so hatte der ein Recht, darüber zu verfügen.«1

Dies schrieb die Schriftstellerin Ottilie Wildermuth 1854 an ihren Kollegen Adalbert Stifter und begründete damit, warum sie nicht anonym, pseudonym oder kryptonym, sondern unter ihrem wirklichen Namen schrieb (der übrigens, weil er so klangvoll ist, häufig für ein Pseudonym gehalten wurde). Noch deutlicher hatte sie sich anlässlich ihrer ersten Buchveröffentlichung 1848 gegenüber einer Freundin geäußert: »Demnächst wirst du meinen Namen in der Zeitung lesen […] Es war meines Mannes Wille daß ich meinen Namen dazu setze, sonst hätte ich’s nicht gethan, aber da mein Name der seine ist, so kann er darüber verfügen.«2

Interessant genug sind die Fragen um weibliche Autorschaft und Anonymität, die sich hier auftun, doch noch etwas fällt sofort auf, wenn man den Text heute liest: Der Nachname gehört dem Mann. Das »schwache Geschlecht« hat dafür den Vornamen. Diesem Verständnis entsprach im 19. Jahrhundert weitgehend die Anrede zwischen Angehörigen des Bürgertums und des niederen Adels: Wenn Männer sich duzten – was hauptsächlich dann geschah, wenn sie denselben Jahrgang einer Schule besucht hatten oder derselben Studentenverbindung angehörten –, nannten sie sich beim Nachnamen: »Was machst du, Marx?«3 Wenn Frauen sich duzten, benutzten sie den Vornamen: »Hüte dich, Clementine!«4 Ehepaare untereinander entsprechend: »Ein weites Feld, Luise.« – »Was du da sagst, Briest, ist das Gescheiteste, was ich seit drei Tagen von dir gehört habe, deine Rede bei Tisch mit eingerechnet.«5 Tony Schumacher erinnert sich: »Die Frauen aus dieser Zeit nannten gewöhnlich ihre Männer mit dem Geschlechtsnamen, was etwas Steifes, Förmliches hatte.«6 Natürlich gab es auch noch weitere Anredemöglichkeiten von Männern an ihre Frauen, die heute eher aus der Mode gefallen sind: »Du wirst mich verbinden, mein liebes Kind, wenn Du mich vorderhand nicht weiter stören wolltest.«7

Ganz folgerichtig ist es also, wenn bei der 1888 erfolgten Erstveröffentlichung des Brautbriefwechsels zwischen Ottilie Rooschüz und David Wildermuth stets die Bezeichnungen stehen: »Wildermuth an Ottilie« oder »Ottilie an Wildermuth«.8 Mit ganz ähnlichen Beispielen ließe sich die Reihe fortsetzen: »Im April 1894 schrieb Clara an Brahms« oder: »In einem Brief an Emilie notiert Fontane«, oder: »Bereits am 16. März 1870 schreibt Cosima an Nietzsche«.

Diese Zitate stammen nicht aus dem 19., sondern aus unserem Jahrhundert.9 Und es sind nur drei von zahllosen Stellen, die belegen, dass das Namensverständnis des 19. Jahrhunderts bis heute fortwirkt. Niemand käme auf die Idee, zu schreiben: »Johann Wolfgangs Behandlung des Faust-Stoffes wurde für künftige Generationen tonangebend« oder »Am 9. Mai 1805 starb Friedrich in Weimar«.

Aber in Bezug auf Frauen geschieht es bis heute unentwegt. In einem Roman mag man so etwas durchgehen lassen: »Seine Küsse schmeckten süß und zauberten ein Kribbeln auf Berthas Haut.«10 Würde das Kribbeln stattdessen »auf von Suttners Haut« gezaubert, so wäre doch die ganze zauberhafte Sentimentalität im Nu – weggezaubert. Doch mitunter scheinen, wenn Frauen verniedlichend bei ihrem Vornamen genannt werden, die stilistischen Grenzen zwischen Trivialromanen und wissenschaftlicher Prosa beinahe zu verwischen: »Es war ein schöner Sonntag im Frühsommer – ein Tag, wie Julie Bebel ihn liebte. An solchen Tagen hielt es sie nicht mehr in der kleinen Wohnung in einem Leipziger Außenbezirk. An solchen Tagen musste Julie ins Grüne […] Doch an diesem Sonntag war Julies Glück fast vollkommen.«11 Oder: »Drei Stunden später genoss Maria den Schinken und den Champagner im Haus von Toscanini«; »Maria zog ihren Mantel aus und drückte ihn samt Handtasche Gobbi in den Arm«.12

Oder: »Später erinnert sich Malwida, Nietzsche habe ihr einst vorgeschwärmt […] Die beiden sind einander zuerst durch Wagner-Wonnen verbunden […] Am Horizont damals eine Dreiecksbeziehung zwischen Malwida, Nietzsche und Olga!«13 Eigentlich eine Fünfecksbeziehung, denn Nietzsche ist bereits in eine »moderne Kontrafaktur der mittelalterlichen Dreiecksbeziehung« involviert: »Cosima führt mit Wagner, wie Isolde mit Marke, eine Ehe, die im Grunde Ehebruch ist, da Cosima eigentlich für Nietzsche bestimmt ist – wie Isolde für Tristan.«14 Die »Wagner-Wonnen«, von denen Joachim Radkau schreibt, ergeben eine schöne, echt wagnersche Alliteration, die man nicht durch »Richard-Wagner-Wonnen« ersetzen könnte und auch nicht müsste. Aber der Autor schreibt in seinem Buch durchgehend von Nietzsche, Wagner, Rolland – und von Cosima, Malwida, Olga.

Zu seiner Rechtfertigung – und er ist damit einer der ganz wenigen, die ihre Verwendung von Frauenvornamen überhaupt reflektieren – verweist Radkau unter anderem darauf, dass »Malwida« auch von Romain Rolland so genannt wurde und sich häufig selbst mit ihrem Vornamen vorstellte. Aber gilt das auch für Olga und Cosima? Und darf ein Historiker seine Verwendung von Begrifflichkeiten mit dem Hinweis auf die Sprache seiner Quellen begründen? Es sei »umständlich-korrekt«, den Nachnamen zu gebrauchen, zumal Meysenbug nur ihr Ehename gewesen sei, führt Radkau weiter an, und andere Biografen hätten es schließlich auch so gemacht (natürlich!).15

Tatsächlich ist es bei historischen Frauenpersönlichkeiten etwas umständlicher, den Nachnamen auszuschreiben, da sie mit der Heirat normalerweise den Namen wechselten. Es ist in der Tat einfacher und gefälliger, durchgehend von Käthe zu sprechen, als in den ersten Kapiteln von »Schmidt« und dann von »Kollwitz«.16 Viel unkomplizierter, einfach »Bertha« zu sagen, statt zunächst »Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau« und dann »von Suttner«. Noch schwieriger wird es, wenn es sich um Ehepaare handelt, bei denen beide Partner berühmt sind: »Schumann an Schumann« geht nicht, da scheint sich »Clara an Schumann« und »Schumann an Clara« als die einfachste Möglichkeit anzubieten. Aber die meisten Menschen finden heute nicht mehr, dass der Nachname dem Manne gehört. Beatrix Borchard schreibt: »Clara an Robert« und »Robert an Clara« und »Johannes Brahms an Clara Schumann« und »Clara Schumann an Johannes Brahms«.17 Es geht also doch.

Noch in einem zweiten Bereich gibt es bis heute einen Gender-Name-Gap: Auch in Straßennamen wird es ersichtlich, dass Frauen das Recht auf ihren Nachnamen nicht zugestanden wird. 1901 beschloss der Stadtrat von Zürich, Ottilie Wildermuth mit einer Straße zu ehren. Die zuständige Verwaltungsbehörde hatte vorgeschlagen, einer neuerbauten Straße »mit Rücksicht auf das an derselben gelegene Schulhaus einen Namen beizulegen, der mit der Jugendbildung in Beziehung steht, z.B. den Namen der verdienten Jugendschriftstellerin Ottilie Wildermuth«.18 Der Stadtrat folgte dieser Empfehlung gern.

Im Situationsplan wurde aber die bereits eingetragene »Wildermuthstrasse« durchgestrichen und durch »Ottilienstrasse« ersetzt – klar, es handelte sich ja um eine Frau, die keinen Nachnamen hatte, über den sie verfügen konnte. Tübingen folgte zehn Jahre später, und da man lieber eine Wildermuth- als eine Ottilienstraße haben wollte, ersann man den Ausweg, in die Begründung zur Benennung auch noch auf ihren Sohn, einen damals bekannten Epilepsiespezialisten, zu verweisen.19 Als man in Stuttgart 1933 eine Straße nach Wildermuths eben verstorbener Tochter, der Schriftstellerin und Philanthropin Adelheid Wildermuth benennen wollte, nannte man sie »Adelheidweg«.20 Wer heute wissen will, nach wem eine Emilien-, Ottilien-, Annen-, Antonien-, Marien- oder Margarethenstraße benannt ist, muss sich meistens ins Archiv begeben. Eine erinnerungspolitische Nullnummer.

Zu Recht wird immer wieder beklagt, dass nur wenige Straßen nach Frauen benannt sind, aber von den Straßen, die es gibt, hat man kaum etwas, wenn sie nur den Vornamen enthalten. Auch die gutgemeinten kleinen Ergänzungstäfelchen, die in manchen Städten Aufklärung leisten, können das nicht wettmachen. »Zehn Straßen in der Tübinger Kernstadt tragen den Namen von Frauen, […] die meist mit ihrem Vornamen auf den Straßenschildern verewigt wurden«, heißt es in einem Band über Tübinger Frauen, auf dessen Titelbild die »Isoldenstraße« kurzerhand durchgestrichen und durch »Kurzstraße« ersetzt wurde.21

Freilich könnte man auch bei dieser Form nur raten, nach wem die Straße benannt ist. Eine Benennung mit Vor- und Nachnamen (»Isolde-Kurz-Straße«) ist die einzige zielführende Möglichkeit, um eine Person im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Der Vorname reicht jedenfalls nicht. Wer käme auf die Idee, Goethe mit einer »Wolfgangstraße« oder Bismarck mit einem »Ottoplatz« zu ehren? Solche Benennungen gibt es nur bei Angehörigen regierender Häuser, die keinen eigentlichen Nachnamen haben: »Friedrichstraße«, »Ludwig-Maximilians-Universität«, »Ulrichshöhle«, »Karlsruhe«.

Die meisten Männer sprechen heute ihre Gemahlinnen nicht mehr als »mein liebes Kind« an. So ist es vielleicht an der Zeit, dass auch Evas Töchter wieder das Recht auf ein nomen gentile bekommen. Dass Straßenschilder, die nur den Vornamen einer Frau enthalten, umgeschrieben werden. Dass in Sachtexten Frauen mit Vor- und Nachnamen (und bei wiederholter Nennung nur mit dem Nachnamen statt nur mit dem Vornamen) genannt werden. Es sind hochbetagte Damen, manche über zweihundert Lenze alt. Und die würde man ja auch nicht einfach duzen, wenn man ihnen leibhaftig begegnete.

Anmerkungen

1

Ottilie Wildermuth an Adalbert Stifter am 2. April 1854. In: Adalbert Stifter, Sämtliche Werke. Bd. 23: Briefwechsel, Bd. 7. Graz: Stiasny 1939.

2

Ottilie Wildermuth an Auguste Eisenlohr am 25. Oktober 1848. Deutsches Literaturarchiv Marbach (A:Wildermuth, Ottilie, 01.45.3,3).

3

Theodor Storm, Es waren zwei Königskinder [1884]. In: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 3: Novellen 1881–1888. Hrsg. v. Karl Ernst Laage. Frankfurt: Deutscher Klassiker-Verlag 1988. Die Vornamen der Protagonisten, die mit Nachnamen Marx, Franz und Walther heißen, erfährt man in der Novelle nicht.

4

Marlitt [d.i. Eugenie John], Im Schillingshof. Roman. Bd. 1. Leipzig: Ernst Keil 1880.

5

Theodor Fontane, Große Brandenburger Ausgabe. Abt. I, Bd. 15: Effi Briest. Roman [1895]. Hrsg. v. Christine Hehle. Berlin: Aufbau 1998. Hingegen erfährt man im ganzen Buch den Vornamen Herrn von Briests nicht.

6

Tony Schumacher, Was ich als Kind erlebt [1901]. Hrsg. v. Monique Cantré. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2010. Schumacher nennt eine weitere Anredeform von Frauen an Frauen, die deutlich macht, dass der Nachname und die Ehefrau dem Mann gehörten: »Auch untereinander gebrauchten sie selten ihre Rufnamen, sondern es wurde dem Familiennamen die Endsilbe ›in‹ angehängt, – ›die Bartruffin – die Brandin – die Bilfingerin‹«.

7

Friedrich Wilhelm Hackländer, Magnetische Kuren. Lustspiel in vier Aufzügen. Stuttgart: K. F. Hering & Comp. 1852. – Für einige weitere Ausführungen zur bürgerlichen Anredepraxis des 19. Jahrhunderts sei auf die bald erscheinende Dissertation des Verfassers verwiesen.

8

Agnes Willms /Adelheid Wildermuth, Ottilie Wildermuths Leben. Nach ihren eigenen Aufzeichnungen zusammengestellt und ergänzt von ihren Töchtern. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1911.

9

Eva Rieger (Hrsg.), Mit 1000 Küssen Deine Fillu. Briefe der Sängerin Marie Fillunger an Eugenie Schumann, 1875–93. Köln: Dittrich 2002; Jana Kittelmann, Kriegsgefangen. In: Theodor Fontane Handbuch. Hrsg. v. Rolf Parr /Gabriele Radecke u.a. Berlin: de Gruyter 2023; Matthias Kruse, Ludwig Nohl. Musikwissenschaft zwischen Hegel, Wagner und Beethoven. Münster: Waxmann 2023.

10

Eva Grübl, Botschafterin des Friedens. Roman. München: Piper 2022.

11

Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871–1918. München: Beck 2021.

12

Eva Gesine Baur, Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie. München: Beck 2023. Bei den erwähnten Herren handelt es sich um den Dirigenten Arturo Toscanini und den Bariton Tito Gobbi.

13

Joachim Radkau, Malwida von Meysenbug. Revolutionärin, Dichterin, Freundin: eine Frau im 19. Jahrhundert. München: Hanser 2022.

14

Dieter Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner. Porträt einer Freundschaft. Berlin: Insel 2023.

15

Kritik übt die Rezensentin Ulla Wischermann: »Diese Vertraulichkeit ist m.E. eine unglückliche Entscheidung, enteignet sie doch eine hochinteressante historische Person, vielleicht nicht zufällig eine Frau, ihres vollständigen Namens und damit eines Teils ihrer Individualität.« Ulla Wischermann, Joachim Radkau: Malwida von Meysenbug. In: Feministische Studien, Nr. 40/2, 2022.

16

Dass es aber geht, zeigt Yvonne Schymura, Käthe Kollwitz. Die Liebe, der Krieg und die Kunst. Eine Biographie. München: Beck 2016. Wo sie von »Käthe« schreibt, schreibt sie auch von »Karl« und »Peter«, immer wieder findet sich auch die Form »Käthe Schmidt«.

17

Beatrix Borchard, Clara Schumann. Ihr Leben. Eine biographische Montage. Hildesheim: Olms 2015.

18

Stadtratsbeschluss vom 8. Mai 1901 (Nr. 390, S. 176). Stadtarchiv Zürich.

19

Gemeinderatsprotokoll vom 2. Dezember 1911 (§ 877, S. 1280). Stadtarchiv Tübingen, A 75/158/1.

20

Stadtratsbeschluss vom 24. Mai 1933. Akten im Stadtarchiv Stuttgart, 125/1, 1–15.

21

Edith Glaser /Susanne Stiefel, Zwischen Waschzuber und Wohltätigkeit. Tübinger Frauengeschichte(n) im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen: Kulturamt Frauenbeauftragte 1991.