Heft 913, Juni 2025

Nach den Sondervermögen ein Sondervotum

Das Karlsruher Urteil zum Solidaritätszuschlag von Sebastian Huhnholz

Das Karlsruher Urteil zum Solidaritätszuschlag

In der alten Bundesrepublik gab es bis weit in die 1970er Jahre hinein praktisch keine Krisen des Staatshaushalts.1 Mäßigungsappelle waren unnötig, die Steuerbelastung niedrig, Wahlversprechen angesichts steigender Wohlstands- und Verteilungsniveaus realistisch. Materielle Kernkonflikte wurden in stärker korporatistische Arrangements gelenkt, andernfalls in Universitätsseminare.2 Sie manifestierten sich jedenfalls eher in koordinierten Konflikten der Lohn- und Tarifpartner als in parlamentarischen Haushaltsverhandlungen.3 Die Entwicklung der Finanzverfassung konnte sich umso mehr abseits der Bonner Aufmerksamkeit vollziehen und sogar jenseits des politikwissenschaftlichen Radars.4 So blieben steuer-, eigentums- und verteilungspolitische Auslegung und Entwicklung der Finanzverfassung stets Sache der Spezialisten. Bis in unsere Gegenwart hinein sind sie kaum allgemein vermittelbar.5

Die einmaligen ökonomischen Voraussetzungen dieser Idylle sind mittlerweile Geschichte.6 Bestand dagegen hat die öffentliche Sprach- und Orientierungslosigkeit in Sachen Finanzverfassung. Hartnäckig halten sich zwar kultivierte Gerüchte, die Schulden von heute seien die Steuern von morgen oder der Staat habe wie die »schwäbische Hausfrau« zu agieren. Doch von den volkswirtschaftlichen Realitäten und fiskalischen Praktiken ist das weniger denn je gedeckt. Ob man nun an die »Bazooka« der Corona-Hilfen denkt, den militärischen Schattenhaushalt im Zeichen der »Zeitenwende«, an den »Doppel-Wumms« (»Gaspreisdeckel« und flankierende Preisbremsen in Höhe von 200 Milliarden Euro) oder das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023, das der »Ampel« das Licht ausknipste, wonach Neuwahlen fällig wurden und sich eine mutmaßliche neue Regierung durch alte Bundestagsmehrheiten mit einem XXL-»Wumms« im Billionenformat die Geschäftsgrundlage für ihre Koalitionsverhandlungen genehmigte: Die »Schwarze Null« ist erledigt, die »Schuldenbremse« geschleift.

Zu spät zur Zeitenwende

Wie verhält sich das Grundgesetz zu dieser Lage, wie stellt sich Karlsruhe dabei auf? Das scheint zunächst leicht zu beantworten, hat doch das Bundesverfassungsgericht die jüngsten Verschuldungspakete und deren merkwürdige Verabschiedung durchgewunken. Daraus unproblematisches Einverständnis abzuleiten wäre dennoch zu kurz gegriffen. Vielmehr ist die Situation in entscheidenden Aspekten grundlegend neu, geläufige staatsrechtliche Kategorien und Begründungsmuster greifen kaum.7

Ziehen wir ersatzweise ein paralleles Urteil hinzu, um die Lage zu sondieren: die Karlsruher Entscheidung vom 26. März 2025. Darin bestätigte der Zweite Senat des obersten Gerichts die Verfassungskonformität des Solidaritätszuschlags in seinem aktuellen Zuschnitt. Beklagt worden war, dass diese vor bald drei Jahrzehnten zur Finanzierung der Deutschen Einheit eingeführte Ergänzungsabgabe mittlerweile allzu ungerecht erhoben würde und außerdem gegen die Privateigentumsgewähr des Grundgesetzes verstieße. Dazu später genauer. Für uns besonders interessant soll sein, dass die das Urteil mittragende Bundesverfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein eine abweichende Meinung anfügte.8 Sie kritisiert, mit seiner Urteilsbegründung habe der Zweite Senat die Kompetenz der Gewaltenteilung eigenwillig überschritten, sich namentlich einen »Kontrollanspruch« über die vom »Gesetzgeber angeführte[n] Finanzbedarfe […] konstruiert«. Ob, heißt das, der Solidaritätszuschlag »evident« fortbestehen darf, wolle Karlsruhe zukünftig selbst nachrechnen (ich pointiere).

Nach den »Sondervermögen« nun also ein Sondervotum zu einer besonderen Abgabe. Das ist alles weit mehr als aufgesetztes Wortgeklingel – Sondervermögen, gesonderte Abgabe, Sondervotum. Auch dass das Urteil zum »Solidaritätszuschlag« erging, ist nicht nebensächlich. Diese Bezeichnung, einst geschaffen, eine gute Zwecksteuer assoziieren zu lassen, markiert den Beginn einer finanzrhetorischen Epoche, in der die Exekutive zu Metaphern greift, um Sonderanlässe zu markieren und sie mit Sondermitteln zu bewirtschaften. Dass sich in der aktuellen Entscheidung über den Solidaritätszuschlag noch das Echo einer alten Ausnahmesituation zeigt, passt insofern gut, als sich daran die Orientierungsarmut der neuen Sonderlage spiegeln lässt.

Mitfühlend könnte man ja bloß von Pech sprechen, dass der Karlsruher Termin den Berliner Wunschkoalitionären ausgerechnet während des fiskal- und haushaltspolitischen Stresses jener Wochen on top kam – wäre die Sache nicht ohnehin im Sande verlaufen. Politisch indes muss von Pech gesprochen werden. Denn gerade die (von Wallrabenstein monierte) höchstrichterliche Berufung auf bitte doch »evidente« Belastungsgründe für eine befristete Ergänzungsabgabe wäre eine Steilvorlage für eine Verteidigungssteuer ohne Bundesratsbeteiligung gewesen. Der Gesetzgeber hätte statt Verschuldung und Verfassungsänderung einen einfachgesetzlichen und sozialgestaffelten, also progressiven Steuerzuschlag für Bundeswehrbelange erwägen dürfen. So aber kam das Urteil zu spät, um als verfassungsrichterlich bestätigte Alternativoption noch auf das Ringen über die Schuldenpakete Einfluss zu nehmen.

Dennoch verstärken und verdeutlichen Entscheidung und Sondervotum das grundlegende Dilemma der deutschen Finanzverfassung: Sie zeigt sich störrisch gegenüber den global rasanten und die Bundesrepublik offenkundig belastenden Umbrüchen der finanz- und geopolitischen Ökonomie, verführt genau darum aber diverse Interessenten zu verfassungsrechtlich innovativen Instrumentalisierungen. Und just in dieser Hinsicht ist Wallrabensteins Sondervotum ungemein interessant, geradezu radikal. Indem der Zweite Senat mehrheitlich »dem die steuerrechtliche Fachliteratur dominierenden Anliegen nachgibt, die Ergänzungsabgabe« des Solidaritätszuschlags »an materielle Voraussetzungen zu binden«, verkürze er »einseitig« den bundesgesetzgeberischen »Gestaltungsspielraum« zulasten der eingepreisten sozialen Umverteilungswirkungen und zugunsten einer durch Karlsruhe ganz neuartig konstruierten, höchstrichterlich assistierten Vetomacht der progressiv Belasteten.

Paradise Lost

Karlsruhe scheint Berlin also zuzurufen: Schluss mit Überfluss und Umverteilung! Zurück zur Einheit von Aufgabe und Abgabe! Hier zeigen sich die Erblasten der frühen Bundesrepublik gleich doppelt. Erstens hatte ihr boomendes Wachstum (der jungen Bevölkerung, der Produktivität, der Verteilungsmasse usf.) die weitgehende Depolitisierung der Staatsfinanzen begünstigt. Die dem Verfassungsgefüge entgegenkommende Versorgung des Staates durch Steuern durfte nicht nur der Industriegesellschaft als Selbstverständlichkeit erscheinen. Auch die immer kleinteiligere Verschachtelung von Grundrechten und Finanzverfassung stieß unter diesen Bedingungen nie auf ernsthaften Protest. Unter dem immer dichter gewebten Deckmantel von Eigentums-, Berufs-, Unternehmer-, Vertragsfreiheit und anderem mehr ließ sich die Zementierung von Eigentum, Privatisierungschancen und Vermögen hinter der abgaben- statt steuerfinanzierten Dynamik des Sozialversicherungsstaats verbergen. Vereinfacht gesagt: Die Bessergestellten hatten wenig Grund zur Klage, im Gegenteil. Schließlich wurde auch das Sozialstaatsprinzip dahingehend entwickelt, dass die Solidarversicherungsabgaben die private Eigentumsordnung quersubventionierten9 und der Steuergesetzgeber keinen Budgetzugriff auf diese Abgaben erhielt.10 Dass äußerlich zwar alle »normativen Fragen von Gleichheit, Macht und Umverteilung […] scheinbar« dem Verfassungsrecht unterstellt waren, ließ übersehen, dass selbst Karlsruhe »diese Fragen gar nicht mehr thematisieren konnte«,11 weil die »parafiskalischen« Abgaben von der parlamentarischen Steuerbewilligung getrennt waren. Folglich wurde das Hohe Gericht kaum angerufen.

Diese Ausgangslage hat sich allmählich verkehrt. Die seit drei Jahrzehnten gestiegene Bereitschaft, mit fiskalischen Sonderlagen zu experimentieren, spült auch dem Verfassungsgericht Fälle zu, die ihm Anlass für Interventionen bieten. Denn warum sich unter den beschriebenen Voraussetzungen jeder hartnäckige Wirtschaftseinbruch (man denke zuletzt nur an den Beginn eines Zollhandelskriegs unter Trump II) und ohnehin eine Transformation (heute: Demografie, Digitalisierung, Ökologie, Migration, Finanzialisierung usw.) in eine Fiskal-, Integrations- und letztlich Systemkrise zu übersetzen drohen, versteht sich eigentlich leicht, war doch »Wachstumsvorsorge« ohne umverteilenden Eigentumseingriff zur heimlichen Staatsräson geworden.12

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