Heft 913, Juni 2025

Syrien – eine Rückkehr

von Mounir Zahran

Der Grenzkontrolleur studiert meinen seit über zehn Jahren abgelaufenen syrischen Reisepass. Er registriert, dass ich ihn seit 2012 nicht mehr benutzt habe und stempelt ihn trotzdem ab. Auf dem Passfoto sieht er den jungen Mann vor sich, der mit achtzehn Jahren ausgereist ist und nun als Erwachsener zurückkehrt. Seine Augen spiegeln meine Freude, ich lächle, er lächelt zurück. Wo sonst, in welchem Flughafen oder an welcher Grenzstation der Welt, wird die Heimkehr eines Sohnes so gefeiert?

Ich bin Deutschsyrer, in Deutschland geboren, habe aber von 2004 bis 2012 in Syrien gelebt. Ich habe die Ereignisse immer von außen betrachtet, mit einer gewissen Distanz. Doch in dem Moment, als mich der Grenzkontrolleur anlächelte, fiel das alles von mir ab. Ich war nur noch Syrer. Aber nur in diesem Moment. Während meiner Reise sollte es dann doch zu Situationen kommen, in denen ich mich wieder als Außenstehender fühlte – als Beobachter oder als jemand, der zwischen den Stühlen sitzt, der verstehen will, ohne gleichzeitig seine eigenen Ideale und Prinzipien aufzugeben. Mal war ich Syrer, mal Deutschsyrer, mal einfach Deutscher, dann auch noch Mounir Zahran, der Politikwissenschaftler.

Ursprünglich hatte ich geplant, zwei Monate am Orient-Institut in Beirut zu verbringen und mich dort intensiv mit Syriens Vergangenheit zu beschäftigen – jener von Militärcoups und demokratischen Experimenten geprägten Phase von Syriens Unabhängigkeit 1946 bis zum Baath-Putsch im März 1963. Eine Zeit, die an ein anderes Syrien erinnert, verpasste Chancen vor Augen führt, fern vom bleiernen assadschen Status quo. Ich hatte vor, die Schriften der führenden syrischen Politiker jener Epoche zu sichten und in einer Art intellektuellen Biografie zu verarbeiten. Eine Art Fahrplan für eine Zeit – die ich ehrlicherweise im Sommer 2024 noch in weiter Ferne sah, konkret erst in ein paar Jahrzehnten – nach Assad. Kurzer Einschub von Jacques Derrida: »Das Ereignis als Ankömmling ist das, was vertikal über mich hereinbricht, ohne dass ich es kommen sehen kann.« Baschar Al-Assad flieht am 8. Dezember 2024 im Schutz der Nacht aus Syrien, das Ancien Régime ist nicht mehr.

Anfang März lande ich in Beirut, ich telefoniere kurz herum, ein Fahrer ist schnell organisiert. Jetzt sitze ich im Auto auf dem Weg von Beirut nach Syrien. In Damaskus bin ich mit einem Historiker verabredet und möchte, wenn möglich, Zeitzeugen befragen, um meiner Forschung einen Rahmen zu geben. Und indem ich meine Forschungsreise gewissermaßen offiziell auf meinen Syrienaufenthalt ausdehne, will ich eine gewisse Distanz wahren, mich vor der Enttäuschung schützen, die eine unmittelbare Erfahrung mit sich bringt. Denn in der Sentimentalität des Zurückkehrenden verbirgt sich die Hoffnung, alles so vorzufinden, wie es war.

»Ich wollte es lassen, in dunkler Nacht umherzuirren«, schrieb einst der syrische Chronist Usama ibn Munqidh zur Zeit der Kreuzzüge, als er nach Jahrzehnten wieder in seine Heimat zurückkehrte. »Ich habe geglaubt, dass Neues nicht durch die Zeit abgenutzt wird und Starkes nicht schwach wird.« Es ist amüsant und bedrückend zugleich, dass Sätze, die ein Mensch vor fast tausend Jahren benutzte, um seine individuellen Erfahrungen auszudrücken, nun auch Ausdruck meiner persönlichen Erfahrungen sind. Ich sehe, wie die starke Jugend von Aleppo und Damaskus gealtert ist und wie das ehemals Neue heruntergekommen, verwahrlost und verbraucht wirkt. Zwei Syrer, die mit einem Abstand von tausend Jahren einem verlorenen Jugendgefühl nachjagen, das sie einmal in Syrien empfunden zu haben glauben. Aber wo könnte ich dieses alte Gefühl wieder zum Vorschein bringen? In einer vertrauten Häusergasse, in den gealterten Gesichtszügen meiner Onkel und Tanten, vor unserer alten Wohnung mit dem holzgesäumten Balkon, am Grab meines Vaters? Und wenn diese alten Gefühle nicht auftauchen sollten – weil es einfach Jugendgefühle waren, Gefühle, die zwar zeit-, aber nicht ortsgebunden waren und daher nichts individuell Besonderes hatten, sondern überall auf der Welt ähnlich empfunden wurden –, was mache ich mit Syrien?

Mein Fahrer ist gut gelaunt, lacht und scherzt, nimmt die Grenzbeamten auf den Arm. Wir überqueren die Grenze. Nicht nur die Landschaft, auch die wirkliche Wirklichkeit Syriens breitet sich vor mir aus. In dieser Sekunde: Syrien kein ferner Traum mehr, keine Vorstellung, keine Fantasie, sondern unmittelbare Erfahrung.

Straßenchaos in Damaskus, spürbare Überforderung bei den Verkehrspolizisten. Risse und Brüche in den Bürgersteigen, Unkraut wuchert aus den Ritzen. Smog, Müll, Verwahrlosung, erste Eindrücke nach dreizehn Jahren Abwesenheit, direkt im Anschluss aber auch schönes Kontrastprogramm: Mit meinen Cousinen schlendere ich abends durch die Altstadt von Damaskus, wir ziehen von Café zu Café, ich spaziere täglich durch die in den 1940er Jahren entstandenen Viertel Rauda, Malki und Mazzeh Villat und verliere mich in der modernen syrischen Architektur, levantinische, italienische und französische Einflüsse in einem harmonischen Ganzen, Damaskus, du schöne Stadt!

Es ist Ramadan, ich mit meiner agnostischen Weltanschauung faste trotzdem mit, will das alles erfahren. Mein Alltag: Fasten, Spaziergänge, Lesen (Koranexegese und Heinrich Böll), Verwandtenbesuche (alle von den neuen Machthabern überzeugt, Aufbruchsstimmung), überladene Essenstische, Tee, süßes Gebäck, Kaffee (abends statt morgens), aufgekocht mit Kardamom. Ungebrochene Freude am Leben. Innere Zufriedenheit, die mir seit Jahren fremd war. Ich könnte hier meine Sachen packen und nach Beirut zurückkehren und dort zufrieden meine Recherche fortsetzen, oder ich könnte auch einfach damit aufhören, denn warum sollte ich über das Syrien der verpassten Chancen forschen, wenn es sich jetzt auf dem »richtigen« Weg der Geschichte befindet?

Rückkehr ins wüste Land

Mit dem Bus fahre ich von Damaskus, wo ich Verwandte mütterlicherseits habe, nach Aleppo, wo meine Verwandten väterlicherseits leben. Wir fahren fünf Stunden. Eine Trümmerlandschaft reiht sich an die andere. Kein Stein mehr auf dem anderen.

Ich stehe mit meinem Onkel in den zerstörten Gassen der Altstadt von Aleppo. Das Haus, in dem mein Vater die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte, hat ein riesiges Loch in der Fassade, das Dach ist eingestürzt. Überall Schutt. Mir kommt T. S. Eliot in den Sinn: »I will show you fear in a handful of dust.« Die Altstadt Aleppos war neben der von Fès eine der wenigen mittelalterlichen Siedlungen des Orients, die noch in einem guten Zustand erhalten waren. Wir gehen weiter, mein Onkel zeigt mir Ruinen, die teils mit der Geschichte Aleppos, teils mit unserer Familiengeschichte zu tun haben. Einundachtzig Jahre alt, einer der letzten Zeitzeugen des alten Aleppo. Er führt mich zu den Trümmern der ehemaligen Polizeidirektion, in der mein Großvater gearbeitet hatte. Ich bin überrascht, wie gefasst, ja geradezu unbekümmert mein Onkel mir das alles zeigt. Wir stehen vor dem Grab meines Vaters, und jetzt doch ein kurzer Anflug von Sentimentalität: »Nach dreizehn Jahren bringe ich dir deinen Sohn zurück.«

Und später in der Wohnung meine Neugier beim Durchblättern der Fotoalben: Bei den Verwandten in Damaskus habe ich wenig anderes erwartet, aber er, der überzeugte Nasserist, Anhänger des sozialistischen Staatschefs Gamal Abdel Nasser, der die Muslimbrüder brutal verfolgen ließ, müsste doch den Islamisten eigentlich misstrauen. »Mir ist nur wichtig, dass Assad weg ist«, sagt er. Er habe seinen Teil getan, jetzt sei meine Generation an der Reihe.

Er erzählt mir von seinen zwei Verhaftungen. Die erste geschah 1964, als er als Schüler gegen das noch junge Baath-Regime demonstrierte. Sechzehn Tage Gefängnis, Schläge, brennende Zigaretten auf der Haut. »Damals war das Regime schwach und hat sich nicht viel getraut«, sagt er. Die von meinem Onkel verwendete Umschreibung »nicht viel getraut« muss für den deutschen Leser natürlich in den entsprechenden Kontext gesetzt werden. In den 1960er und 1970er Jahren, auch unter Hafiz al-Assad, hätte man das Regime mit dem vor einigen Jahren in der Autokratieforschung in Mode gekommenen Adjektiv »soft authoritarianism« beschreiben können. In den 1980er Jahren kam es dann mit dem Aufstand der Muslimbrüder zum »full blown totalitarian turn«. In diese Zeit fiel auch die zweite Verhaftung meines Onkels, diesmal für mehrere Monate: »Da konnten sie machen, was sie wollten.« Über die Details schweigt er. Zu demütigend, zu beschämend sind die Foltererlebnisse, die ihm bis heute in den Knochen stecken.

Mein Onkel macht Mittagsschlaf, und ich will noch unsere alte Wohnung sehen, die meine Mutter vor zehn Jahren schweren Herzens verkauft hat. Sie liegt im intakten Westteil der Stadt, im Viertel Al-Furqan, der vom Regime gehalten wurde und daher von den beinahe täglichen Bombardierungen verschont blieb. Man hatte mich vorgewarnt: Im Krieg musste sich die Stadt zusammenziehen, Geschäfte verlagerten sich hierher, und unsere einst beschauliche Straße ist jetzt eine belebte Einkaufsmeile, ein Menschenstrom, in dem ich kaum vorwärtskomme. Wo war nochmal unsere Wohnung?

Zehn Minuten stehe ich ratlos da, bis ich auf die Idee komme, die Straßenseite zu wechseln. Da erkenne ich unseren Balkon mit seiner Außenfassade aus Holz. Die ganze Zeit stand ich vor der Wohnung, ohne es zu bemerken. Im Treppenhaus sehe ich die Klingelschilder der Nachbarn, sie sind nicht ausgezogen. Ich gehe wieder hinaus und spüre nichts.

Dann will ich die Eltern meines Jugendfreunds besuchen, die gegenüber wohnten. Mein Freund hat Syrien vor zehn Jahren verlassen, aber nach dem letzten Stand müssten zumindest seine Eltern noch da sein. Auch ihre Wohnung finde ich nur mit Mühe; ich klingele, klopfe, keine Antwort. Unten auf der Straße erfahre ich, dass sie vor vier Monaten gegangen sind. Und lange vor ihnen all meine Freunde von damals. Alle haben die Stadt verlassen, sind irgendwo in Deutschland, Kanada, Schweden, Frankreich, den Emiraten und anderswo. Aleppo, du fremde Stadt. Wieder T. S. Eliot: »And their friends, the loitering heirs of city directors; || Departed, have left no addresses. || By the waters of Leman I sat down and wept…« Nur dass hier, in Aleppo, dieser Stadt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, nur noch betäubende Gegenwart, selbst Quwaiq, ihr Fluss, längst ausgetrocknet ist.

Eine Geschichte der Gewalt

Zurück in Damaskus überschlagen sich die Ereignisse. Ehemalige Regimesoldaten der berüchtigten Vierten Division unter dem Kommando des Assad-Offiziers Ghaith Dallah wollen am 6. März die Küstengebiete unter ihre Kontrolle bringen. Dabei wird kein Unterschied zwischen HTS-Sicherheitskräften und Zivilisten gemacht. Männer werden noch in ihren Autos erschossen, nur weil sie das Nummernschild der HTS-Hochburg Idlib tragen. Mindestens zweihundert Zivilisten sterben. Die Küstenregion ist de facto unter der Kontrolle der Assad-Loyalisten. Die Interimsregierung reagiert schnell und schickt, wo möglich, reguläre Sicherheitskräfte und irreguläre Milizen aus allen Teilen Syriens.

Dass es eigentlich um den Kampf gegen ehemalige Assad-Milizen und die Sicherung der Region geht, gerät schnell in den Hintergrund. Der Rückeroberung folgt ein Massaker an unschuldigen Alawiten, das der Brutalität des alten Regimes in nichts nachsteht: Männer, jung und alt, wurden aus ihren Häusern gezerrt und erschossen, Häuser geplündert, Frauen schikaniert und gedemütigt. Unter den Opfern sind Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Schüler und sogar Assad-Gegner. Den islamistischen Milizen ist es egal, wer vor ihnen steht. Die Sicherheitskräfte der neuen Machthaber wüten mehrere Tage. Man spricht von etwa tausend Toten. Die internationale Gemeinschaft zeigt sich entsetzt. Westliche Regierungen mahnen, dass eine Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien nur erfolgen kann, wenn die Rechte der Minderheiten angemessen geschützt werden.

Wer glaubt, Alawiten seien pauschal Privilegierte des alten Systems gewesen, der fahre in Damaskus nach Mazzeh 86 – ein überfülltes Viertel, in dem vor allem Alawiten leben. Die Assad-Regierung hatte hier in den 1980er Jahren entstandene illegale Bauten stillschweigend geduldet, aber von echter Fürsorge keine Spur. So viel Verwahrlosung und Armut habe ich noch nie gesehen. Nachts streife ich durch die stockdunklen Gassen, höre den typischen Küstendialekt. Hier zeigt sich, dass die Assad-Herrschaft nie allen Alawiten zugute kam, sondern nur einem auserwählten Kreis. Die überwältigende Mehrheit wurde als Fußsoldaten, Wächter, Fahrer und Leibwächter gehalten. Offenbar fürchtete der Assad-Clan, ihm würden die Kämpfer ausgehen, wenn er sie zu Ärzten oder Ingenieuren machte. So missbrauchte er sie für seine Zwecke und nahm ihnen am Ende das Wenige, was ihnen noch geblieben war.

Der neue starke Mann in Damaskus, Syriens neuer Präsident Ahmed al-Scharaa, verspricht vor laufender Kamera die Aufklärung der Verbrechen an den Alawiten, kündigt eine unabhängige Kommission an, die tatsächlich auch mit HTS-fernen Personen, darunter Alawiten, besetzt wird. Doch die Beschwichtigung dient hier nicht einer empörten Bevölkerung, sondern dem Westen; hier geht es schlicht um die Aufhebung der Sanktionen.

Zwar gibt es in Damaskus vereinzelte Proteste gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte, und einige meiner Bekannten und Verwandten verurteilen in den sozialen Netzwerken die Ermordung der Alawiten aufs Schärfste. Doch die landesweite Empörung, die ich mir zugegebenermaßen erhofft hatte, der Aufschrei, der durch alle Konfessionen und Gesellschaftsschichten geht, bleibt aus.

In Damaskus spreche ich mit Taxifahrern, Imbissbudenbesitzern, wohlhabenden Geschäftsleuten, Hausfrauen. Die Perspektive all dieser Menschen ist geprägt von Schmerz und tiefen Wunden, die in der kurzen Euphorie nach dem Sturz des Diktators fast in Vergessenheit geraten waren. Doch jetzt, in der Katerstimmung des Nüchternwerdens, tritt alles wieder zutage, was kurz verdrängt war. Und auf einmal scheint man nicht mehr vergessen zu können, sondern sich nur noch erinnern zu wollen.

»Natürlich sind die toten Zivilisten zu beklagen«, höre ich überall. Doch dann kommt das »Aber«: Es seien doch »nur« tausend Tote. Manche werden wütend, fragen, wo denn der internationale Aufschrei gewesen sei, als 1982 das Hama-Massaker geschah. Für die meisten Syrer fing der Krieg nicht 2011 an. 1982 ist das Jahr, als im Zuge eines Aufstands gegen Hafiz al-Assad die mittelsyrische Stadt Hama in die Hände der Muslimbruderschaft fiel. Ähnlich wie jetzt die neue Regierung reagierte Assad prompt und mit aller Härte. Hama wurde von außen abgeriegelt, und reguläres Militär und Paramilitärs, vor allem aus den Reihen der Alawiten, strömten in die Stadt. Das Ergebnis nach zwei Wochen: 25 000 tote Zivilisten, 100 000 willkürliche Verhaftungen, 20 000 Menschen sind bis heute nicht wieder aufgetaucht, und eine dem Erdboden gleichgemachte Stadt. In dieser Zerstörungs- und Tötungsorgie kam die Cousine meiner Mutter ums Leben. Soldaten des Regimes plünderten ihr Haus, erschossen sie, hackten ihr die Hände ab, um leichter an den Schmuck zu kommen. Ihre Kinder kauerten auf dem Dachboden und hörten das Flehen ihrer Mutter und die folgenden Schüsse. Ein Alptraum, der sich in Hama Hunderte, ja Tausende Male wiederholte.

Und doch war Hama nur die Spitze eines riesigen Eisbergs, ein Trauma folgte, das das Vorherige noch übertreffen sollte: Vierzehn Jahre Bürgerkrieg mit mehr als 600 000 Toten und 13 Millionen Flüchtlingen, wenn man die Binnenvertriebenen hinzurechnet. Wer mit diesen Zahlen wenig anzufangen weiß, dem rate ich, diese in Relation zu den 22 Millionen Einwohnern Syriens vom Jahr 2011 zu setzen. Und hinter diesen Zahlen verbergen sich lauter Ereignisse, die sich ins Gedächtnis der Syrer einbrannten: Der friedliche Protest Zehntausender in Homs, getragen von Rufen, Sprechchören und Plakaten, sie wurden nicht mit Gewehren, sondern mit Mörsern niedergeschossen. Obamas »rote Linie« durch Giftgasangriffe in Ghouta überschritten. Belagerte Rebellenstädte, Menschen verhungern, Bilder von ausgemergelten Kindern gehen um die Welt. Ich sitze meiner Tante gegenüber, die mich fragt, wo bei all diesen Verbrechen die Empörung war.

Im Würgegriff der Sanktionen

Und hier entgegne ich und erinnere daran, dass die internationale Gemeinschaft, vor allem die westlichen Staaten, mit Sanktionen reagiert hat. »Sanktionen gegen uns!«, höre ich als empörten Zwischenruf. »Während Assad weiter im Luxus lebte!« Wieso habe der Westen so schnell gegen den IS intervenieren können und gleichzeitig bei Assads Verbrechen, die denen des IS in nichts nachstanden, die Füße stillgehalten?

Jahrelang fühlte die Bevölkerung sich von der Welt im Stich gelassen und litt unter Strafmaßnahmen, die eigentlich Assad galten. Selbst mein Onkel, ein eingefleischter Assad-Gegner, klagte am Telefon, dass ihm die Sanktionen die Luft zum Atmen nähmen. So zieht sich ein Motiv durch alle Gespräche: die Sanktionen als Wurzel allen Übels – Ursache für Stagnation, Elend, Armut und den täglichen Wahnsinn in den Elendsvierteln der verbliebenen Städte Syriens.

Die Löhne sind am Boden. Um überhaupt überleben zu können, haben die Menschen zwei, drei oder vier Jobs gleichzeitig. Arbeiten vom frühen Morgen bis Mitternacht. Nur nicht krank werden. Das öffentliche Gesundheitssystem ist nicht nur hoffnungslos unterfinanziert, hinzu kommt – als hätte Gott einen besonders zynischen Humor –, dass für eine Nacht im Krankenhaus auch mal ein ganzes Monatsgehalt draufgehen kann. Was nützt einem Demokratie und Freiheit, wenn man weiterhin von der Hand in den Mund lebt? Die Aufhebung der Sanktionen wird zum vermeintlichen Allheilmittel hochstilisiert, zur sofortigen Lösung aller Probleme. Deshalb lieber den Ball flach halten. Kein Verbrechen, sondern mehr ein Fehler, ja, ein Kollateralschaden. Eine Ungerechtigkeit, aber keine Ungerechtigkeit, die die westlichen Sanktionen weiter rechtfertigen sollte.

Statt Empörung gibt es ein Achselzucken: »Da müssen die Alawiten jetzt auch durch.« Aber warum müssen sie überhaupt »da durch«? Haben sie nicht auch gelitten? Beinahe teilnahmslos sprechen die Menschen von den »Ereignissen an der Küste«, die die Aufhebung der Sanktionen wohl erschweren werden. Eine technische Sachfrage. Ich fühle mich an früher erinnert, als regimetreue Stimmen von der Zeit »vor den Ereignissen« und »nach den Ereignissen« (2011) sprachen – als ließen sich auch hier Bombardierungen, Foltergefängnisse und Vertreibungen auf bloße Tatsachenbeschreibungen reduzieren.

Ob Alawiten, Drusen, Sunniten, Schiiten, Christen oder Kurden, alle haben gelitten, alle teilen das Leid, und doch zerfällt der öffentliche Opferanspruch in konfessionelle und ethnische Linien. Syrer, denen ihre Religionszugehörigkeit nie wichtig war, sehen im vergangenen Bürgerkrieg plötzlich den Versuch, die Sunniten auszulöschen. Alawiten fühlen sich von der Assad-Clique missbraucht und fürchten ihr eigenes Ende. Kurden, Drusen, Sunniten, Christen – jeder leidet für sich. Identity Politics syrischer Art.

»Sie haben die Nation in religiöse Konfessionen und Staaten gespalten«, sagte der Drusen-Führer Sultan al-Atrasch 1925, als er zum Aufstand gegen die französische Mandatsmacht aufrief. Dieser Satz scheint den heutigen Syrern nicht fremd zu sein. Man hört ihn, paraphrasiert, auch heute noch oft in Gesprächsfetzen, zum Beispiel beim Friseur. Und gerade deshalb frustriert es mich, dass die Syrer zwar erkennen, dass der Schlüssel zu ihrer Freiheit und Autonomie gerade in ihrer Solidarität liegt, also in der Anteilnahme am Leid der anderen, aber nicht danach handeln. Die Aufhebung der Sanktionen könnte gerade durch diese Handlungsmaxime ja sogar schneller erreicht werden.

Und inmitten dieser spannungsgeladenen Tage kommt es am 10. März zu einem Abkommen zwischen der syrischen Übergangsregierung und der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten. Obwohl auf sehr wackeligen Füßen stehend, löst es überschwängliche Begeisterung aus – ein Funken Hoffnung nach den Schreckensnachrichten aus der Küstenregion. Man hofft auf die Zusammenarbeit mit dem Westen, »seht, es klappt mit den Minderheiten!« Und damit rückt die erträumte Aufhebung der Sanktionen wieder in greifbare Nähe. Das ist aber keine Garantie dafür, dass sie bei der nächsten Nachricht nicht wieder in weite Ferne rücken könnte.

Das ist die Dynamik, die die Gemütslage der Menschen in Syrien bestimmt. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, angeheizt durch einen unsteten Strom von Nachrichten. Mittendrin kommen nach langer Abwesenheit Verwandte aus dem Ausland zu Besuch, schwelgen in Nostalgie, geben hier und da ein paar Dollar oder Euro aus und kehren dann freudestrahlend nach Europa oder sonstwohin zurück. »Vielleicht kaufen wir uns bald eine kleine Wohnung, machen einen Laden auf«, heißt es mit leiser Euphorie; doch allzu ernst ist das nicht gemeint. Erst mal abwarten, vielleicht fünf oder zehn Jahre. Aus sicherer Entfernung kann man die Lage beobachten, abwägen – und wenn es sein muss, einfach wegbleiben. Die Daheimgebliebenen verharren derweil in Syrien: im Würgegriff der Sanktionen, der Stagnation, der Armut, des permanenten Drucks.

Und ich kehre in die sichere Ferne zurück. In Beirut setze ich im Rausch der Eindrücke meine Recherche fort. In der Geschichte Syriens entdecke ich regelrechte Möglichkeitsräume, die durch innere oder äußere Kräfte jäh abgewürgt wurden. Manche Länder haben nur eine einzige vielversprechende Phase, Syrien dagegen ist reich an solchen Momenten: vom Syrischen Kongress 1920, als in einem Kompromiss zwischen islamischen und liberalen Kräften die erste arabische Demokratie greifbar schien, über die konfessions- und ethnienübergreifende Revolte gegen die französische Mandatsherrschaft 1925; die erste syrische Demokratie 1946, dann der Damaszener Frühling der frühen 2000er Jahre. Nur zehn Jahre später folgten die friedlichen, demokratischen Proteste von 2011. Syrien, egal ob ich es aus der Perspektive eines Syrers, eines Deutschsyrers, eines Deutschen oder eines Politikwissenschaftlers betrachte, ist für mich ein Land der verpassten Chancen. Der Gedanke daran ein ständiger Stachel, der mal stärker, mal schwächer sticht.

Zurück zu meiner Eingangsfrage: Ja, was mache ich jetzt mit Syrien? Das Syrien meiner Jugend gibt es nicht mehr, und das neue Syrien ist mir in schöner und auch hässlicher Ambivalenz begegnet. »Was ist Jerusalem wert?«, fragt Balian von Ibelin, gespielt von Orlando Bloom, in dem Film Königreich der Himmel (2005) Saladin, gespielt vom syrischen Schauspieler Ghassan Massoud. Saladin wendet sich von seiner Armee ab und sieht Balian an: »Nichts!« Er geht auf seine Armee zu, bevor er sich wieder Balian zuwendet: »Alles!« Für manche deutschen Leserinnen und Leser, die meinen Erlebnisbericht lesen, mag Syrien nichts sein, kaum mehr als eine Fußnote im Weltgeschehen, für die Drusen, Sunniten, Schiiten, Alawiten, Kurden und Christen ist es alles. Für mich ist es beinahe alles. Es wäre eine grausame Ironie, wenn sich der Sturz Assads, dieser neue mögliche Erfahrungsraum, diese plötzliche Wendung, diese Rückkehr der Geschichte, in das syrische Alphabet der verpassten Chancen einreihte.