Austerität und Ausnahme
Die Politik der Staatsausgaben nach der Karlsruher Entscheidung von Sebastian HuhnholzDie Politik der Staatsausgaben nach der Karlsruher Entscheidung
Nach allgemeiner Wahrnehmung stürzte das Mitte November 2023 vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündete Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt die amtierende Bundesregierung in eine veritable Krise. Karlsruhe hatte die bisherige Großzügigkeit des politischen Betriebs mit der verfassungsrechtlich verankerten »Schuldenbremse« »ausgebremst«.
In der Tat war das Urteil ein Paukenschlag. Ein ähnliches Haushaltsproblem von Finanzverfassung wegen hatte die Bundesrepublik noch nie erlebt. Das liegt weniger daran, dass die grundgesetzgeschichtlich recht junge Kreditqualifizierung noch auslegungsbedürftig ist – Karlsruhe hat hierzu nun ein Grundsatzurteil mit einigermaßen viel Handlungs- und Interpretationsspielraum vorgelegt, durch das Regierung und Haushaltsgesetzgeber eigentlich verlässlicher und kreativer arbeiten könnten. Das notorische, ja geradezu paradigmatische Phänomen besteht vielmehr darin, dass die maßgeblichen Milieus der demokratischen Öffentlichkeit sich für die fiskaldemokratisch faszinierendsten Verfassungsfragen genauso wenig interessieren wie die im engeren Verständnis wirtschaftspolitischen Beratungs- und Expertenkreise der deutschen Bundesregierungen. Indigniert bemerkte ein wiederholt zu Rate gezogener Top-Ökonom im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, er müsse jetzt offenbar Verfassungsrecht »zur Kenntnis« nehmen.
Genau. Die Besonderheit der laufenden Haushalts- und Regierungskrise ist nicht das Geld an sich und auch nicht, dass es sich um Geld für politische Zwecke handelt. Durch Zahlen ist nicht erklärlich, was hier geschieht. Das im Bundesetat überraschend entstandene »Loch« von zunächst 60, kurz darauf immerhin noch 17 Milliarden Euro ist eine Rechengröße von einem Umfang, der weder angesichts der öffentlichen Jahresbudgets von fast einer Billion Euro für Bund, Länder und Kommunen in Deutschland schrecken müsste noch vor dem jüngeren Erfahrungshintergrund anscheinend omnipotenten Geldes unfassbar wäre. Immerhin befinden wir uns weit im zweiten Jahrzehnt nach einer Banken- und Finanzmarktkrise, seit der, durch die Covid-Pandemie verstärkt, Grenzen zwischen Fantasie und Mathematik sowie Unterscheidungen nach Gebern und Nehmern nach allen lebens- und erfahrungsweltlichen Maßstäben aufgehoben sind.
Das Problem ist eher, dass der Finanzpolitik die Orientierung über ordentliche Rechtsgrundlagen, insbesondere über die Gründe für das verfassungsdemokratisch zulässige Spektrum, abhanden gekommen ist und dass sich die Bundespolitik darum seit Jahren so sehr an den Schwund effektiver Kontrolle über gewaltige Ressourcen außergewöhnlicher Herkunft gewöhnt hat, dass selbst nach einer Phase erster, allemal verständlicher Panik und Sondierung viele der politisch in Reaktion auf das Karlsruher Urteil auf dem Tisch liegenden Haushaltssanierungsvorschläge in einem verfassungswidrigen Spektrum verbleiben. Längst finden sich gewichtige Kommentare, die die ernüchternden Berliner Anpassungspläne als vertane Chance evaluieren. In der bundespolitischen Disposition, der finanziellen Opferbereitschaft des Souveräns zu misstrauen und statt auf gesellschaftliche Solidarität auf Schulden zu setzen, zeigt sich eine demokratisch abgründige Skepsis von oben. Hinter dem Anschein bloß wirtschaftspolitischer Zweckmäßigkeit wird die Rechtfertigung von Politik gemieden und die budgetäre Folgenbewältigung in den Sachzwängen späterer Haushaltsjahre versteckt. Die eigentliche Misere besteht somit darin, dass man weiterhin nach Krisen sucht, um fiskalische Ausnahmezustände in Permanenz zu begründen.
Es verweist auf eine hartnäckige Mentalität, wenn verschiedene Bundeskabinette und Bundesministerien nacheinander und fortwährend meinen, zweckgebundene Kreditoptionen und neuerdings sogar Sozialversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit nachträglich in frei verfügbare Etatposten des Primärsteuerfiskus umdeuten zu können, also einen vom Parlament ausnahmsweise genehmigten Notfallschuldenrahmen in willkürliche Verschiebungsmasse der Regierung umzudefinieren. Die von Karlsruhe beanstandete Tendenz, durch Nachtragshaushalte rückwirkend die Finanzrahmen bereits abgelaufener Haushaltsjahre zukunftsbelastend auszureizen, war ein besonders markanter, offenbar allerdings nur vorläufig letzter Ausdruck dieser Mentalität. Denn konnte selbst der anschließende, im November 2023 akute Handlungsdruck erneut durch einen korrektiven, freilich pragmatisch-moderaten Nachtragshaushalt nebst Entnahme von Rücklagen gemildert werden, lässt die Bereinigungsvorlage für den 2024er Haushalt wieder ganz den Willen zu fortgesetzter Verwirrung erkennen. Zu sehr wohl haben sich Bundespolitik und deutsche Öffentlichkeit im begonnenen Jahrhundert auf den Doppelstandard konditioniert, das pseudosakrale Askese-Mantra einer verfassungsgarantierten Verschuldungsschranke vor sich herzutragen und zugleich durch eine permanente Suche nach mehr oder minder kreativen Umgehungschancen sozusagen aufs finanzpolitische Gaspedal zu treten. Allein darum wird die ohnehin nun stark reformbedürftige Schuldenbremse alsbald entweder ganz fallen oder durch konstitutionalisierte Sondervermögen konterkariert.
»Gotcha!«
Angesichts bereits anderthalb Jahrzehnte währender Krisen westlicher Staatsfinanzen, Unmengen von Steuerskandalen, oben und unten extrem verdichteter sozialer Ungleichheit, unbezahlbarer ökopolitischer Transformationsherausforderungen und zuletzt einer sogar mit Abertausenden Traktoren auch auf den Straßen des Landes ausgetragenen Bundeshaushalts- und Regierungskrise wäre vielleicht anderes zu erwarten als fortgesetzte Schummelei und finanzpolitischer Selbstbetrug, zu wünschen allemal. Das setzte aber voraus, die Staatsfinanzen einer Demokratie als politische Angelegenheit zu begreifen und nicht durch eine allgemeinwirtschaftliche Brille zu sehen, Fiskus und Budget also nicht als Frage letztlich bloß technischer Art, als demokratisch gleichgültige und verfassungsrechtlich beliebige Beschaffungsmächte und -größen zu verstehen.
Daran, dass weder Legislative noch Judikative der Bundesrepublik über eine politische, geschweige denn demokratische Theorie des Fiskus verfügen, war Karlsruhe freilich nicht ganz unbeteiligt. In der bundesrepublikanischen Nachkriegstradition, demokratischen Forderungen mit wirtschaftsdynamischer Verteilung zu begegnen, hatte das höchste Gericht das finanzdemokratische Möglichkeitsspektrum gleichsam verdrängt und ist dabei selbst von der Politikwissenschaft nicht weiter gestört worden. Dass zudem ein mächtiger Verfassungsrechtler und -richter wie Paul Kirchhof seine Privatüberzeugung von steuerlicher Konfliktvermittlung über Jahrzehnte als Verfassungsnorm kultivieren konnte, hat der Entfremdung zwischen Rechts-, Finanz-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft weiter Vorschub geleistet. Die Grund-, Verfassungs-, Steuer- und Schuldenrechtslage dazu jedenfalls wird abseits juristischer Zirkel gewöhnlich ignoriert. Umso mehr können legitimationspolitisch und quellenrechtlich sensibel zu unterscheidende Einnahmeressourcen (Steuern, Schulden, Beiträge usw.) und Ausgabenzwecke (allgemeine Aufgabendeckung, Nothilfe, Investitionen, erworbene Leistungsansprüche usf.) mit einer Schludrigkeit und Gleich-Gültigkeit diskutiert werden, die zu politischem Missbrauch geradezu einladen.
Man trifft hier auf die vieldiskutierte Eigenheit, dass ausgerechnet in einem schon früh als Wirtschaftsverwaltungsstaat charakterisierten Wohlfahrts-, Sozial-, Steuer- und Daseinsvorsorgestaat wie der Bundesrepublik Reden über Geld immer schon unwirklich war. Die Weimarer Tradition, dass sich nicht die Steuer- und Haushalts-, sondern die Lohnpolitik als demokratisches Hauptkampffeld dynamisch integrierter Verteilungskonflikte etablierte, setzte sich in den Trente Glorieuses der Bonner Wirtschaftswunderrepublik fast bruchlos fort. In der männlichen Vollerwerbsgesellschaft der Massendemokratie war nun allerdings »der Steuerzahler« das schillernde Zentralgestirn des Staatshaushalts. Staatsgeld stand dabei am Rand. Geld war Privatsache oder prozentmäßige Verhandlungsmasse produktionswirtschaftlich angeleiteter Auseinandersetzungen. Das erschwerte gehaltvolle und verfassungsrechtsnahe Diskurse über geordnete Verschuldung, denn so schien es, als seien öffentliche Kreditaufnahmen lediglich Vorgriffe auf spätere Steuereinnahmen, deren volkswirtschaftliches Sprudeln der Staat nicht durch übermäßige Einmischung riskieren dürfe.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.