Heft 898, März 2024

Austerität und Ausnahme

Die Politik der Staatsausgaben nach der Karlsruher Entscheidung von Sebastian Huhnholz
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Die Politik der Staatsausgaben nach der Karlsruher Entscheidung

Nach allgemeiner Wahrnehmung stürzte das Mitte November 2023 vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündete Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt die amtierende Bundesregierung in eine veritable Krise. Karlsruhe hatte die bisherige Großzügigkeit des politischen Betriebs mit der verfassungsrechtlich verankerten »Schuldenbremse« »ausgebremst«.1

In der Tat war das Urteil ein Paukenschlag. Ein ähnliches Haushaltsproblem von Finanzverfassung wegen hatte die Bundesrepublik noch nie erlebt. Das liegt weniger daran, dass die grundgesetzgeschichtlich recht junge Kreditqualifizierung noch auslegungsbedürftig ist – Karlsruhe hat hierzu nun ein Grundsatzurteil mit einigermaßen viel Handlungs- und Interpretationsspielraum vorgelegt, durch das Regierung und Haushaltsgesetzgeber eigentlich verlässlicher und kreativer arbeiten könnten. Das notorische, ja geradezu paradigmatische Phänomen besteht vielmehr darin, dass die maßgeblichen Milieus der demokratischen Öffentlichkeit sich für die fiskaldemokratisch faszinierendsten Verfassungsfragen genauso wenig interessieren wie die im engeren Verständnis wirtschaftspolitischen Beratungs- und Expertenkreise der deutschen Bundesregierungen. Indigniert bemerkte ein wiederholt zu Rate gezogener Top-Ökonom im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, er müsse jetzt offenbar Verfassungsrecht »zur Kenntnis« nehmen.

Genau. Die Besonderheit der laufenden Haushalts- und Regierungskrise ist nicht das Geld an sich und auch nicht, dass es sich um Geld für politische Zwecke handelt. Durch Zahlen ist nicht erklärlich, was hier geschieht. Das im Bundesetat überraschend entstandene »Loch« von zunächst 60, kurz darauf immerhin noch 17 Milliarden Euro ist eine Rechengröße von einem Umfang, der weder angesichts der öffentlichen Jahresbudgets von fast einer Billion Euro für Bund, Länder und Kommunen in Deutschland schrecken müsste noch vor dem jüngeren Erfahrungshintergrund anscheinend omnipotenten Geldes unfassbar wäre. Immerhin befinden wir uns weit im zweiten Jahrzehnt nach einer Banken- und Finanzmarktkrise, seit der, durch die Covid-Pandemie verstärkt, Grenzen zwischen Fantasie und Mathematik sowie Unterscheidungen nach Gebern und Nehmern nach allen lebens- und erfahrungsweltlichen Maßstäben aufgehoben sind.

Das Problem ist eher, dass der Finanzpolitik die Orientierung über ordentliche Rechtsgrundlagen, insbesondere über die Gründe für das verfassungsdemokratisch zulässige Spektrum, abhanden gekommen ist und dass sich die Bundespolitik darum seit Jahren so sehr an den Schwund effektiver Kontrolle über gewaltige Ressourcen außergewöhnlicher Herkunft gewöhnt hat, dass selbst nach einer Phase erster, allemal verständlicher Panik und Sondierung viele der politisch in Reaktion auf das Karlsruher Urteil auf dem Tisch liegenden Haushaltssanierungsvorschläge in einem verfassungswidrigen Spektrum verbleiben. Längst finden sich gewichtige Kommentare, die die ernüchternden Berliner Anpassungspläne als vertane Chance evaluieren. In der bundespolitischen Disposition, der finanziellen Opferbereitschaft des Souveräns zu misstrauen und statt auf gesellschaftliche Solidarität auf Schulden zu setzen, zeigt sich eine demokratisch abgründige Skepsis von oben. Hinter dem Anschein bloß wirtschaftspolitischer Zweckmäßigkeit wird die Rechtfertigung von Politik gemieden und die budgetäre Folgenbewältigung in den Sachzwängen späterer Haushaltsjahre versteckt. Die eigentliche Misere besteht somit darin, dass man weiterhin nach Krisen sucht, um fiskalische Ausnahmezustände in Permanenz zu begründen.

Es verweist auf eine hartnäckige Mentalität, wenn verschiedene Bundeskabinette und Bundesministerien nacheinander und fortwährend meinen, zweckgebundene Kreditoptionen und neuerdings sogar Sozialversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit nachträglich in frei verfügbare Etatposten des Primärsteuerfiskus umdeuten zu können, also einen vom Parlament ausnahmsweise genehmigten Notfallschuldenrahmen in willkürliche Verschiebungsmasse der Regierung umzudefinieren. Die von Karlsruhe beanstandete Tendenz, durch Nachtragshaushalte rückwirkend die Finanzrahmen bereits abgelaufener Haushaltsjahre zukunftsbelastend auszureizen, war ein besonders markanter, offenbar allerdings nur vorläufig letzter Ausdruck dieser Mentalität. Denn konnte selbst der anschließende, im November 2023 akute Handlungsdruck erneut durch einen korrektiven, freilich pragmatisch-moderaten Nachtragshaushalt nebst Entnahme von Rücklagen gemildert werden, lässt die Bereinigungsvorlage für den 2024er Haushalt wieder ganz den Willen zu fortgesetzter Verwirrung erkennen.2 Zu sehr wohl haben sich Bundespolitik und deutsche Öffentlichkeit im begonnenen Jahrhundert auf den Doppelstandard konditioniert, das pseudosakrale Askese-Mantra einer verfassungsgarantierten Verschuldungsschranke vor sich herzutragen und zugleich durch eine permanente Suche nach mehr oder minder kreativen Umgehungschancen sozusagen aufs finanzpolitische Gaspedal zu treten. Allein darum wird die ohnehin nun stark reformbedürftige Schuldenbremse alsbald entweder ganz fallen oder durch konstitutionalisierte Sondervermögen konterkariert.

»Gotcha!«

Angesichts bereits anderthalb Jahrzehnte währender Krisen westlicher Staatsfinanzen, Unmengen von Steuerskandalen, oben und unten extrem verdichteter sozialer Ungleichheit, unbezahlbarer ökopolitischer Transformationsherausforderungen und zuletzt einer sogar mit Abertausenden Traktoren auch auf den Straßen des Landes ausgetragenen Bundeshaushalts- und Regierungskrise wäre vielleicht anderes zu erwarten als fortgesetzte Schummelei und finanzpolitischer Selbstbetrug, zu wünschen allemal. Das setzte aber voraus, die Staatsfinanzen einer Demokratie als politische Angelegenheit zu begreifen und nicht durch eine allgemeinwirtschaftliche Brille zu sehen, Fiskus und Budget also nicht als Frage letztlich bloß technischer Art, als demokratisch gleichgültige und verfassungsrechtlich beliebige Beschaffungsmächte und -größen zu verstehen.

Daran, dass weder Legislative noch Judikative der Bundesrepublik über eine politische, geschweige denn demokratische Theorie des Fiskus verfügen, war Karlsruhe freilich nicht ganz unbeteiligt.3 In der bundesrepublikanischen Nachkriegstradition, demokratischen Forderungen mit wirtschaftsdynamischer Verteilung zu begegnen, hatte das höchste Gericht das finanzdemokratische Möglichkeitsspektrum gleichsam verdrängt4 und ist dabei selbst von der Politikwissenschaft nicht weiter gestört worden.5 Dass zudem ein mächtiger Verfassungsrechtler und -richter wie Paul Kirchhof seine Privatüberzeugung von steuerlicher Konfliktvermittlung über Jahrzehnte als Verfassungsnorm kultivieren konnte,6 hat der Entfremdung zwischen Rechts-, Finanz-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft weiter Vorschub geleistet. Die Grund-, Verfassungs-, Steuer- und Schuldenrechtslage dazu jedenfalls wird abseits juristischer Zirkel gewöhnlich ignoriert. Umso mehr können legitimationspolitisch und quellenrechtlich sensibel zu unterscheidende Einnahmeressourcen (Steuern, Schulden, Beiträge usw.) und Ausgabenzwecke (allgemeine Aufgabendeckung, Nothilfe, Investitionen, erworbene Leistungsansprüche usf.) mit einer Schludrigkeit und Gleich-Gültigkeit diskutiert werden, die zu politischem Missbrauch geradezu einladen.

Man trifft hier auf die vieldiskutierte Eigenheit, dass ausgerechnet in einem schon früh als Wirtschaftsverwaltungsstaat charakterisierten Wohlfahrts-, Sozial-, Steuer- und Daseinsvorsorgestaat wie der Bundesrepublik Reden über Geld immer schon unwirklich war. Die Weimarer Tradition, dass sich nicht die Steuer- und Haushalts-, sondern die Lohnpolitik als demokratisches Hauptkampffeld dynamisch integrierter Verteilungskonflikte etablierte,7 setzte sich in den Trente Glorieuses der Bonner Wirtschaftswunderrepublik fast bruchlos fort.8 In der männlichen Vollerwerbsgesellschaft der Massendemokratie war nun allerdings »der Steuerzahler« das schillernde Zentralgestirn des Staatshaushalts.9 Staatsgeld stand dabei am Rand. Geld war Privatsache oder prozentmäßige Verhandlungsmasse produktionswirtschaftlich angeleiteter Auseinandersetzungen. Das erschwerte gehaltvolle und verfassungsrechtsnahe Diskurse über geordnete Verschuldung, denn so schien es, als seien öffentliche Kreditaufnahmen lediglich Vorgriffe auf spätere Steuereinnahmen, deren volkswirtschaftliches Sprudeln der Staat nicht durch übermäßige Einmischung riskieren dürfe.10

Die aus unseren Universitäten verdrängte sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung beißt sich daran immer wieder die Zähne aus. Die öffentliche Szene bleibt von oft parteinahen Experten der lehrbuchschönen Neoklassik dominiert: Angebot-Nachfrage, »invisible hand«, Konjunktur und Arbeitsmarkt, fertig. Einfachste Fiskalfragen (Was sind Steuern? Was ist Geld?) lassen sich öffentlich kaum darstellen, mit zählebigen Mythen (Kredite sind Schulden! Geld wird gedruckt!) hingegen werden ganze Parteiprogramme gefüllt und Wahlkämpfe bestritten. Fundamentale Felder der öffentlichen Finanzen – EU-Budget, Kommunalfinanzen, Länderfinanzausgleich, Parteien- und Stiftungsfinanzen, Pflegeversicherung, Zentralbanken etc. – finden im öffentlichen Diskurs nur schlagworthaft Platz. Ihre Bedeutung bleibt zumeist ebenso unverständlich wie der steuerliche Sinn der jüngst allseits verlachten Agrardieselsubvention für Landwirte.

Schon darum geht uneigentliches Sprechen immer. Es ersetzt das Politische der Öffentlichen Hand und der Politischen Ökonomie durch Phrasen und mythische Scheinwahrheiten: von »Bazooka« bis »Doppel-Wumms«, von »schwäbischer Hausfrau« bis »Steueroase«, von »Schwarzer Null« bis »Schuldenbremse«. Aber konkrete Vorstellungen zu geben – keine Chance. So dringlich das Thema Staatsfinanz auch ist, wird es hierzulande spröde normiert oder populistisch traktiert. Von Peter Sloterdijk bis Elfriede Jelinek gehört die öffentliche Hand irgendeinem Untoten. Dem einen fehlen Dankesschreiben des Finanzamts, die andere mutmaßt, die »Einkommenssteuer hat mehr Kriminelle geschaffen als jedes Gesetz. Gotcha!«11

Krise mit Ansage

Diese strukturlibertäre Vorstellungskultur stellt das höchstrichterliche Urteil vom November 2023 keinesfalls ab. Aber sie hilft zu verstehen, woher die anhaltende Verwirrung rührt. Man hatte sich seit den Nullerjahren daran gewöhnt, dass eine Regierung nach der nächsten die mittlerweile notorisch wiederkehrenden Krisen und innere politische Koalitionskonflikte mit Vorgriffen auf zukünftig fällige Ressourcen zu moderieren versucht statt durch das Geld womöglich widerspenstiger Bürgerinnen und Bürger. Der grundgesetzlich zulässige Rahmen war dabei immer weiter gedehnt worden – trotz Rekordsteuereinnahmen. Gleichzeitig bestärkten und bestätigten diese fetten Jahre die finanz- und finanzverfassungsrechtliche Ignoranz. Als hätte mittlerweile nicht eine akademische Politische Ökonomie sogar sehr populär die Unwirklichkeit der fiskalischen Gegenwart öffentlich kommentiert – Wolfgang Streeck, Mariana Mazzucato, Philip Manow, Thomas Piketty, um nur diese zu nennen –, hatte sich die Bundesrepublik in der finanzpolitischen Sackgasse der Konfliktvermeidung und Entscheidungsvertagung durch Pump eingerichtet. Auch darum vielleicht wollten die drei aktuellen Koalitionsparteien und das Spitzenpersonal ihrer maßgeblich beteiligten Bundesministerien – Kanzleramt, Finanz- und Wirtschaftsministerium – bis zum 15. November 2023 kein Problem erkennen.

Dass die fetten Jahre auch wieder enden würden, war zu erwarten. Insofern war die jüngste Haushaltsmisere zugleich Krise ohne Alternative wie Krise mit Ansage. Der spätere Prozessbevollmächtigte der in Karlsruhe klagenden Bundestagsabgeordneten, der Heidelberger Finanz- und Steuerjurist Hanno Kube, hatte schon während eines Hochs der Corona-Phase im Jahr 2021 vor dem immer exzessiveren Gebrauch von Notlageargumenten zur Begründung irregulärer Schuldenaufnahmen gewarnt. Die ständige Begründung »und weitere Nutzung der Notlagenklausel mit – noch so förderungswürdigen – Investitionsvorhaben, die eindeutig pandemieunabhängig sind und teilweise schon vor Beginn der Pandemie im Raum standen (Klimaschutz, Gestaltung des digitalen Wandels etc.)«, sei verfassungsrechtlich unhaltbar, so Kube.

Er hatte damit ein temporalpolitisch doppeltes Denkmuster identifiziert, das sich noch bis in allerjüngste Reformversuche fortschreibt: Unverbrauchte Kreditaufnahmespielräume aus einmalig und konkret legitimierten Katastrophenbewältigungsetats abstrakt begründet zu parken für ganz anders geartete Zwecke und dabei zugleich die Zukunft zu einer ständigen »Notlage«, faktisch also zum unbestimmt außergewöhnlichen Normalfall zu erklären. Unter dem Vorwand wünschenswerter Unglücksvorsorge den Kernhaushalt des Bundes mit irregulären Krediten aufpumpen zu wollen, lässt ja nicht nur haushaltspolitische Verantwortung und Gestaltung vermissen, sondern öffnet auch eigentümliche Ermessensspielräume jenseits parlamentarischer Kontrolle und haushaltswirtschaftlicher Vernunft. Welche Politikziele dabei verfolgt werden würden und warum diese vor anderen dringlichen Aufgaben priorisiert werden sollten, schien der Mitbestimmung des Wahlvolks und der Aufsicht des Bundestages potentiell entzogen.12

Das Karlsruher Urteil ist solchen Einsichten weitreichend gefolgt. Es blieb dabei durchaus reserviert. Typischerweise geben Finanzverfassung und parlamentarisch zentriertes Haushaltsrecht nicht vor, von wem genommen werden kann oder gar wie viel genommen werden soll, sondern nur, wann wie durch wen genommen werden darf. Hier bleibt also alles beim Alten. Karlsruhe schreibt sich nicht einmal quantitative Prüfungsvorbehalte nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu, obwohl die Suche nach geeigneten Referenz- und Relationswerten – ab welcher Summe im Verhältnis zu welchen Einnahmen dürfen Kosten als außergewöhnliche Belastungen betrachtet werden, um die Schuldenbremse auszuhebeln? – erwartbarerweise die politische Fantasie sprießen lässt. Karlsruhe hielt sich hier bedeckt. Die Auslegung, welche Finanzierungsanforderungen wie erheblich und außergewöhnlich oder wie belanglos, stetig oder nebensächlich sind, obliegt weiterhin einzig und allein dem Parlament. Ihm gegenüber ist die Regierung rechenschaftspflichtig.

Genau deswegen allerdings passt eine Regierung, die für die redliche Beschaffung öffentlicher Mittel gar nicht verantwortlich, weil zwar praktisch zur spontanen Ausgabenbewilligung befähigt ist, aber mittelfristig selbst nicht politisch in die Verantwortung genommen werden kann, in kein demokratisches und parlamentarisches Schema. Wo zweckbestimmte Kreditermächtigungen der Vergangenheit für formal ungenehmigte Zukunftspläne umfrisiert werden sollten, hätte die Koalition mit gewissermaßen noch ungedeckten Schecks, und ohne den demokratisch legitimierten Haushaltsgesetzgeber zu fragen, auch zukünftig Regierende auf die womöglich sehr langfristige Übernahme kostspieliger Vorlieben der gegenwärtigen Regierung verpflichten können. Die parlamentarismusgeschichtlich so fundamentale Ursprungs- und Leitkompetenz des Haushaltsrechts, die demokratische »Königsdisziplin« also, wird einkassiert, wenn eine Regierung unverbrauchte Kreditermächtigungsreserven der Vergangenheit für letztlich beliebige Notfallszenarien vorhält.

Kritik der Krise

So besehen ist nicht einfach die gegenwärtige programmatische Koalitionskonstellation Schuld: gegen Kürzungen (Kanzler-SPD), gegen Klimawandel (Habeck-Grüne), gegen Steuererhöhungen (Lindner-FDP). Sicher: Alle sollten und wollten alles bekommen. Und zweifellos bestehen erhebliche Unwägbarkeiten fort: volkswirtschaftliche Performanz; russische Konsolidierung der wirtschaftlichen und militärischen Kriegsführungskapazitäten; voraussichtlicher Rückgang des US-amerikanischen Nato- und Ukraine-Engagements; Wiederwahlrisiko Donald Trumps. Und nicht zuletzt schließt sich in diesem Jahr ein Gelegenheitsfenster, die Finanzverfassung noch ohne AfD, Rest-Linke und Wagenknecht-Gruppe mit bequemen Supermajoritäten zugunsten der etablierten Parteien zu reformieren. Das ist alles nicht beneidenswert. Eben darum aber trifft hier kein Parteiprogramm die Schuld und ist die Verantwortung für die Querelen auch nicht bei einem neuen Regierungsstil zu suchen.

Treten wir diesen Schritt zurück, wird ersichtlich, warum das Gros der schnell publiken Reflexe den Wesenskern des Grundsatzurteils verfehlt und damit den oben beschriebenen Weg der Ignoranz fortsetzt. Seit Jahren schnüren Weltlage und Zeitgeist den deutschen Regierungen Angebotspakete, die sich als außergewöhnliche Herausforderungen darstellen und theatralisch mit dem Narrativ der Alternativlosigkeit belegen lassen.13 Ob Finanzmarkt-Crash und Bankenzerfall, ob Klima und Migration, ob Pandemie oder Ukraine-Krieg: Die Schockevidenz unabweisbar gebotener Nothilfe immerhin fragt nicht nach Ge- und Verbot, sondern setzt auf das eigendynamische Mitwirken der Ereignishaftigkeit. Das Jenseits-aller-Routinen-Spiel lässt sich einhellig spielen, solange Geld fließen darf: Was für den Bürger das Einblenden von Spendenkontonummern bei Katastrophenmeldungen ist, funktioniert in der Politik mittlerweile ähnlich beim Sondervermögen, einer Anomalie im Haushaltsrecht zwar, deren tatsächliche Zahl zuletzt aber immer ungehinderter wachsen konnte.14

Es verwundert darum nicht, dass viele Reaktionen auf das Karlsruher Urteil diesen Trend fortsetzen wollen. Die angestammte Lösung bleibt ja allenthalben auf der Hand: Es fehlt Geld, also muss Geld her. Insofern aber war es doch eher die Art dieser Krisenbehauptung, mit der übergangen wurde, was geschehen war. Denn da die Regierung keine Einigung mit der klageführenden Opposition anstreben und auch nicht zu kreativen Not- und Ausnahmelösungen greifen wollte – Aufrufe, das Spendenkonto der Bundesrepublik zu füllen, Staatsschatzverpfändungen oder -verkäufe, Aussetzen von Steuervergünstigungen und -verschonungen, Aufschub von Sonderzahlungen im Öffentlichen Dienst des Bundes, gestückelte Übertragung von Investitionspflichten auf die verschuldungsflexibleren Kommunen (die Gemeinden sind nicht an die Schuldenbremse gebunden, sondern dürfen sich in Höhe ihrer Investitionen verschulden) usw. –, lag nach Maßgabe eingeschliffener Routinen nur ein Zeitproblem vor. Angesichts eines verfassungsrechtlich verschlungenen und in den Ausstrahlungswirkungen auf weitere Schatten- und Sonderhaushalte unabwägbaren Urteils hatte Karlsruhe den Weg versperrt, sehr kurzfristig zum einfachsten Mittel zu greifen und einige Milliarden mehr an Schulden in einen weiteren Nachtragshaushalt zu integrieren, sei es als Sonderhaushalt, sei es als interministeriale Verbindlichkeitsumschichtung oder anderes. So entstand das Risiko, einen unzureichend bedachten Nachtragshaushaltsentwurf eilig in den parlamentarischen Prozess zu geben, der sich schon unterhalb der fälligen Lesungen als verfassungswidrig entpuppt.

Alternativ zu den abhanden gekommenen Kreditreserven und ohne politischen Mut griff folgerichtig der spiegelbildliche Routinereflex: Sparen. Statt also das Urteil auf seine politischen Ursachen hin zu befragen, wurden die finanzwirtschaftlichen Folgen fixiert und sorgten für verlässliche Proteste. So übertönten die öffentlichen Stimmen die allgemein perplexe Stimmung und erstickten, was die Gunst der Stunde an politischen Chancen bereithielt. Zwar wusste man trotzdem nicht, woher das Geld sonst kommen sollte, aber man wusste, dass übliche Verdächtige allerlei erwartbare Vorschläge in der Schublade hatten, die umgehend von anderen üblichen Verdächtigen zurückgewiesen werden würden, und so konnte sich die Bundesregierung bis zum Jahresende hangeln. Man spielte auf Zeit, um sich selbst zu vergewissern, ob überhaupt Krise sein solle – und wenn ja, warum und in welchem Ausmaß.

Die einfachste Metaperspektive auf das, was hier vorging, lässt sich also durch den Wechsel der Beobachtungsdimension einnehmen: Zeit ist Geld. Das Karlsruher Urteil stürzte die Bundespolitik aus deren Sicht nicht in ein grundsätzliches Dilemma, sondern in eines von nur kurzer Dauer. Weil seine Verkündung auf den Jahresausklang fiel, waren viele haushaltswirtschaftlich gewohnte Übergangslösungen schließlich nicht prinzipiell, sondern nur punktuell, am Ende des Jahres 2023, verfassungswidrig. Der im Urteil inhaltlich keineswegs angelegte Handlungsdruck entstand also nicht durch politische Tonalität oder grundgesetzliche Textualität, sondern durch Temporalität. Im konventionellen Denkmodus erforderlich gewesen wäre: Am Ende des ausgehenden Haushaltsjahrs 2023 einen Nachtragshaushalt zu formulieren, der einerseits rückwirkend eine gar nicht vorhandene Notlage konstruiert (um die Schuldenbremse auszuhebeln), und diese Notlage andererseits so zu begründen, dass ein koalitionärer Konsensentwurf noch vor den Feiertagen dem Parlament als verfassungskonforme Gesetzesvorlage präsentiert werden konnte (um verschiedenen Varianten naheliegender Koalitionsaufkündigungen mit unabsehbaren Folgen für Regierungswechsel, Vertrauensfrage, Neuwahlen usw. zuvorzukommen).

Und angesichts der obendrein durch föderalistische Grätschen – also strategisches Verhalten von Ministerpräsidenten und bundesratliche Interessenkoalitionen – nochmals weniger planbaren Komplexität blieb als Antwort nur: Minimalkompromiss in Rekordzeit erreichen, termingerechte Haushaltsgesetzesreform zur letzten Sitzungswoche des Parlamentsjahrs mindestens fingieren und, keinesfalls zuletzt, ein schnelles Bauernopfer bringen, das keiner Koalitionspartei schadet. »Onkel Gatzer«, der Langzeitpate des Bundeshaushalts Werner Gatzer, ein durch diverse Koalitionen von allen großen Parteien gehaltener und bemerkenswert eigensinniger Spitzenbeamter, in nahezu jeder Hinsicht der Inbegriff eines fiskalvirtuosen Boomers im Steinbrück-Schäuble-Scholz-Finanzkrisenkarussell, wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt.15

Notströme

All dies bedeutet freilich auch: Wirklich angekommen ist die demokratische Fundamentalkritik des Urteils in Berlin nicht. Weiter sucht man nach Ausnahmen und versucht, sich über den Tag beziehungsweise bis zum jeweiligen Haushaltsjahresende zu retten. Zwar lässt die politische Klaviatur von Ausnahme und Exekutive in Deutschland nicht nur semantisch bedingt viele Alarmglocken schrillen – aber ausgerechnet bei potentiell zweckentfremdeten Unsummen aus dubiosen Quellen in Regierungshänden springt hierzulande weiterhin nichts an –, obwohl sogar das historische Problemfeld heikler »Verfassungslücken«, auf denen der Ausnahmezustandstheoretiker und juristische Steigbügelhalter der Nazis Carl Schmitt sein unseliges Wirken gründete, finanzverfassungspolitischen Ursprungs ist. Nicht einmal, dass aktuell sogar versteckte Kriegsfinanzierung aus dem Sondervermögen Bundeswehr versucht wurde, schien dabei von großer Bedeutung:16 zu kompliziert, obwohl auch geo- und bündnispolitisch gefährlich.

Aber selbst unbeschadet konkreter Fälle und abstrakter Bedenken setzt die Notlagelogik perverse Anreize: Wird die Konstruktion, ja, Erfindung von Notlagen für die Bundesregierung zum Normalfall, um unter Umgehung der Schuldenbremse allerlei Sondervermögen zu erschaffen und selbst kleinere Haushaltslöcher zu stopfen statt über den Kernhaushalt abzuwickeln, dann wird nicht nur der rückwirkende Notstandsbeschluss eine finanzpolitisch attraktive Option. Sondern die Suche nach oder sogar die wenigstens fahrlässige Herbeiführung außergewöhnlicher Notlagen könnten die exekutive Fantasie beflügeln und vielleicht sogar auf eine dankbar entlastete Landes- und Kommunalpolitik treffen, die gegen Bundeshilfen nichts einzuwenden hat, Bedenkenträger an der Basis ruhigstellt und die Zentralisierung der Berliner Republik weiter zementiert. Wer das für Hirngespinste hält, hat verpasst, wie nicht nur Haushaltspolitiker zu Jahresbeginn die Sturmfluten und Überschwemmungen in Norddeutschland kommentierten. Die Hochwasserlage schien weniger eine Katastrophe als eine günstige Gelegenheit zum weiteren Schleifen der Schuldenbremse: Ließ sich hier nicht eine hinreichende Notlage absehen, wenigstens eine kleine?

Als Präzedenzfall spielen ja auch die bundespolitischen Ahrtal-Hilfen in den jüngsten haushaltsgesetzlichen Erwägungen nicht ganz zufällig eine eindrückliche Rolle. Denn beim Ahrtal-Fall kamen mehrere Dimensionen vorbildlich zusammen: nachträglich konstruierte Finanznot (die »außergewöhnliche Notlagensituation« wurde nicht 2021 festgestellt, sondern im Nachtragshaushalt 2023), vergleichsweise unerhebliche Beträge, Verstetigung der Hilfe, Bundes- und Landeskompetenzendiffusion etc.17 Überhaupt ist nicht zu unterschätzen, dass die gestiegene Neigung, Missstände zu identifizieren und nötigenfalls zu kumulieren, um Anlässe für strömende Schulden zu finden, vom Bund stark auf die Länder abfärbt.18

Der Reiz, retrospektive Überraschungsmomente zu konstruieren, strahlt aber nicht nur finanziell in die Zukunft. Auch Planungsspekulationen werden betroffen, denn rückwirkende Aushebelungen der Schuldenbremse erlauben, sind sie erst einmal Routine für sogar geringfügige Summen, strategische Umgehungen der regulären Haushaltsplanung. Prinzipien der Haushaltsplanung wie »Vorherigkeit« und »Vollständigkeit« würden torpediert, die gewährleisten sollen, dass das Parlament weiß, was es genehmigt, und nicht einfach Blankovollmachten erteilt. Serielle Nachtragshaushalte hingegen verwandeln die ausgefeilte Machtbalance zwischen Regierung und Parlament in asymmetrische Bilanzmacht: Die Regierung definiert dann verschuldungswirksam nach Gusto neu, was unter dem Strich steht oder gemäß nachträglichem Notstandsbeschluss gestanden haben sollte.

Ein solches Ex-post-Facto-Budget leitet die Vergangenheit aus Gegenwartswünschen ab; genau das ist die schmittianische Finanzstaatslogik der »Prämie auf den legalen Machtbesitz«. Immerhin lassen sich antizipierte Nachtragshaushalte für eine temporalpolitische Gestaltung partei- und regierungspolitischer Anliegen einsetzen, zur Schwächung politischer Gegner, für zeitgerechte Wahlkampfgeschenke und anderes mehr. Und in dieselbe rationale (oder perfide) Logik der Politik gehörte, Sondermittel zur Katastrophenbewältigung vorsätzlich so rücklagenfreundlich zu dimensionieren, dass sich einkalkulierte Überschüsse massiven Umfangs als freibriefliche Finanzmittel vorhalten lassen.

All dies und mehr ließ sich spätestens seit der finanziellen Ausgestaltung der Corona-Pandemie mutmaßen und wurde gelegentlich kritisch diskutiert. Waren aber diese Pandemie und die bedrückende Vielfalt ihrer ökonomisch relevanten Begleiterscheinungen noch ein Paradebeispiel für die notlagenbedingt zulässige Umgehung der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse, mochte die nonchalante Zweckumlenkung verbliebener Sonderkreditspielräume durch die Bundesregierung zwar erstaunen. Noch wenige Tage vor Urteilsverkündung gab man sich sowohl auf etablierter Staatssekretärsebene im Finanzministerium wie auch seitens der Gruppenleitung Finanzpolitik und Finanzmärkte im Bundeskanzleramt gelassen, vom finanzpolitikberuflich versierten Bundeskanzler gar nicht zu reden. Doch ist hier Vorsatz zu unterstellen, nicht Naivität oder Verlegenheit. Man wollte einfach austesten, wie weit der seit Jahren eingeschlagene Weg reichte.

Dieser Test ist unerwartet krachend gescheitert. Dass Karlsruhe so grundsätzlich intervenieren könnte, war nicht eingepreist worden, und der ungünstige Zeitpunkt war Pech. Pech allerdings, das nun kleben bleibt und abfärbt, weil das Urteil eben nicht als demokratische Verfassungsaussage aufgenommen, sondern in der Tradition materieller Verteilungslösungen interpretiert wird. Bedenkt man, was im und seit November 2023 an schnellen Einsparvorschlägen so alles herumgeisterte – Verzicht auf Kindergrundsicherung, Kürzung des »Bürgergelds«, Repression Erwerbsarbeitsloser, Streichung von Entwicklungshilfe und Ukraine-Unterstützung, Einstellung strategischer Zukunftsinvestitionen etc. –, ist weithin einsichtig, dass darin keine echten Lösungen liegen, weil kommende Haushaltslöcher ernste, ja irreversible Schäden für die soziale und die geopolitische Sicherheit bewirken. Auch allerlei radikalpopulistische Konsequenzen der alten Austeritätspolitik sind im Ländervergleich mittlerweile zu verlässlich erforscht, als dass ihre Verschärfung einfach riskiert werden könnte.19 Die Antizipation kommender Notlagen, die als solche legal behandelt werden dürften, sowie die Suche nach allen möglichen haushalts- bis verfassungsrechtlich zulässigen Schlupflöchern geht darum munter weiter.

Re-Legalisierung der Finanzverfassungswirklichkeit

Seine Gelegenheit zur Abwehr finanzwillkürlicher bis chaotischer Selbstermächtigungschancen hatte Karlsruhe eigentlich für einen Rundumschlag genutzt. Rigoros drängte das Grundsatzurteil vom November auf Re-Legalisierung der Finanzverfassungswirklichkeit, auf strenge, ja stellenweise überstrenge Bindung haushalterischer Möglichkeiten an den periodisch engen Handlungsrahmen parlamentarischer Haushaltsgesetzgebung, der sich im Urteil in der Paarung von Jährlichkeit und Jährigkeit ausdrückt. Der finanzpolitische Spielraum der Regierung, heißt das vereinfacht, soll sich nach dem Kalender richten und nach dem im steuer- und verschuldungsrechtlich zulässigen Rahmen volkswirtschaftlich plausiblen Volumen eines Haushaltsjahrs. Abgeleitet aus dieser haushaltsgesetzlichen Wiederfixierung im Rhythmus funktionaler Annuität wird überdies eine unbestimmte Norm zur Qualifizierung möglicher Ausnahmen: Je länger kostenträchtige Zu- und Unfälle her sind oder noch hin sind, desto größerer Darlegungsdruck fällt auf den Haushaltsgesetzgeber, extraordinäre Finanzierungswege zu begründen. Denn eine allmähliche Anpassung der Politik an die Verhältnisse sei zumutbar, die Behauptung von Sachzwängen und Notfalllagen nach exekutiver Opportunität stattdessen nicht.

Stellenweise lässt das Urteil in seinen Argumenten fast etwas wie Schadenfreude darüber erkennen, dass die bundeshaushalterischen Husarenstücke der letzten zwei Jahrzehnte letztlich in eine verfassungstechnische Sackgasse führten. Das spiegelt in verschiedenen Hinsichten das politische Selbstbewusstsein des Bundesverfassungsgerichts, wenn nicht gar eine eigene Karlsruher Agenda.20 Denn ausführlich stellte das Gericht zugleich fest, dass insbesondere ökologisch noch so dringliche Transformations- und Präventionsinvestitionen den fraglos verheerenden Klimawandel nicht auch haushaltspolitisch zu einem unvorhersehbaren, also katastrophalen Ereignis machen. Der Klimawandel sei keine Ausnahme, sondern eine neue Normalität, folglich auch im regulären Haushalt verbuchbar, per anno also, im Voraus, und dann irgendwie vollständig, notfalls sogar durch ordentliche Schuldenaufnahme, die aber, per volkswirtschaftskompatibler Konjunkturkomponente, ebenfalls jahresrhythmisch gebunden ist, wenngleich aus Tradition und Konvention.21

Das schießt augenscheinlich über das Ziel hinaus. »Das Bundesverfassungsgericht«, heißt es in einer enttäuschten Einschätzung über diese verordnete Schubumkehr, habe »sich nicht dazu durchringen können, die Periodizität des Haushaltsrechts situationsbedingt auszulegen. Dabei folgen Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen keiner kalendarischen Logik«, und auch in puncto Generationengerechtigkeit hintertreibe das Urteil die selbstgesetzten Standards.22 Und doch: Katastrophen gewissermaßen als politischen Mehrwert zu interpretieren, nämlich juristisch besehen als Vorwand für irreguläre Staatsverschuldung und phänomenisch besehen als Allzweckausrede zum Vorhalten eines Regierungsschatzes für höhere als demokratische Zwecke, war genau die Gefahr, die das Karlsruher Urteil reflektiert.23 Wer gewaltige Summen wofür auch immer benötigt, soll sie sich legal verschaffen.

Die wirtschafts- und finanzideenpolitische Trägheit der steuerstaatlichen Monokultur Deutschlands steht dem natürlich ratlos gegenüber. Wie groß das finanzwirtschaftliche und wirtschaftspolitische Kreativitätspotential ist, das sich derzeit eigentlich ergeben könnte, wird nicht diskutiert. Die intellektuelle Dressur auf Staatsfinanzen als Steuern und /oder Schulden bewirkt, dass derzeit nur gesehen wird, was an überkommenen Gewohnheiten nun vorübergehend verbaut ist. Einmal gewendet, konditioniert das Urteil aber ja nicht allein alte Finanzierungswege, sondern auch die Erschließung neuartiger und alternativer Finanzressourcen, von denen es in der Finanzgeschichte und in anderen Fiskalkulturen nur so wimmelt.

Auch für sie diktierte Karlsruhe jenen etwas ominösen Dreiklang von Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit, einen neuen Haushaltsgrundsatz für die Bundespolitik, durch den, unter anderem, einerseits ökonomische Buchungseffekte von Sonderkrediten und Sonderhaushalten auf den Kernhaushalt berücksichtigt werden müssen (zum Beispiel faktisch fällige Zinsen), was eine gewisse Verhältnismäßigkeits- und stete Kostenprüfung durch das Parlament ermöglicht, und andererseits Sonderkredite nicht mehr überjährig und fern ihrer Kernhaushaltswirksamkeit operabel macht. Gemessen an der bundesrepublikanischen Tradition und kreditwirtschaftlich betrachtet ist diese Strenge Nonsense, schafft vor allem finanziell ineffiziente Anreize für strategische Parlamentsmanöver und reduziert Verlässlichkeit der Katastrophennachsorge.24 Aber rein formalistisch besehen schließt die jährliche Genehmigung der Verwendungsmöglichkeiten und des laufenden Kostenrahmens durch den Bundestag nur aus, dass ministeriell spontaner Raubbau am zukünftigen Gemeinwohl, insbesondere plötzlich eingegangene Kreditkostenverpflichtungen auf den Kernhaushalt drücken und dadurch die ohnehin spärlichen Freiheitsgrade des Budgets schmälern. Wer sich nichts anderes vorstellen kann oder mag als diese nun erstmal erledigte Option, sollte vielleicht nicht Karlsruhe die Schuld geben.

Anmerkungen

1

Neben den veröffentlichten Gerichtsunterlagen erläutert und kommentiert die hilfreiche Serie Ausgebremst: Die Haushaltsentscheidung des BVERFG und die Zukunft der Finanzverfassung des Verfassungsblogs viele Details, auf die sich auch das Folgende bisweilen stützen wird.

2

Der zum Abschluss dieses Beitrags aktuelle Entwurf eines Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetzes 2024 findet sich unter: dserver.bundestag.de/btd/20/099/2009999.pdf

3

Zum Überblick vgl. Ulrich K. Preuß, Rechtsstaat – Steuerstaat – Sozialstaat. Eine Problemskizze. In: Dieter Deiseroth u.a. (Hrsg.), Ordnungsmacht? Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft. Frankfurt: EVA 1981; Sebastian Huhnholz, Der Fall des Steuerstaates. In: Mittelweg 36, Nr. 27/1, 2018. Zur juristischen Sicht: Martin Sumper, Besteuerung als Grundlage für Demokratie und Rechtsstaat. Berlin: Duncker & Humblot 2023.

4

Christian Waldhoff , Demokratie und Freiheit im bundesrepublikanischen Steuerstaat: Finanz- und steuerverfassungsrechtliche Diskurse 1949 bis 2018. In: Sebastian Huhnholz (Hrsg.), Fiskus – Verfassung – Freiheit. Politisches Denken der öffentlichen Finanzen von Hobbes bis heute. Baden-Baden: Nomos 2018.

5

Marc Buggeln, Ein bisschen Theorie und wenig Empirie: Die öffentlichen Finanzen als Thema der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft (1949–1989). In: Politische Vierteljahresschrift, Nr. 59/1, März 2018.

6

Oliver Sauer, Abschied vom Halbteilungsgrundsatz. Das Bundesverfassungsgericht stärkt die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers. In: Forum Recht, Nr. 8/4, 2006.

7

Vgl. Petra Weber, Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39). München: Oldenbourg 2010.

8

Florian Meinel, Verteilung als Verfassungsfrage. Zur Entwicklung einer Problemstellung. In: Sigrid Boysen u.a. (Hrsg.), Verfassung und Verteilung. Beiträge zu einer Grundfrage des Verfassungsverständnisses. Tübingen: Mohr Siebeck 2015.

9

Günter Schmölders, Der Staatsbürger als Steuerzahler. Wandlungen des Menschenbildes in Finanzwissenschaft und Steuerpraxis. In: FinanzArchiv /Public Finance Analysis, Nr. 27/1–2, 1968/69; Korinna Schönhärl, »Ein Steuerzahler!« Tax education in der frühen Bundesrepublik. In: Jürgen Finger /Benjamin Möckel (Hrsg.), Ökonomie und Moral im langen 20. Jahrhundert. Eine Anthologie. Göttingen: Wallstein 2022.

10

Vgl. aktuell Wolfgang Franzen, Steuermentalität und Steuermoral in Zeiten von Corona. Wie die Deutschen über ihre Steuern denken (Marburg: Metropolis 2022) sowie das Netzwerk »Doing Debt«, insbesondere Jan Logemann u.a. (Hrsg.), Schulden machen. Praktiken der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert. Frankfurt: Campus 2023.

11

Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite. Berlin: Suhrkamp 2010; Elfriede Jelinek, Angabe der Person. Hamburg: Rowohlt 2022.

12

Hanno Kube, Die Zukunft der staatlichen Kreditaufnahme. In: Verfassungsblog vom 20. Oktober 2021 (verfassungsblog.de/die-zukunft-der-staatlichen-kreditaufnahme/).

13

Vgl. Astrid Séville, »There is no alternative«. Politik zwischen Demokratie und Sachzwang. Frankfurt: Campus 2017.

14

Vgl. Thorsten Ingo Schmidt, Sondervermögen als offene Flanke des Haushaltsrechts. In: Die öffentliche Verwaltung, Nr. 75/13, 2022; Sebastian Huhnholz, Wer hätte nicht gern ein Sondervermögen? In: Verfassungsblog vom 11. Mai 2022 (verfassungsblog.de/wer-hatte-nicht-gern-ein-sondervermogen/).

15

Zu Gatzer vgl. das Porträt von Christian Reiermann, (Onkel Werners Milliarden. In: Spiegel vom 5. Februar 2022) nebst der unironischen Pointe, Gatzers »Ehrgeiz« habe darin bestanden, den bislang »am längsten dienenden Staatssekretär in der Geschichte der Republik« zu »überholen«. Ferner das Interview »Der Architekt der Schwarzen Null« von Tilo Jung für Jung & Naiv vom November 2018 (https://www.youtube.com/watch?v=Nfwh97X68ew).

16

Dazu prägnant Thiess Büttners Stellungnahme zur Anhörung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages am 11. Januar 2024 (www.bundestag.de/resource/blob/985572/209e741aaa15b77838f15b4938a83b11/Prof-Dr-Thiess-Buettner.pdf).

17

Luca Steinbeck, Der Bund als Retter in der Flut? In: Verfassungsblog vom 12. Januar 2024 (verfassungsblog.de/der-bund-als-retter-in-der-flut/).

18

Simon Diethelm Meyer, Die Schulden-Verfassungsbeschwerde. In: Verfassungsblog vom 11. Januar 2024 (verfassungsblog.de/die-schulden-verfassungsbeschwerde/); Lennart Laude /Nicolas Harding, Die Länderbremse. In: Verfassungsblog vom 27. November 2023 (verfassungsblog.de/die-landerbremse/).

19

Ricardo Duque Gabriel u.a., The Political Costs of Austerity. In: The Review of Economics and Statistics (i.E.), 2023.

20

Florian Meinel, Das Bundesverfassungsgericht in der Ära der Großen Koalitionen. Zur Rechtsprechung seit dem Lissabon-Urteil. In: Der Staat, Nr. 60/1, 2021.

21

Vgl. Philipp Lepenies, Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts. Berlin: Suhrkamp 2013.

22

Lennart Starke, Eine verpasste Chance. In: Verfassungsblog vom 21. November 2023 (verfassungsblog.de/eine-verpasste-chance/).

23

Die relevanten Urteilsstellen sind hier die RN 158–168 des 2 BvF1/22.

24

Jens Südekum, The Economic Distortions of the Federal Constitutional Court’s Debt Brake Decision. In: Verfassungsblog vom 19. Dezember 2023 (verfassungsblog.de/the-economic-distortions-of-the-federal-constitutional-courts-debt-brake-decision/).