Heft 915, August 2025

Christian Meiers »Athen« in der Ära Trump

Ein Lektüregespräch von Helmut Müller-Sievers, Greg Laugero

Ein Lektüregespräch

Neben unserem gemeinsamen Studium der griechischen Grammatik und der Lektüre griechischer Philosophen und Tragiker habe ich – Literaturwissenschaftler mit lebenslangem Interesse an der Tyrannei der Griechen über die Deutschen (so der Titel von Eliza M. Butlers scharfsichtigem Buch aus dem Jahr 1935), seit 1986 in den USA lebend und forschend – mit Greg Laugero, einem in Englischer Literaturgeschichte promovierten Software-Unternehmer im Vorruhestand, Christian Meiers epochemachendes Buch Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte über Anfang, Blüte und Untergang der athenischen Demokratie gelesen. Wir hatten unsere Lektüre vor der Wahl im November 2024 begonnen, mussten danach aber feststellen, dass Meiers Beschreibungen und Einsichten unsere Gegenwart schmerzhaft und nahezu unheimlich berührten.

Da Greg das Buch auf Englisch las, wollte ich zunächst auf seinen Gesamteindruck zu sprechen kommen.

Fragilität

HMS: Wir haben in den letzten Jahren oft über Hegels Philosophie der Geschichte und seine Gegenspieler Marx, Lyotard und Fukuyama gesprochen. Ich maße mir nicht an, zu bestimmen, wo genau Christian Meier sich geschichtsphilosophisch verortet, doch wer 1993 in Deutschland über Aufstieg und Fall der Demokratie im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts schreibt, der fordert einen Vergleich mit seiner Gegenwart und mit anderen Geschichten der Demokratie heraus, die in der athenischen Demokratie ein frühes, aber für den Westen maßgebliches Aufblitzen der Macht rationaler Politik über das Schicksal sehen. Glaubst Du, Meiers Buch ist ein weiterer Beitrag zu dieser Triumphgeschichte? Oder wundert sich Meier über die Einzigartigkeit dieses historischen Ereignisses? Oder spürt man vielleicht schon einen Anflug von Trauer darüber, dass diese Epoche so schnell vorbeigegangen ist?

GL: Wunder, Triumph, Trauer und Vergänglichkeit sind alle lesbar in diesem wunderbaren Buch. Es ist eine sehr komplexe Geschichte, und Meier war ganz offensichtlich nicht willens, diese Komplexität zu glätten. Die Lektüre während des Wahlkampfs und in den ersten Monaten der Trump-Regierung hat zunächst das Thema der Fragilität in den Vordergrund gerückt.

Ich bin politisch in den achtziger Jahren Ronald Reagans groß geworden; meinen High-School-Abschluss habe ich 1983 gemacht, das College 1987 abgeschlossen. Wir alle haben Fukuyamas Optimismus geteilt, dass nach 1989 nicht nur das Ende der Weltbedrohungen durch Kriege gekommen sei, sondern dass sich die Vereinigten Staaten diese Erleichterung auch durchaus zugutehalten konnten. Der Fall der Mauer schien uns also nicht nur das Ende des Kalten Krieges anzuzeigen, sondern das jeden Krieges, für immer. Man muss Fukuyama allerdings zugestehen, dass er die Zerbrechlichkeit dieser neuen Weltordnung früher sah als die meisten Neocons.

Meier beschreibt eben diese Zerbrechlichkeit, und heute liest sich sein Athen, als sei es als bewusste Mahnung geschrieben worden. Inmitten der aktuellen Zerstörung unserer republikanischen und akademischen Institutionen habe ich mich an die Federalist Papers (1787/88) erinnert, die geschrieben wurden, um für die Ratifizierung der Verfassung zu werben, die die viel schwächeren Konföderationsartikel von 1781 ersetzen sollte. Die Autoren sahen und fürchteten eben die Fragilität der antiken Demokratien, die auch Meier herausstellt. In Federalist No 9 äußert sich Alexander Hamilton ganz wie Meier in seiner Einschätzung der »kleinkarierten Republiken in Griechenland und Italien«: »Wenn es bei ihnen gelegentlich Ruhe gab, dann nur als kurzfristigen Kontrast zu den wütenden Kämpfen, die darauf folgten.« Er ist sehr unnachgiebig in dieser Kritik. Die Federalists wollten das Experiment einer »republikanischen Regierung« fortsetzen und sich gleichzeitig gegen die Schwächen, die sie bei den Griechen und Römern sahen, absichern. Hamilton entwarf eine geschichtliche Perspektive, in der Institutionen gestärkt würden, die die Gewaltenteilung sichern könnten. Liest man Meier zusammen mit diesen wichtigen Essays, während um uns herum diese Institutionen zusammenbrechen oder zumindest wanken, sieht man, dass wir alle zu optimistisch waren, dass die Schwäche der institutionellen Demokratie durch die Verfassung endgültig überwunden worden sein könnte.

Zorn, Ressentiment, Demokratie

HMS: In der deutschen humanistischen Tradition, in der ich aufgewachsen bin, wurde die athenische Demokratie immer dargestellt als politischer Ausdruck des gleichen maßvollen Strebens nach Freiheit und Schönheit, das in der griechischen Architektur, in der Skulptur, Poesie und Philosophie anschaulich wird. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, so wurde uns später klar, war diese Vision selbst von der Bestrebung getrieben, Tyrannei und Oligarchie als dem griechischen Wesen fremde Tendenzen auszugrenzen. Alles, was dem ursprünglichen Durst nach Freiheit und der Liebe zur demokratischen Meinungsbildung zuwiderlief, wurde entweder in die Archaik vor dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeit verbannt oder Außenseitern zugeschrieben, denen der griechische Geist fremd war. Meier nun benötigt so viele Seiten, um die destruktive Gewalt in den vorigen Regierungsformen darzulegen, aus denen sich die Demokratie langsam herauswindet, dass man den Eindruck gewinnt, die hohe Zeit des Perikles mit ihren radikalen demokratischen Institutionen (die allerdings Frauen, Metöken und Sklaven ausschlossen) sei eher der Erschöpfung und der Entschärfung dieser Gewalt geschuldet. Es gab einfach nicht genug Männer, deren Verlust in Fehden und Verbannungen die Polis sich hätte leisten können.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit der beim MERKUR-Newsletter hinterlegten E-Mail-Adresse erhalten Sie Zugang zum vollständigen Artikel.

Noch kein Newsletter-Abonnent? Kostenfrei anmelden.
Nach der Anmeldung erhalten Sie eine E-Mail mit einem Bestätigungslink, den Sie bitte anklicken, um Ihre E-Mail-Adresse zu bestätigen und den Newsletter zu aktivieren. Sie können den Newsletter jederzeit abbestellen.

E-Mail-Adresse erfolgreich überprüft! Die Seite wird in 3 Sekunden neu geladen ...
E-Mail-Überprüfung fehlgeschlagen. Bitte bestätigen Sie Ihre E-Mail-Adresse (Double Opt-In).
Bitte versuchen Sie es erneut.

Weitere Artikel des Autors