Heft 918, November 2025

Beirut, Hauptstadt gebrochener Erinnerungen

von Mounir Zahran

2019 war das Jahr, in dem ich mein Praktikum am Orient-Institut Beirut antrat. Seit sieben Jahren hatte ich kein arabisches Land mehr betreten. Das erklärt vielleicht, warum meine Anspannung vor der Reise nach Beirut sogar größer war als die vor meiner späteren Rückkehr nach Syrien. Ich war jünger, dementsprechend naiver, mit anderen Erwartungen bestückt. Werden die Straßen und Häuser ähnlich aussehen wie in Syrien? Wird der Stadtlärm Beiruts ähnlich klingen wie der Lärm in Aleppo und Damaskus? Sprechen und bewegen sich die Menschen im Libanon so ähnlich wie die Menschen in Syrien? Damals verwiesen diese Fragen auf die Erwartung, dass Beirut idealerweise nicht in Relation zu irgendetwas Neuem stehen, sondern möglichst mit meinen Erinnerungen an Syrien übereinstimmen sollte. Die Möglichkeit also, bestimmte Erinnerungen noch einmal zu erleben: im Rückblick natürlich utopisch.

2019 war auch das Jahr, in dem im Libanon die größten Proteste seit der Zedernrevolution von 2005 – die den vollständigen Abzug der syrischen Besatzung zur Folge hatte – stattfanden. Der bankrotte libanesische Staat wollte eine Reihe neuer Gebühren und Steuern einführen, um die leeren Staatskassen zu füllen. Diese Maßnahmen stießen auf wenig Verständnis, und quasi über Nacht brachen zunächst in Beirut und dann im gesamten Küstenstaat Proteste aus. Sie richteten sich gegen jene Strukturen, die die immer gleichen Gesichter an der Spitze des Libanon garantieren. Wahlen sind formal frei, politisch aber nahezu folgenlos. Die verfassungsmäßig fixierte Konfessionsparität (Artikel 95) macht Wahlämter zu Erbposten; Wählerstimmen werden dadurch beinahe wertlos.

Libanons Parteien funktionieren als Doppelwesen: konfessionelle Klientel- und zugleich Kartellparteien. Jede bedient ihr eigenes Lager – drusisch, armenisch, schiitisch, sunnitisch, maronitisch –, doch in der großen Koalition des Stillstands sichern sie sich gegenseitig ihre Pfründen. Reformvorhaben werden im Keim erstickt. Parlamentarische Gremien perfektionieren die Kunst des Nichtentscheidens; Plenarsitzungen geraten zu komödiantischen Schlammschlachten – tausendfach in den sozialen Netzwerken geteilt –, bei denen jeder dem anderen die Verantwortung zuschiebt, ohne dass jemals jemand Verantwortung übernimmt. Der Status quo bleibt zementiert.

Den Abend des Protestausbruchs habe ich noch klar vor Augen. Ich war mit einem Freund auf dem Heimweg, Männer auf Motorrädern sausten an uns vorbei, wir hörten Rufe und Schreie, Mülltonnen und Autoreifen brannten. Uns kam ein überfordertes norwegisches Paar entgegen, die Frau weinte. Vermutlich war es bloße Neugier, die uns trotzdem zum Riad El Solh-Platz trieb. Tausende Menschen waren dort versammelt und skandierten in Richtung Regierungssitz ihre Forderungen nach Veränderung. Wir waren die einzigen Ausländer in einer sehr wütenden Menge. Ich sah die Sicherheitskräfte, die vor dem Regierungssitz postiert waren. »Schießen die gleich auf uns?« Ich musste an Syrien denken. Sicherheitshalber zogen wir uns in ein nahegelegenes Café zurück und verfolgten dort mehrere Stunden lang die Nachrichten im Fernsehen. Die Sicherheitskräfte schossen nicht. Am nächsten Tag kehrten wir zum Protestort zurück.

Beinahe täglich verfolgte ich in der Downtown, dem Protestzentrum, das Treiben der Menschen. Die anfängliche Wut, die bedrohliche Dynamik wandelten sich in eine fröhliche Protestkultur. Ich sah Essensstände aller Art – die Libanesen sind ein geschäftstüchtiges Volk –, hörte Musik von den Bühnen, die den großen Vorplatz zwischen der Mohammad-Al-Amin-Moschee und dem Gemmayzeh-Viertel säumten. Luftballons mit Leuchtdioden, Zuckerwatte, dazwischen ein unendliches Meer libanesischer Flaggen: rot-weiß-rot mit dem grünen Zedernbaum in der Mitte. Nacheinander ertönten die Lieder von Fayruz und manchmal sogar die des außerhalb Ägyptens vergessenen El Sheikh Imam.

»Das sind doch keine Proteste! Das ist ein Festival!«, sagte mir meine Mutter am Telefon. In ihrer Stimme hörte ich Bewunderung, wer würde nicht genau so protestieren wollen? In Zelten wurden mit einem mir bisher unbekannten Maß an Zivilität und Feinsinn respektvolle, aber vor allem kluge politische Debatten geführt; seit Jahrzehnten ungenutzte Gebäude wurden besetzt und darin Vorlesungen, Theater- und Filmaufführungen veranstaltet. Nachts entstand in einer Ecke des Platzes sogar ein Techno-Dancefloor. Dort tanzten die wohlhabenden Studenten der Amerikanischen Universität Beiruts (8000 Dollar pro Semester) unmittelbar neben jungen Männern aus den prekären Beiruter Vororten, Menschen aller Schichten nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. In dieser Gesamtheit habe ich so etwas als Syrer wie als Deutscher noch nicht erleben dürfen.

Meine acht Jahre in Syrien (2004–2012), die bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dauerten, waren vor allem eine politische und intellektuelle Enttäuschung: ein totalitäres Regime, das nur Gleichschaltung, Denkzwänge und Erwartbares zuließ. In meiner jugendlichen Naivität übertrug ich dies auf die gesamte arabische Welt. Doch Beirut war anders, hatte einen anderen Rhythmus, einen anderen Takt, auch für Edward Said: »Beirut’s genius was that it responded immediately to our needs as Arabs in an Arab world gone prison-like, drab and insufferably mediocre.«

In Beirut fasste ich den Entschluss, zu promovieren. Dass sich aus meinem Dissertationsthema kein Nahostbezug herauslesen lässt, sondern es eurozentrisch konventionell um Legitimitätsfragen liberaler Demokratien geht, spricht eher für als gegen den ungezwungenen akademischen Geist Beiruts. Eine Stadt voller Laster und Verschwendungssucht, aber wenn man sie sich leisten konnte, auch eine Stadt mit nicht zu leugnender Brillanz: »Fast hättest Du mich überredet, Beiruter zu werden«, sagte Agrippa zu Paulus.

Beirut liegt schön, die Küste musste eine Stadt herlocken. Wie sieht diese Stadt aus? Osmanisch-levantinisch, mit rechteckigen (mal roten, mal grünen) Fensterläden, Rundbogentüren zum Balkon, schlichte Sandsteinfassaden, minimalistisch und doch elegant. Französisch-levantinisch, keine Fensterläden mehr, dafür kleine Balkone und geschwungene Ornamente. Dazu schöne Cafés, hippe Cafés mit Helvetica-Beschriftungen, elegante Restaurants mit ausgezeichneter französischer Küche – aber wenn man schon mal da ist, dann doch lieber arabisch-levantinisch. Clubs auf Dächern und in Kellern, mal mondän, mal bonzig, mal alternativ. Ja, Beirut ist schön und elegant; in frankophoner levantinischer Manier sagt man hier oh là là ebenso wie maschallah, und fällt der Blick auf einen von Ratten und Kakerlaken verseuchten Müllberg, dann fi! und tfi! Kinderbettler an fast jeder Ecke, Müllberge, Verwahrlosung, Einschusslöcher, die teilweise bis zu fünfzig Jahre alt sind. Beirut ist eben auch dreckig, stickig und laut.

Und all das ist irgendwie politisch. Politische Menschen, politische Autos und politische Straßen. Dort wehen die Flaggen der christlich-maronitischen Kata’ib-Partei (Phalangisten), südwestlich, nur wenige Häuserzüge weiter, nicht mehr im christlich geprägten Aschrafiyya, sondern im gemischten Basta-Viertel, erfasst das Auge in einigen Straßen plötzlich Fahnen der schiitischen Amal-Partei. Zwei Fraktionen, die sich im Bürgerkrieg gnadenlos bekämpften. Und noch weiter südlich, im ehemals sunnitisch-christlichen, bürgerlichen Zokak el-Blat, heute geprägt von einer schiitischen Petit Bourgeoisie und Arbeiterschicht – der Kontrast zwischen monotonen Wohnblocks, gläsernen Hochhäusern und verfallenden Palästen und Herrenhäusern macht diese soziale Zäsur erkennbar –, hängen Bilder des kürzlich getöteten Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah. Von der glamourösen, hochpreisigen Cocktailbar bis zur ersten Flagge der radikal-schiitischen Hisbollah-Partei über dem heruntergekommenen Teestübchen sind es gerade einmal fünfzehn Minuten Fußweg.

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