Heft 866, Juli 2021

»Das Kaiserreich« zwischen Geschichtswissenschaft und Public History

von Claudia C. Gatzka

Die öffentliche Geschichtsdarstellung hat das Chiaroscuro entdeckt. Hell und dunkel beschreiben die binäre Begrifflichkeit, mit der Historikerinnen und Historiker einem breiteren Publikum neuerdings Geschichte veranschaulichen wollen. Mit Blick auf das Deutsche Kaiserreich, das Hedwig Richter neu in den Fokus öffentlicher Debatten gerückt hat, geht die Lichtmetaphorik auch mit dem Anspruch einer historischen Neubewertung einher. Denn wo Schatten ist, muss auch Licht sein. Dominik Geppert wies jüngst die »Ambivalenz« des Kaiserreichs als Ergebnis der neuesten Forschung aus, die nur die sogenannten Schwarzmaler nicht wahrnehmen wollten.1 Und auch Hedwig Richter kann im Medium der Helldunkelmalerei differenzierende Wissenschaftlichkeit für sich reklamieren. Der Düsternis der geschichtspolitisch motivierten »Pickelhaubengeschichte« stellt sie jene Grauschattierungen entgegen, die schon Thomas Nipperdey (von dem übrigens auch das »Ambivalenz«-Etikett stammt) in seiner Kaiserreichdarstellung ausmachte.2 Eckart Conze, der in dieser Debatte die Rolle des Schwarzmalers übernommen hat, blieb der bildgestalterischen Metaphorik verpflichtet, als er die »Weichzeichnung« des Kaiserreichs zurückwies.3 Und auch bereits der wichtigste neuere Sammelband zum Kaiserreich aus dem Jahr 2009 wurde zu einer Art Bericht aus dem Atelier der Geschichtskunst, wenn die Herausgeber hier den Grautonansatz Nipperdeys durch eine »Mischung von bunten Farben« ersetzt sehen wollten.4

Historiker als Maler oder Grafiker, die durch Licht- und Farbeffekte Wirkungen erzielen – dieses Bild mag eingängig sein, um den Konstruktionscharakter historischer Darstellungen zu illustrieren. Wenn sich die Metaphorik jedoch nicht nur auf die Ausleuchtung bezieht, die einzelnen Aspekten des Dargestellten zuteilwird, sondern wenn ganze Epochen der Nationalgeschichte als Gemälde oder Zeichnungen imaginiert werden, die heller oder dunkler getönt, grau schraffiert oder bunt gescheckt sein können, dann würden viele Historiker im 21. Jahrhundert Feder und Pinsel lieber aus der Hand legen. Denn zum einen ist die normative Bewertung einzelner Epochen nicht mehr Ziel geschichtswissenschaftlicher Arbeit. Und zum anderen gilt es heute als methodisch unzulänglich, vom »deutschen Kaiserreich« als einer Substanz zu sprechen, deren historische Eigenschaften irgendwie auf einen Nenner zu bringen wären. Offensichtlich besteht eine Kluft zwischen dem geschichtswissenschaftlichen Methoden- und Debattenstand und den aktuellen Kategorien öffentlicher Geschichtsrepräsentation. Diese Kluft scheint in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch größer geworden zu sein.

Um dieses Problem eingehender erörtern zu können, muss zunächst dem Einwand begegnet werden, Sachbuchdebatten und andere Erscheinungen der Public History seien nun einmal nicht mit akademischen Fachdebatten zu verwechseln; Fachwissenschaftler sollten ihre Kritik deshalb auf Fachbücher beschränken.5 Niemand bezweifelt die Differenz zwischen akademischen Räumen und öffentlichen Räumen der Vergangenheitsdeutung und Geschichtsschreibung, doch scheint die mittlerweile institutionalisierte Differenzierung in eine Fachwissenschaft Geschichte und in eine Public History ja wiederum selbst eine sehr akademische zu sein. Für Außenstehende sind die Grenzen wohl gerade dann, wenn ein und dieselben Wissenschaftlerinnen beide Felder bespielen, fließend und allerhöchstens anhand des Sprachstils zu erkennen. Die Praxis bringt Hybridisierungen hervor. Wer würde Hedwig Richter, Eckart Conze oder Dominik Geppert in der laufenden Debatte auf ihre Rolle als Publizisten reduzieren und dabei ihre Autorität als berufene Professoren, die als solche für ihr Fach sprechen, ignorieren? Die Sprechermacht in der öffentlichen Wissenschaftskommunikation und damit auch auf dem Feld der Public History erwächst ja aus dem symbolischen Kapital, das Handelnde als akademische Vertreterinnen oder fachnahe Praktiker dorthin mitbringen. Nur deshalb erkennt das außerfachliche Publikum sie als »Experten« an, und nur deshalb ist es geneigt, für eine wahre Repräsentation vergangener Wirklichkeit zu halten, was im Sachbuch steht oder im Museum als Relikt des Vergangenen präsentiert wird.

Sicherlich entscheidet die Fähigkeit, sich unterschiedlichen außerakademischen Räumen sprachlich und stilistisch anzupassen, darüber, welche Wissenschaftler sie betreten können und welche nicht. Daraus folgt jedoch nicht, dass das außerfachliche Publikum die Erwartung hegte, Wissenschaftlerinnen sollten in massenmedialen Räumen inhaltlich andere Aussagen treffen als im Hörsaal oder im Labor. Publikumsverlage mögen mit ihren Sachbuchformaten ein breites Publikum ansprechen wollen, doch verlegen sie berufene Fachhistoriker nicht, damit diese die Erkenntnisse verschweigen oder verzerren, die sie kraft ihres Berufs geschöpft haben. Folglich ist unklar, wohin eine qualitative Unterscheidung von Sachbuchdebatte und Fachdebatte führen soll, wenn nicht dahin, die Inhalte außerakademischer Wissenschaftskommunikation allein aufgrund ihres medialen Formats streng von den Inhalten wissenschaftlicher Produktion zu trennen und sie somit auch von fachlicher Kritik auszunehmen. Ein besonders wertschätzendes Bild der außerfachlichen Öffentlichkeit und ihrer kognitiven Fähigkeiten wäre damit ebenso wenig verbunden wie eine realistische Einsicht in die faktischen Grenzauflösungen zwischen unterschiedlichen medialen Räumen wissenschaftlicher Produktion und Kommunikation, die längst im Gange sind.

An der aktuellen Kaiserreich-Debatte zeigt sich gerade, wie wichtig der Rekurs auf den wissenschaftlichen Forschungsstand auf dem Feld der Public History ist. Eine Fraktion weiß gegen die andere ins Feld zu führen, dass sie »endlich« die Ergebnisse der neueren Forschung in die öffentliche Geschichtsdarstellung transponiere. Das setzt die gegnerische Fraktion unter Druck und zwingt sie zu Konzessionen. Denn der Vorwurf, nicht auf der Höhe des Forschungsstands zu sein, kann auch auf dem Markt der Public History symbolisches Kapital kosten. So haben alle beteiligten Fachhistoriker inzwischen versichert, dass die Sonderwegsthese, der in dieser Debatte eine besondere Funktion zukam, bereits seit geraumer Zeit vom Tisch sei. Selbst jene, die noch an ihrem Erkenntnispotential festhalten, tragen sie nur noch in stark differenzierender Weise vor, wie Heinrich August Winkler jüngst demonstriert hat.6

Auch diese Fraktion jedoch kann auf den Forschungsstand und auf grundlegende geschichtstheoretische Überlegungen verweisen. Sie fragt, ob Geschichtswissenschaft nicht trotz des Abschieds von der Vorstellung historischer Normalwege, aus der sich dann erst historische Anomalien ergeben konnten, erklären muss, wieso manche Ereignisse nur in gewissen Räumen stattfanden und in anderen nicht – gerade wenn diese Räume von zahlreichen Ähnlichkeiten geprägt waren. Denn in vieler Hinsicht macht der Abschied vom Sonderweg die Ereignisse von 1933, 1939 oder 1941 – Machtübergabe, Kriegsentfachung, Beginn des rational organisierten Judenmords – nur noch erklärungsbedürftiger. Wenn aber die historisch-genetische Erklärung dieser Geschehnisse weiterhin zu den Gegenstandsbereichen der Geschichtswissenschaft zählen soll, dann ist es wissenschaftlich wiederum nicht zu begründen, erst 1914 oder gar 1918 mit der Spurensuche anzufangen, allein um nicht den Puls der Sonderwegskritiker hochzutreiben.

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