Heft 918, November 2025

Beirut, Hauptstadt gebrochener Erinnerungen

von Mounir Zahran

2019 war das Jahr, in dem ich mein Praktikum am Orient-Institut Beirut antrat. Seit sieben Jahren hatte ich kein arabisches Land mehr betreten. Das erklärt vielleicht, warum meine Anspannung vor der Reise nach Beirut sogar größer war als die vor meiner späteren Rückkehr nach Syrien.1 Ich war jünger, dementsprechend naiver, mit anderen Erwartungen bestückt. Werden die Straßen und Häuser ähnlich aussehen wie in Syrien? Wird der Stadtlärm Beiruts ähnlich klingen wie der Lärm in Aleppo und Damaskus? Sprechen und bewegen sich die Menschen im Libanon so ähnlich wie die Menschen in Syrien? Damals verwiesen diese Fragen auf die Erwartung, dass Beirut idealerweise nicht in Relation zu irgendetwas Neuem stehen, sondern möglichst mit meinen Erinnerungen an Syrien übereinstimmen sollte. Die Möglichkeit also, bestimmte Erinnerungen noch einmal zu erleben: im Rückblick natürlich utopisch.

2019 war auch das Jahr, in dem im Libanon die größten Proteste seit der Zedernrevolution von 2005 – die den vollständigen Abzug der syrischen Besatzung zur Folge hatte – stattfanden. Der bankrotte libanesische Staat wollte eine Reihe neuer Gebühren und Steuern einführen, um die leeren Staatskassen zu füllen. Diese Maßnahmen stießen auf wenig Verständnis, und quasi über Nacht brachen zunächst in Beirut und dann im gesamten Küstenstaat Proteste aus. Sie richteten sich gegen jene Strukturen, die die immer gleichen Gesichter an der Spitze des Libanon garantieren. Wahlen sind formal frei, politisch aber nahezu folgenlos. Die verfassungsmäßig fixierte Konfessionsparität (Artikel 95) macht Wahlämter zu Erbposten; Wählerstimmen werden dadurch beinahe wertlos.

Libanons Parteien funktionieren als Doppelwesen: konfessionelle Klientel- und zugleich Kartellparteien. Jede bedient ihr eigenes Lager – drusisch, armenisch, schiitisch, sunnitisch, maronitisch –, doch in der großen Koalition des Stillstands sichern sie sich gegenseitig ihre Pfründen. Reformvorhaben werden im Keim erstickt. Parlamentarische Gremien perfektionieren die Kunst des Nichtentscheidens; Plenarsitzungen geraten zu komödiantischen Schlammschlachten – tausendfach in den sozialen Netzwerken geteilt –, bei denen jeder dem anderen die Verantwortung zuschiebt, ohne dass jemals jemand Verantwortung übernimmt. Der Status quo bleibt zementiert.

Den Abend des Protestausbruchs habe ich noch klar vor Augen. Ich war mit einem Freund auf dem Heimweg, Männer auf Motorrädern sausten an uns vorbei, wir hörten Rufe und Schreie, Mülltonnen und Autoreifen brannten. Uns kam ein überfordertes norwegisches Paar entgegen, die Frau weinte. Vermutlich war es bloße Neugier, die uns trotzdem zum Riad El Solh-Platz trieb. Tausende Menschen waren dort versammelt und skandierten in Richtung Regierungssitz ihre Forderungen nach Veränderung. Wir waren die einzigen Ausländer in einer sehr wütenden Menge. Ich sah die Sicherheitskräfte, die vor dem Regierungssitz postiert waren. »Schießen die gleich auf uns?« Ich musste an Syrien denken. Sicherheitshalber zogen wir uns in ein nahegelegenes Café zurück und verfolgten dort mehrere Stunden lang die Nachrichten im Fernsehen. Die Sicherheitskräfte schossen nicht. Am nächsten Tag kehrten wir zum Protestort zurück.

Beinahe täglich verfolgte ich in der Downtown, dem Protestzentrum, das Treiben der Menschen. Die anfängliche Wut, die bedrohliche Dynamik wandelten sich in eine fröhliche Protestkultur. Ich sah Essensstände aller Art – die Libanesen sind ein geschäftstüchtiges Volk –, hörte Musik von den Bühnen, die den großen Vorplatz zwischen der Mohammad-Al-Amin-Moschee und dem Gemmayzeh-Viertel säumten. Luftballons mit Leuchtdioden, Zuckerwatte, dazwischen ein unendliches Meer libanesischer Flaggen: rot-weiß-rot mit dem grünen Zedernbaum in der Mitte. Nacheinander ertönten die Lieder von Fayruz und manchmal sogar die des außerhalb Ägyptens vergessenen El Sheikh Imam.

»Das sind doch keine Proteste! Das ist ein Festival!«, sagte mir meine Mutter am Telefon. In ihrer Stimme hörte ich Bewunderung, wer würde nicht genau so protestieren wollen? In Zelten wurden mit einem mir bisher unbekannten Maß an Zivilität und Feinsinn respektvolle, aber vor allem kluge politische Debatten geführt; seit Jahrzehnten ungenutzte Gebäude wurden besetzt und darin Vorlesungen, Theater- und Filmaufführungen veranstaltet. Nachts entstand in einer Ecke des Platzes sogar ein Techno-Dancefloor. Dort tanzten die wohlhabenden Studenten der Amerikanischen Universität Beiruts (8000 Dollar pro Semester) unmittelbar neben jungen Männern aus den prekären Beiruter Vororten, Menschen aller Schichten nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. In dieser Gesamtheit habe ich so etwas als Syrer wie als Deutscher noch nicht erleben dürfen.

Meine acht Jahre in Syrien (2004–2012), die bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dauerten, waren vor allem eine politische und intellektuelle Enttäuschung: ein totalitäres Regime, das nur Gleichschaltung, Denkzwänge und Erwartbares zuließ. In meiner jugendlichen Naivität übertrug ich dies auf die gesamte arabische Welt. Doch Beirut war anders, hatte einen anderen Rhythmus, einen anderen Takt, auch für Edward Said: »Beirut’s genius was that it responded immediately to our needs as Arabs in an Arab world gone prison-like, drab and insufferably mediocre.«2

In Beirut fasste ich den Entschluss, zu promovieren. Dass sich aus meinem Dissertationsthema kein Nahostbezug herauslesen lässt, sondern es eurozentrisch konventionell um Legitimitätsfragen liberaler Demokratien geht, spricht eher für als gegen den ungezwungenen akademischen Geist Beiruts. Eine Stadt voller Laster und Verschwendungssucht, aber wenn man sie sich leisten konnte, auch eine Stadt mit nicht zu leugnender Brillanz: »Fast hättest Du mich überredet, Beiruter zu werden«, sagte Agrippa zu Paulus.

Beirut liegt schön, die Küste musste eine Stadt herlocken. Wie sieht diese Stadt aus? Osmanisch-levantinisch, mit rechteckigen (mal roten, mal grünen) Fensterläden, Rundbogentüren zum Balkon, schlichte Sandsteinfassaden, minimalistisch und doch elegant. Französisch-levantinisch, keine Fensterläden mehr, dafür kleine Balkone und geschwungene Ornamente. Dazu schöne Cafés, hippe Cafés mit Helvetica-Beschriftungen, elegante Restaurants mit ausgezeichneter französischer Küche – aber wenn man schon mal da ist, dann doch lieber arabisch-levantinisch. Clubs auf Dächern und in Kellern, mal mondän, mal bonzig, mal alternativ. Ja, Beirut ist schön und elegant; in frankophoner levantinischer Manier sagt man hier oh là là ebenso wie maschallah, und fällt der Blick auf einen von Ratten und Kakerlaken verseuchten Müllberg, dann fi! und tfi! Kinderbettler an fast jeder Ecke, Müllberge, Verwahrlosung, Einschusslöcher, die teilweise bis zu fünfzig Jahre alt sind. Beirut ist eben auch dreckig, stickig und laut.

Und all das ist irgendwie politisch. Politische Menschen, politische Autos und politische Straßen. Dort wehen die Flaggen der christlich-maronitischen Kata’ib-Partei (Phalangisten), südwestlich, nur wenige Häuserzüge weiter, nicht mehr im christlich geprägten Aschrafiyya, sondern im gemischten Basta-Viertel, erfasst das Auge in einigen Straßen plötzlich Fahnen der schiitischen Amal-Partei. Zwei Fraktionen, die sich im Bürgerkrieg gnadenlos bekämpften. Und noch weiter südlich, im ehemals sunnitisch-christlichen, bürgerlichen Zokak el-Blat, heute geprägt von einer schiitischen Petit Bourgeoisie und Arbeiterschicht – der Kontrast zwischen monotonen Wohnblocks, gläsernen Hochhäusern und verfallenden Palästen und Herrenhäusern macht diese soziale Zäsur erkennbar –, hängen Bilder des kürzlich getöteten Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah. Von der glamourösen, hochpreisigen Cocktailbar bis zur ersten Flagge der radikal-schiitischen Hisbollah-Partei über dem heruntergekommenen Teestübchen sind es gerade einmal fünfzehn Minuten Fußweg.

Gebrochene Erinnerungen – Slums und Smokings

Vielleicht war es auch diese räumliche Nähe, die den Protesten Dynamik und Gegendynamik verlieh. Der berühmte Protestruf jener Tage – »Kellon ja’ni kellon!« (»Mit allen meinen wir auch alle!«) – wurde zum performativen Sprechakt mit multikonfessionellem Anspruch, gerichtet gegen die Oligarchen, die alten Warlords und ihre Söhne, die seit dem Taif-Abkommen 1989 – der Vereinbarung, die den Bürgerkrieg zumindest formell beendete – die politische Landschaft dominierten. Nun breitete sich in einigen Köpfen der Schiiten Beiruts Unsicherheit aus: »Meinen sie etwa auch die Hisbollah?« Am 29. Oktober 2019 strömten, höchstwahrscheinlich auf Befehl von Hisbollah und Amal, junge Männer mit Schlagstöcken auf Motorrädern aus schiitischen Vierteln ins Protestzentrum nahe der Downtown. Tage später bin ich einigen von ihnen begegnet. Ich wusste es, weil sie sich mit der Zerstörung des Protestlagers brüsteten. Das waren die jungen Männer, die ich bisher jeden Tag an den Plastikstühlen und -tischen des Kioskcafés in meiner Nachbarschaft gegrüßt hatte.

Auch wenn die Hisbollah in den Sprechchören der Proteste nie direkt kritisiert wurde, war sie doch indirekt mitgemeint. Die Proteste richteten sich gegen den Status quo: ein zutiefst korruptes, konfessionsübergreifenden Machtkartell, das seit Jahrzehnten Legislative und Exekutive fest im Griff hält – und die Hisbollah ist ein Teil davon. Derweil befindet sich die stolze libanesische Mittelschicht in einem nicht aufzuhaltenden Zerfallsprozess. In diesem Kontext des legislativen und exekutiven Stillstands, der nicht allein, aber eben auch durch die Hisbollah verursacht wird, und der katastrophalen israelischen Interventionen, die wiederum – wenn man sich auf libanesische Akteure beschränkt – eben nur durch die Hisbollah verursacht werden, erscheint die Rolle des Sündenbocks nicht unplausibel. Aber: Selbst wenn die Hisbollah verschwände, wäre die Krise der libanesischen Unregierbarkeit kaum gelöst. Das Kartell würde weiter existieren. Doch in einer Wahrnehmung, die von verzweifelten wie auch naiven Annahmen geprägt ist, wird die Frage um den Fortbestand oder das Verschwinden der Hisbollah zu einer existenziellen Herausforderung für den Libanon gedeutet. Es sind Annahmen, die von gebrochenen Erinnerungen getrieben werden.

Wenn sich christliche und sunnitische, junge wie alte Beiruter an den Vorkriegslibanon erinnern, dann manifestiert sich in ihren Köpfen eine »Goldene Ära«: Dinnerpartys, Smokings, Bikinis, Jetskis und Cocktailbars – ein verlorenes Paradies, eine Vergangenheit ohne Ecken und Kanten. Schiitische Zeitzeugen hingegen – soweit liegt es ja nicht zurück – erinnern sich noch ganz genau an Slums, fehlenden Strom, verschmutztes Wasser und an unbarmherzige Sommer wie Winter; als Tagelöhner verdienten sie in Beirut ihren Lebensunterhalt, in Konkurrenz stehend mit den ebenso sozial marginalisierten Kurden.

Dann betrat 1959 Musa as-Sadr – Kleriker, Politiker und Vordenker der modernen schiitisch-islamischen Soziallehre – die Bühne. Er gründete Wohltätigkeitsorganisationen, Schulen und schließlich 1974 die Amal-Partei. Zum ersten Mal erlebten sich die Schiiten als Gemeinschaft und als politische Akteure, die in der Lage waren, Ansprüche auch durchzusetzen. Als Sadr 1978 während einer Reise nach Libyen spurlos verschwand, blieben die von ihm geschaffenen Institutionen, Strukturen und Erwartungen. Hinzu kam der wachsende iranische Einfluss auf die Schiiten des Libanons; und aus all dem ging dann 1982 die Hisbollah hervor. Und die Hisbollah mit ihren kräftigen Finanzspritzen aus dem Iran und dem Rauschgifthandel gibt der Bevölkerung gut ausgestattete Schulen, Renten, Häuser, zinslose Kredite und Geld für Krankenhausoperationen; kein Staat im Staat, mehr wie ein funktionierender Wohlfahrtstaat in einem dysfunktionalen Staat. Unter diesem Gesichtspunkt formuliert sich für die libanesischen Schiiten der Rahmen ihrer Entscheidung: Es ist eine Entscheidung zwischen einem Leben mit und ohne Würde, eine Entscheidung, die streng genommen keine wirkliche Handlungsautonomie zulässt. Schließlich auch eine Entscheidung, die zu dieser Gegendynamik vom 29. Oktober 2019 führte.

Als ich an diesem Tag von dem Überfall hörte, habe ich mich direkt auf den Weg gemacht. Ich traf ein, kurz nachdem die Schlägertrupps verschwunden waren. Am Protestlager waren Zelte eingerissen, manche brannten noch, Tische und Stühle zerstört, zerbrochene Wasserpfeifen, aus den Stirnen rann Blut, der Elan der vergangenen Tage schien gebrochen. Bis plötzlich ein junger Mann der versprengten Menge zurief: »Hariri ist zurückgetreten!«. Saad Hariri, Ministerpräsident und Sohn des 2005 ermordeten Rafik Hariri. Der junge Mann stand auf dem Sockel der Märtyrerstatue – ursprünglich sollte sie an die 1916 gehängten arabischen Nationalisten erinnern, durch ihre nach der Restauration bewusst belassenen Schäden erinnert sie heute auch an den Bürgerkrieg –, seine Stimme zitterte, er breitete seine Arme weit aus: »Wir stehen erst am Anfang. Wir müssen uns auf einen langen Kampf einstellen.« Die Menge applaudierte, Menschen fielen sich in die Arme, Männer weinten.

Seitdem sind sechs Jahre vergangen. Im August 2020 geschah die apokalyptische Explosion im Beiruter Hafen, deren Spuren bei meinen letzten beiden Besuchen im Jahr 2025 an vielen Orten nach wie vor sichtbar waren. Im Jahr 2024 folgte Hisbollahs Krieg gegen Israel, und am 27. September desselben Jahres wurde Hassan Nasrallah durch einen israelischen Luftangriff getötet. Unterhalb des Nachrichtenradars weltpolitischer Zusammenhänge ereigneten sich großflächige Zerstörungen in Dahieh, der Beiruter Hochburg der Hisbollah und in großen Teilen des schiitischen Südens. Hunderttausende wurden obdachlos – eine humanitäre Katastrophe. Doch eine Katastrophe, die – so zynisch es klingen mag – die Bedingungen für neue Perspektiven schuf. Gegen die Widerstände einer stark geschwächten Hisbollah im Parlament konnte sich am 8. Februar 2025 die neue technokratische Regierung von Nawaf Salam und Joseph Aoun formieren. Und auf einmal scheint die Politik vor Handlungsfähigkeit zu strotzen. Nawaf Salam – Sorbonne, Science Po, Harvard und ehemaliger Präsident des Internationalen Gerichtshofs – verspricht im Finanzsektor und im Rechtswesen so einige radikale Reformen, doch ein Versprechen schlägt besonders hohe Wellen: der Staat als alleiniger Träger von Waffen! »Beirut kehrt zurück« frohlocken einige Libanesen, man müsse nur Geduld haben. Aber Geduld im Libanon ist ein Privileg. Geduld muss man sich bei diesen exorbitanten Lebenshaltungskosten und dieser Inflation im wortwörtlichen Sinn auch leisten können. Trotzdem: die Hisbollah bald keine Miliz mehr, sondern eine Partei wie jede andere?

»Unmöglich!« – »Aber natürlich. Hast du damals geglaubt, dass die Palästinenser jemals ihre Waffen abgeben würden?« Es ist Ende März 2025, und ich lausche einem Gespräch zwischen zwei älteren Männern in einem Café im Stadtteil Hamra. Dem Gespräch war ein lauter Knall vorausgegangen, ein israelischer Angriff auf die Hisbollah in der Dahieh. Die unzähligen Tragödien, die das Unmögliche möglich machen sollten, erwähnen die beiden Männer nicht.

Der amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi, der damals auch in Beirut gelebt hat, erinnert sich: »Nevertheless, the idea that [the PLO] might be forced to leave Beirut would have seemed fantastic to most of them on the eve of the 1982 war. It also seemed highly unlikely to many Lebanese.«3 Die Ähnlichkeiten zwischen der Rolle der PLO im Libanon und der heutigen Rolle der Hisbollah lassen sich nur schwer leugnen. Auch sie war einst als Staat im Staat aus dem Libanon nicht wegzudenken. Und ähnlich wie die Hisbollah wurde sie im Laufe der Zeit von immer mehr Libanesen als destabilisierender Faktor wahrgenommen.

Das Unmögliche möglich machen

Schwarzer September – eine Bezeichnung, die sich in der palästinensischen Erinnerung auf den jordanischen Bürgerkrieg (September 1970 bis Juli 1971) und die daraus resultierende Vertreibung der PLO aus Jordanien bezieht und in Israel auf ein anderes Trauma verweist: München. Die Beiruter haben mit diesem Begriff den Vorabend zu ihrer eigenen Katastrophe vor Augen. Seit der Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948 in den Libanon fürchteten die Christen um ihre institutionell paritätisch abgesicherte politische Vormachtstellung, die sich 1943, dem Jahr des libanesischen Nationalpakts, tatsächlich durch eine christliche Bevölkerungsmehrheit noch rechtfertigen ließ.

Die Verlagerung des PLO-Hauptquartiers von Jordanien nach Beirut im Jahr 1971 nahmen die Christen des Libanon mit Argwohn wahr. Denn das bedeutete, dass die Hunderttausenden dort lebenden Palästinenser auf einmal über eine gut strukturierte politische Führung verfügten. Obwohl sich der sozialistische Panarabismus in Ägypten und Syrien schon damals auf dem absteigenden Ast befand, besaß er im Libanon – durch die neue PLO-Präsenz noch einmal befeuert – immer noch eine Sogwirkung und damit auch in den Augen der ihn ablehnenden christlichen Akteure ein gefährliches Mobilisierungspotenzial. Anders als häufig angenommen, hatte der libanesische Bürgerkrieg nicht nur eine identitätspolitische Komponente, sondern wurde zumindest anfangs auch durch – bis heute – ungelöste Umverteilungsfragen angetrieben

Im Frühjahr 1975 nahm der libanesische Bürgerkrieg in Beirut seinen Anfang. Ein Krieg der Ideen, Wünsche, Träume, Hoffnungen und Ängste – wie wird der Libanon von morgen aussehen? Ein Kampf zwischen Palästinensern, linken panarabischen Sympathisanten und Drusen gegen rechtsgerichtete christliche Maroniten, Schiiten (Amal) gegen Palästinenser, Schiiten (Amal) gegen Schiiten (Hisbollah), Schiiten gegen Maroniten, zwischendrin und dann zum Ende hin Maroniten gegen Maroniten (Ehden Massaker vom 13. Juni 1978, Qaa Massaker vom 28. Juni 1978). Fünfzehn Jahre lang ging das so weiter. »Trying to figure out what is happening or who is fighting whom for what reason is like catching clouds«, schrieb Said 1985 resignierend. Durch direkte Interventionen Syriens (ab 1976) und Israels (ab 1978) wurden Bündnisse zügig gebildet und ebenso rasch gebrochen. Zugleich bereiteten die zwei intervenierenden Regionalmächte auch den Boden für zwei grausame Höhepunkte des Konflikts: die Massaker von Tel al-Zaatar (1976) und von Sabra und Schatila (1982).

Im Januar 1976 wurde das palästinensische Flüchtlingslager Tel al-Zaatar, die letzte größere palästinensische Enklave im christlich kontrollierten Ost-Beirut, von einer Koalition christlich-maronitischer Milizen belagert. Weil eine palästinensische Vorherrschaft im Libanon eine syrische Vorherrschaft womöglich torpediert hätte, intervenierte Syrien unter Hafiz al-Assad entgegen allen Erwartungen zugunsten der christlichen Milizen. Mithilfe der Syrer durchbrachen die christlichen Milizen nach sechs Monaten Belagerung die palästinensischen Verteidigungslinien.

Sechs Jahre später, am 21. August 1982, kam es zu dem bis dahin für unmöglich gehaltenen Wendepunkt, über den die zwei Männer im Café sprachen: Unter dem Druck einer israelisch-maronitischen Übermacht legten die PLO-Kämpfer ihre Waffen nieder und stimmten einem Abzug nach Tunesien zu. Auf Booten verließen sie Beirut, Hunderttausende Palästinenser blieben zurück. Unter den Bootsinsassen war auch der palästinensische Nationaldichter Mahmud Darwisch: »Wir haben gesagt, dass wir gehen werden. ›Übers Meer‹, sagten sie. ›Übers Meer‹, echoten wir.« Als am 14. September der gerade eingesetzte und von Israel unterstützte Präsident und Milizenführer Bachir Gemayel – unter Zutun des syrischen Geheimdiensts – ermordet wurde, rückten israelische Streitkräfte ungeachtet früherer Zusagen in West-Beirut ein. Die israelische Armee riegelte das palästinensische Flüchtlingslager Sabra und Schatila von außen ab und erlaubte – manche sprechen sogar von einem Befehl – den verbündeten maronitischen Phalangisten, ins Lager vorzurücken. Offiziell sollten dadurch bewaffnete PLO-Überreste aufgespürt werden.

Am 12. August 1976 in Tel al-Zaatar und an den Tagen zwischen dem 14. und 16. September 1982 in Sabra und Schatila führten christliche Milizen unter den Augen syrischer beziehungsweise israelischer Streitkräfte Massaker an Palästinensern durch. Bei diesen Massakern wurden Tausende unbewaffnete Palästinenser durch Hinrichtungen, Folter und Vergewaltigungen getötet, unzählige Leichen wiesen Verstümmelungen auf, Männer wurden kastriert und schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt.

Beirut, Tel Aviv, Berlin

»If I forget Sabra and Shatila I shall forget Jerusalem«, schrieb ein Demonstrant 1982 in Tel Aviv auf sein Schild. Beirut markierte einen Perspektivwechsel. »Was machen wir dort eigentlich?« War man noch Verteidigungsnation? Wer damals in Tel Aviv »Beirut« sagte, hätte ebenso gut »Vietnam« in Amerika sagen können. Hunderttausende Israelis forderten nun ein Ende des Krieges und den Rücktritt von Menachem Begin und Ariel Scharon. Beirut brachte die New Historians hervor, Beirut wurde zum Ursprung einer kritischen israelischen Zivilgesellschaft: »There is another Israel, living on its conscience, not only on its sword, a country of constructiveness and human dignity«, sagte Schimon Peres.

Beirut als Projektionsfläche für ein anderes Israel, die Verbrechen Beiruts als negative Kontrastfolie. Dieses Israel, das in seiner Kahan-Kommission die Verbrechen von Sabra und Schatila mit beeindruckender Akribie aufarbeitete, begründete zugleich den Mythos des israelischen Rechtsstaats. In der Bundesrepublik, in der zeitgleich eine Erinnerungskultur aufkeimte, die Selbstkritik als Ausweis zivilisatorischer Reife versteht, stieß all das auf besondere Sympathie. Vermutlich ist es noch immer die Erinnerung an dieses selbstkritische, moralisch wachsame Israel, die eine ältere Generation von Feuilletonisten und Professoren in Deutschland vor Augen hat, wenn sie mit der Kritik einer jüngeren Generation konfrontiert wird, die eine andere Sozialisierung erfahren, dieses Israel wahrscheinlich nie erlebt hat und folglich ihre Kritik am Gaza-Krieg aus gänzlich anderen Annahmen herleitet. Kritik am Gegenstand ist somit auch eine Frage von erlebter Erinnerung und Erinnerung aus zweiter Hand.

Für die Palästinenser lieferte Beirut nicht das Bild eines anderen, sondern die Verheißung eines möglichen Palästina. Zwischen 1971 und 1982 verdichtete sich hier, auf einem Quadratkilometer, »the closest thing they had to a political, intellectual, financial, administrative, and spiritual capital«, so Khalidi. Selbst diejenigen, die die Stadt nie betreten hatten, empfanden sie als den einzigen Ort, an dem sie würdig vertreten wurden: »For those suffering the daily humiliation of the Israeli occupation, as well as for others subjected to varying levels of intolerance in the Arab host countries, the P. L. O.’s presence in Beirut meant a great deal.« Die Strukturen der PLO erreichten damals ein staatliches Organisationsniveau, das weder vor 1948 noch in den Jahrzehnten danach erreicht werden sollte. Für die Palästinenser hörte die Goldene Ära Beiruts nicht in den 1970er Jahren auf, sie begann erst. Said, der zu der Zeit in Beirut lebte, sprach später wehmütig von einer »Palestinian Renaissance«. Die geistigen Erzeugnisse dieser kurzen Phase sind immens: Zeitungen gingen in Druck, Literatur- und Fachjournale zirkulierten, Forschungszentren wie das renommierte Institute for Palestine Studies schufen ein intellektuelles Fundament. Historiker wie Walid Khalidi schrieben Standardwerke, die bis in die Arbeiten israelischer Historiker hineinwirkten. Beirut war für die Palästinenser der Beweis, dass Palästina existieren konnte, und der Ort, an dem sie am klarsten sahen, wie es hätte aussehen können.

Der Abzug der PLO aus Beirut läutete auch den nun langsam eintretenden Bedeutungsverlust der Palästinenserorganisation zugunsten radikal-islamischer Gruppierungen ein. »Ich hasse Abu Ammar [Jassir Arafat], und du wirst mich niemals vom Gegenteil überzeugen können!« – schnappte ich vor zwei Jahren einmal zufällig auf, als ich an einer Gruppe älterer palästinensischer Männer im arabischen Teil der Sonnenallee vorbeiging. Unter den Palästinensern Berlins befinden sich auch Überlebende von Tel Zaatar sowie von Sabra und Schatila. Der Großteil der heute in Berlin lebenden Palästinenser stammt aus der durch den libanesischen Bürgerkrieg nach 1948, 1967 und 1971 nun vierten losgetretenen Fluchtbewegung. Bitter, spöttisch und doch mit einem Fünkchen Humor bezeichnen sie Neukölln als ihr Flüchtlingslager.

Für die Palästinenser fügen sich die Ortsnamen in ein Narrativ ein, das von einer Verkettung von Katastrophen geprägt ist. Nach der Nakba und dem Sechs-Tage-Krieg (Naksa) sahen sich die Palästinenser durch den Libanonkrieg nun mit ihrer dritten großen Katastrophe konfrontiert. Im abergläubischen Sinn erwiesen sich Tel Zataar, Sabra und Schatila als böse Vorahnungen, im säkularen Sinn als Hinweise auf »Wiederholungsstrukturen«, die sich in ihrem »Erfahrungsraum« eingenistet haben. Im kleinen Rahmen standen sie für das, was sich bald im großen wiederholen würde: Jarmuk und Gaza.

Sieben Jahre nach der Zerstörung Jarmuks unterhielt ich mich in einem Beiruter Wohnzimmer mit einem Palästinenser aus jener Stadt, die am Rand von Damaskus lag: »Ich war damals zu jung. Ich hätte alles bewusster wahrnehmen können. Mir war das alles zu selbstverständlich. Ich war ein Palästinenser unter Palästinensern, das wusste ich aber noch nicht. Ich weiß es erst jetzt, seit ich ein Palästinenser irgendwo in Beirut bin.«

Vorerinnerungen

Die Palästinenser, die vermeintlichen Auslöser des Krieges, sind 1982 als Kriegspartei ausgeschieden, dennoch sollte der Krieg noch neun weitere Jahre andauern und an Intensität nicht verlieren. Bei einem Spaziergang durch Beirut erzählte mir meine Mutter, wie sie kurz nach Bürgerkriegsende als junge Frau von Damaskus nach Beirut gefahren war. Jahrzehnte Bürgerkrieg, die Kämpfer abgezogen, aus dem Autofenster erblickte sie eine Ruinenlandschaft, kein Stein stand mehr auf dem anderen. Und ähnlich wie Edmund Husserl eine Erwartung auch als »Vorerinnerung« bezeichnet, so beschlich mich in dem Moment, in dem meine Mutter mir von ihren alten Eindrücken in Beirut erzählte, das unheimliche Gefühl, dass diese Eindrücke bald auch meine Erinnerungen sein würden, nein, ich war mir sogar ziemlich sicher. Ich würde sogar ihre genaue Wortwahl für ihre Eindrücke nutzen, um meine Eindrücke zu beschreiben. Dreißig Jahre später fuhr ich durch eine andere Ruinenlandschaft – die ihrer einzigen Heimat: Syrien.

Der türkische Politikwissenschaftler Hamit Bozarslan stellte vor kurzem resigniert fest: Der Krieg innerhalb der Städte im Libanon, die Herrschaft der Milizen waren nur ein Vorspiel. In einer erschreckenden Gleichzeitigkeit hielten die 2010er Jahre ähnliches für den Jemen (nur eine Miliz), für Syrien (120 Milizen), Libyen (300 Milizen) und den Irak (40 Milizen) bereit. Mit einem Unterschied: »Lebanon experienced oblivion and impotence long before these lands of violence.«4 Und diese empfundene Ohnmacht sei dann in eine dumpfe Indifferenz übergegangen. Eine Apathie gegenüber der Politik, eigentlich dem Leben als Ganzem. Die syrischen und palästinensischen Flüchtlingscamps und die Armenviertel Beiruts ächzen unter der Last von Gewalt und Drogenhandel. Ihre Jugend, die Araber von morgen, zugedröhnt bis zum Delirium, nichts denkend, nichts fühlend, nichts wollend, mit ihren halbgeöffneten Augen blicken sie durch die Einschusslöcher vergangener Gewalt. Wunschlos im Unglück sind sie, die Prinzen Beiruts, die Könige der Levante.

»It will shock you how much it never happened«, dieser Schlüsselsatz aus Mad Men hätte ebenso gut den Überlebenden Beiruts nach dem Krieg gelten können. Doch statt des verschlagenen Don Draper spricht ihn Rafik Hariri aus, mehrfacher Ministerpräsident des Libanon und Milliardär mit besten Golf-Kontakten. Hariri strengte nach 1990 den Wiederaufbau der zerstörten Downtown und Corniche an. Allerdings nicht als Erinnerung an die klassen- und konfessionsgemischte Vorkriegs-Downtown, sondern als glatte Kulisse der verklärten »Goldenen Ära«; als Karikatur eines Paris des Nahen Ostens. Vor 1975 säumte die Promenade, die Corniche, ein heterogenes Gewirr aus osmanischen Stadthäusern, Villen im französisch-levantinischen Kolonialstil und modernen Betonwürfeln. Hariris Masterplan ersetzte diesen Flickenteppich durch rasterförmige Straßenzüge und sündhaft teure Glasfassadenapartments mit Meerblick. Der amerikanische Literaturwissenschaftler libanesisch-palästinensischer Herkunft Saree Makdisi notiert treffend, dass die Geschichte damit glattgebügelt worden sei, weil man den Mythos eines »happy Lebanon of the good old days«5 plausibel halten wollte – ein Libanon aus dem Märchenbuch, in dem weder ökonomische Krisen noch politische Konflikte jemals existiert haben.

Rafik Hariri fiel am 14. Februar 2005 einem Attentat zum Opfer, das national wie international Damaskus angelastet wurde. In dessen Folge verließen die Syrer am 10. April 2005 nach dreißig Jahren Beirut. Sie gingen als Besatzer und Täter und kehrten 2011 als Flüchtlinge zurück.

Wassims Plastikstuhl und das geteilte Leid

Bei meinen drei Aufenthalten in Beirut in den Jahren 2019 und 2025 setzte ich mich abends oft auf Tee und Zigaretten zu einem Kioskbesitzer, den ich hier Wassim nenne. Während meines Besuchs im März dieses Jahres fasste er schließlich Vertrauen und erzählte mir, dem Syrer, von seinen Erfahrungen unter der syrischen Besatzung. Wassim erinnerte sich noch, wie einmal ein Ladenbesitzer flehte, es doch bei vier Kilo Tomaten zu belassen, während der Offizier auf dreißig Kilo bestand – selbstverständlich aufs Haus. Einmal traf es ihn direkt. Er saß mit seiner Familie an der Strandpromenade, als eine Gruppe syrischer Soldaten alle Stühle und Tische forderte. Alle waren eingeschüchtert, nur sein Onkel widersetzte sich. Nur ein einziges Mal die Würde bewahren. Die Soldaten nahmen seinen Onkel mit, und er verschwand für acht Jahre von der Bildfläche – wegen eines Plastikstuhls.

Tausende Libanesen kehrten aus den syrischen Gefängnissen nie zurück. Nach offizieller Linie wollte Syrien den inneren Frieden bewahren. Tatsächlich betrachtete Hafiz al-Assad den Libanon eher als syrische Provinz denn als souveränen Staat. Syrien trat nicht als Befrieder, sondern als Sieger des Krieges auf, und folglich behandelten syrische Offiziere das Land als Kriegsbeute. Die Offiziere entführten Frauen am hellichten Tag von der Straße, nahmen sie zu Mätressen, Autos wurden aus irrsinnigsten Gründen »beschlagnahmt«, Beirut wurde zur Spielwiese. Kandidaten, die dem syrischen »Reichsverweser« im Libanon Ghazi Kanaan missfielen, verschwanden kurzerhand von Wahllisten. Hinzu kam eine langwierige Welle von Attentaten gegen besatzungskritische Stimmen – Politiker, Journalisten wie Intellektuelle. Weder Durchschnittsbürger noch Elite waren vor der Willkür des syrischen Besatzungsregimes sicher. Jahrzehnte der Demütigung.

»Ich habe lange gebraucht, um den Syrern zu verzeihen«, sagte Wassim. »Lange, um zu verstehen, dass sie genauso Opfer dieses Regimes waren wie wir.« Ich war baff. Solche Worte hörte ich in dieser Stadt zum ersten Mal. Meistens hatte ich es vermieden, mich als Syrer zu erkennen zu geben. Manchmal hatte eine einfache Frage nach dem Weg genügt: »Dein Akzent … bist du Aleppiner?« Ich wusste von Freunden, die als syrische Flüchtlinge in Beirut Feindseligkeiten und Erniedrigungen erlebt hatten. Ich wusste von marodierenden Banden, die nachts Jagd auf Syrer gemacht hatten. »Kommt jetzt was?« Bisher hatte ich immer Glück. Die Reaktionen hatten sich häufig auf ein irritiertes »Du siehst ja nicht wie ein Syrer aus« beschränkt. Mehr Toleranz hatte ich nie erlebt und angesichts dieser Vergangenheit nicht erwarten wollen. Eine Reihe unmöglicher Ereignisse, die dem Ganzen vorausgingen, haben nun diesen unmöglichen Moment ermöglicht: kein bloßes Tolerieren meiner Anwesenheit, sondern Mitgefühl. Die Bilder aus dem Foltergefängnis Saydnaya, die Massengräber um Damaskus; diese Geschichten, die nun ans Licht kamen, sprachen für sich.

»Ihr Christen wisst doch gar nicht, was Leid ist!«, ruft der Palästinenser Yasser Salameh dem maronitischen Christen Tony Hanna in Ziad Doueiris Film Der Affront (2017) zu. Tony, Überlebender des Massakers von Damur im Jahr 1976, wo palästinensische Kämpfer Hunderte christliche Einwohner töteten und vergewaltigten, schlägt daraufhin Yasser nieder. Yasser steht auf, entschuldigt sich und geht. Doueiri verzichtet in seinem Film bewusst auf eindeutige Täter-Opfer-Zuschreibungen, ebenso auf eine Hierarchisierung des Leidens der Opfergruppen des Bürgerkriegs. Noch expliziter als in seinem früheren Werk Die Kinder von Beirut (1998), der die Freundschaft eines muslimischen Jungen mit einem christlichen Mädchen inmitten des Bürgerkriegs thematisiert, vermeidet er die Festlegung auf eine allein gültige historische Erzählung und vermittelt den Krieg als gemeinsam geteilte Erfahrung, im Schönen wie im Unschönen. Versöhnung geschieht hier nicht entlang klarer Schuldzuweisungen sowie -eingeständnisse, sie geschieht in der Anerkennung des gemeinsam erlittenen Leids.

»Wie sollen wir mit dieser Pluralität vielfältig gebrochener Erinnerungen umgehen?«, schrieb Reinhart Koselleck zum sechzigsten Jahrestag des 8. Mai.6 Nicht immer muss man in fragmentierten Gesellschaften, an Orten mit gebrochenen Erinnerungen um des sozialen Friedens willen schweigen. Und weil die Erwartungen, die an das »richtige« Erinnern gestellt werden, nicht nur immens, sondern auch widersprüchlich sind, erweisen sich Enttäuschungen fast zwangsläufig als die wahrscheinlichsten Ereignisse. Die empfundene Unmöglichkeit des Nichtenttäuschtwerdens führt folglich zu einer besonderen, nicht zu leugnenden Wertschätzung jener sehr seltenen Momente, in denen die Enttäuschung erfreulicherweise dann doch ausbleibt.

1

Mounir Zahran, Syrien – eine Rückkehr. In: Merkur, Nr. 913, Juni 2025.

2

Edward Said reflects on the fall of Beirut. In: London Review of Books vom 4. Juli 1985.

3

Rashid Khalidi, Under Siege. PLO Decisionmaking During the 1982 War. New York: Columbia University Press 1986.

4

Hamit Bozarslan, The Arab Apocalypse. In: Eurozine vom 11. Juli 2025 (www.eurozine.com/the-arab-apocalypse/).

5

Saree Makdisi, Beirut /Beirut. In: Tamáss I. Contemporary Arab Representations: Beirut /Lebanon. Hrsg. von Catherine David. Barcelona: Fundació Antoni Tàpies 2002.

6

Reinhart Koselleck, Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte. In: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Berlin: Suhrkamp 2013.

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