Geschichtskolumne
Demokratie als Diktatur denken, und umgekehrt von Claudia GatzkaDemokratie als Diktatur denken, und umgekehrt
Seit zwanzig Jahren beobachten Politikwissenschaftler, wie sich Autokratien (in unterschiedlichen Abstufungen) wieder auf dem Globus ausbreiten. Zwei Drittel der Weltbevölkerung, vornehmlich in Asien, Afrika und Südamerika, leben heute unter autokratischer Herrschaft – eine Rückkehr zum Stand von 1972. Die »third wave of democratization« seit den 1970er Jahren ist also versandet, und manche Politikwissenschaftler sprechen nun von der »third wave of autocratization«.1 Sollte sie sich zu solcher Höhe auftürmen, dass sie den nordamerikanischen Kontinent erfasst, wäre das ein Novum in der Geschichte, waren die USA im 20. Jahrhundert doch der demokratische Fels in der autokratischen Brandung.
Doch der Griff zur maritimen Metaphorik war schon immer eine etwas hilflose Strategie, mit menschengemachten Umbrüchen umzugehen. Autokratien entstehen ebenso wenig wie Demokratien durch göttliche Winde oder Dominoeffekte. Der internationale und globale Zusammenhang kann, muss aber nicht politische Umbrüche in einzelnen Staaten erklären. Erst jüngst hat Thomas Etzemüller dankenswerterweise daran erinnert, dass auch in der Zwischenkriegszeit nicht alle liberaldemokratisch verfassten Staaten der autoritären Versuchung erlagen. Damit hat er auch eine Obsession der Historiker und Politikwissenschaftler mit der Diktatur aufgedeckt, die autoritäre Fantasien zum Signum einer Epoche erheben und demokratische Resilienz dadurch vergessen machen.2
Eine gewisse Neigung, Diktaturen in Vergangenheit und Zukunft für unausweichlich zu halten, vereint in diesen Zeiten also eine Vielzahl von Sprechern. Zugrunde liegt zum einen die – nach politologischen Maßstäben – messbare Autokratisierung der Welt seit 2002, zum anderen aber auch die problematische, weil tendenziell fatalistische Vorstellung, Diktatur und Demokratie würden von Wellen getragen, die ganze Erdteile überspülten. Das Bild erklärt wenig, birgt aber das Potential selbsterfüllender Prophezeiungen, die in der Geschichte politischer Kommunikation nicht zu unterschätzen sind. Auch vor 1933 sah man in Deutschland vielerorts die Diktatur kommen.
Dass Diktatur und Demokratie menschengemacht sind und nicht gleichsam durch Krisen, Kriege oder Revolutionen quasi naturgesetzlich von einem Zustand in den anderen kippen müssen, lässt sich vielleicht besser im Bild von Ebbe und Flut fassen, um einmal maritim anschlussfähig zu bleiben. Sowohl in Monarchien als auch in Republiken haben Zeitgenossen im 19. und 20. Jahrhundert die Problemlösungskompetenz angesichts multipler Krisenerfahrungen mal eher bei demokratischen, mal eher bei autoritären Regierungsformen verortet.3 Dabei geht es, sehr vergröbert, um den Widerstreit zwischen dem stets attraktiven Modus des effizienten Durchregierens (dank der Einschränkung von Gewaltenteilung und der Begrenzung von Regierungskomplexität) und dem Prinzip der Freiheit zur Selbstregierung, das offen gestanden selten das wichtigste Ideal war, sondern vor allem dann geltend gemacht wurde, wenn man mit der konkreten Politik der Regierung nicht zufrieden war.
So auch heute. Doch ist das Pendel nun wieder in Richtung Autokratie ausgeschlagen? Sehnen sich Wählermassen nach Präsidenten oder gar Diktatoren, die über uneingeschränkte Macht verfügen, die Rechtssicherheit aussetzen, Freiheiten ausschalten können? Die Antworten müssen allein schon aufgrund des historischen Ballasts des vergangenen Jahrhunderts skeptisch ausfallen. Das kulturelle Gedächtnis weiß um die Diktaturen des 20. Jahrhunderts – mehr vielleicht, als das gegenwärtige Bewusstsein um die Realität der bestehenden Autokratien in der Welt weiß. Es ist daher nicht mehr so einfach wie noch in der Krisenzeit um 1930 möglich, die Diktatur für denkbar und für wünschenswert zu halten. Der Umstand, dass autoritäre Lösungen seit geraumer Zeit ausgerechnet im Hinblick auf mögliche Auswege aus der Klima- und Umweltapokalypse debattiert werden, ist für viele ja gerade ein Anlass, demokratische Werte vorzuschützen.4 Nur wenige halten heute eine »Ökodiktatur« für eine realistische Option, selbst wenn sie von der Notwendigkeit ökologischer Gegensteuerung überzeugt sind. Selbst wer eine positive Vision vom autoritären Durchregieren hat, wenn es um gewisse Politiken geht (zum Beispiel die Rückführung gesellschaftlicher Liberalisierung und die Ausweisung oder Abwehr als migrantisch markierter Bevölkerungsteile), grenzt sich von der Diktatur ab. Denn auch auf dieser Seite ist die Rede davon, es gelte Freiheiten und Rechte zu verteidigen, vor allem als Konsumenten.
Das Interessante ist also, dass die Diktatur faktisch ausgedient hat, dass schon lange niemand mehr ernsthaft für autokratische Verhältnisse werben kann, dass sie allerorts als desavouiert gelten und dennoch scheinbar vor der Tür stehen. Wie kann es sein, dass niemand Diktatur will, aber viele sie kommen sehen?
Die Diktatur der Gegner: Positionalität
Es kann deshalb sein, weil sich der Diktaturbegriff von einem historischen zu einem aktuellen politischen Kampfbegriff entwickelt hat. Er dient heute vorrangig der Diskreditierung des Gegners und der semantischen Umwertung des liberaldemokratischen Institutionengefüges in eine Art Pseudodiktatur. Anders als im Fall der »Autokratie« kann das Sprechen von der »Diktatur« auf Vergangenheiten verweisen, die gewissermaßen zu globalen Erinnerungsorten der Unfreiheit geworden sind. Als Abbreviatur für reale, aber vergangene Regime kann und soll der Diktaturbegriff Bilder evozieren, die Schrecken erzeugen. Gerade in Deutschland, aber auch in Italien oder Österreich, kommt er seit einigen Jahren explizit oder implizit zum Einsatz, um politische Gegner, politische Projekte oder die Verfassungspraxis zu delegitimieren – oder schlicht, um Verwirrung zu stiften.
Während der Pandemie prangten »Merkel-Diktatur« oder »Corona-Diktatur« auf den Pappschildern selbsternannter Querdenker. Eine die Sozialschichten und Bildungsabschlüsse übergreifende Phalanx prangerte die Einschränkung ihrer Freiheiten als »illegal« an.5 Wer aber »Diktatur« sagt, protestiert nicht mehr nur, denn Protest drückt, wie etwa auch Enttäuschung mit der Politik, noch immer eine Verbindung mit dem politischen System aus.6 Wer »Diktatur« sagt, bestreitet dessen Legitimität hingegen fundamental: Handeln gerät hier zum »Widerstand«, der den Ausstieg aus dem Herrschaftsverband in seiner aktuellen politischen Verfasstheit anzeigt.7
Man muss Diktaturanalogien, Diktaturvorwürfe und Diktaturwarnungen daher zunächst einmal als diskursive Hervorbringungen der Demokratie verstehen, denen gewisse Funktionen in der demokratischen Selbstverständigung und im politischen Konfliktgeschehen pluralistisch organisierter Gesellschaften zukommen. Einerseits kann der Diktaturtopos den Zweck erfüllen, plakativ (doch in wahrhaftiger Absicht) auf Probleme politischer Herrschaft hinzuweisen. Diktaturvorwürfe können die liberale Repräsentativdemokratie an ihre eigenen demokratischen Defizite erinnern, und wer diese Vorwürfe äußert, kann sich durchaus als Anwalt der Demokratie verstehen. Hier lässt sich der Diktaturvorwurf als eine Überspitzung verstehen, die im Namen der Demokratie eine bestehende Ordnung und die Entscheidungen, die sie produziert, in Frage stellt.
Andererseits kann die Diktaturanalogie in der liberalen Demokratie aber auch eine rhetorische Strategie sein, um das politische System und seine Träger bei den Repräsentierten in Misskredit zu bringen und so einen tiefergehenden politischen Umbruch vorzubereiten. In diesem Fall mangelt es den Sprechern an Wahrhaftigkeit; vielmehr werden sie in völliger Ignoranz oder bewusster Verzerrung der empirischen Realität die Diktaturdiagnose willkürlich und systematisch einsetzen und öffentlich verbreiten, um die Repräsentierten glauben zu machen, sie lebten in einer Diktatur und müssten »befreit« werden. Diktaturnarrative bilden in dieser Hinsicht einen Teil der Strategie jener, die sich als Systemgegner verstehen, aktuell wie auch bereits in der Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Die diskursive Autokratisierung der liberalen Republik hat in Italien, betrieben durch das Umfeld der Lega und durch Matteo Salvini selbst, so gut funktioniert, dass schließlich eine nationalistische Regierungschefin gewählt wurde.8
Dass sich die politische Rechte heute als Freiheitskämpferin geriert und sich damit in die nationalistisch-demokratische Tradition des 19. Jahrhunderts und des Zweiten Weltkriegs zu stellen versucht, ist das eine. Das andere ist, dass sich Deutungseliten in den liberalen Medien zu fellow travellers dieser Idee machen. Ihre Kritik an der hegemonialen »Wokeness« der Linken verführt sie zur Diagnose einer »Minderheitendiktatur«, die sie leichtfüßig vortragen, weil sie damit »in bester demokratischer Manier unterdrückte Mehrheitsinteressen retten möchten«.9 Der ganze derzeit geführte Mehrheitsdiskurs der Konservativen und Liberalen spielt auf dieser Klaviatur, mit dem nützlichen Effekt, an der Beschaffung jener Mehrheit mitzuwirken, von der er spricht.10
Einmal in der Welt, war die Diktaturanalogie selbst in solchen Situationen schnell zur Hand, wo Sprecher im Namen der nüchternen Sozialwissenschaft auftraten. Bewusst oder unbewusst griff der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, das Konzept der Minderheitendiktatur seit 2016 in seinen Vorträgen auf. Die sinkende Wahlbeteiligung erklärte er mit Hinweis auf eine vermeintliche »Diktatur der Minoritäten«, womit er den Umstand meinte, dass sich Politik und Massenmedien in Deutschland an den Meinungen gewisser Minderheiten orientierten.11 Das desavouierende Sprechen von der »Diktatur« zeitigt mithin Diskurseffekte, die auch das problematisierende Sprechen über den Zustand der Demokratie affiziert. Das wäre dann ein weiterer Normalisierungsprozess, der in der jüngsten Gegenwart von der politischen Rechten ausgegangen ist.
Unfreiwillig dient auch das breite Feld der Gedächtniskultur als Inspirationsraum für selbsterklärte Widerstandskämpfer. Mittlerweile hat die »Corona-Diktatur« ihre eigene Aufarbeitungsabteilung, die im Münchner Rubikon-Verlag Bestseller produziert. Begriffe aufgreifend, die gemeinhin mit der DDR oder dem NS-Regime assoziiert werden, verurteilen darin nicht etwa Spinner oder Marginalisierte, sondern west- wie ostdeutsche Bildungs- und Funktionseliten das »Corona-Unrecht« und seine »Täter«, decken die »Lügen« der »Mächtigen« auf und entlarven die »Propaganda« der Massenmedien.12 Die Bilder und Kategorien, die der historische Aufarbeitungssektor bereitstellt, wirken offenbar mittlerweile wie ein Bumerang. Sie motivieren zur Simulation oder zu einer Art Reenactment von Diktatur im liberal-demokratischen Staat, indem sie sich der Skripte und Symbole historischer Diktaturen bedienen – mit dem »Judenstern« in der Anti-Impfkampagne als vielleicht eindrücklichstem Beispiel.
Die Reaktionen und Gegenstrategien wirken hilflos. Der Berliner Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erinnerte zum Weihnachtsfest 2021 daran, dass die Verhältnisse in der Bundesrepublik sehr anders seien als in der DDR, und kritisierte die Diktaturdiagnostiker dafür, reale Diktaturen zu verharmlosen und damit den Menschen, die darin leben und leiden müssten, Unrecht zu tun.13 Ähnliches hatte wohl auch die Jury der sprachkritischen Aktion im Kopf, als sie die »Corona-Diktatur« zum Unwort des Jahres 2020 wählte. Solche moralischen und symbolischen Verurteilungen sind nachvollziehbar, aber laufen auch Gefahr, die Diktaturvorwürfe von außen zu nähren. Statt Irritation und Abwehr ließe sich noch eine andere Strategie wählen, die offensiv ausgerichtet ist und bei dem wissenschaftlichen Befund ansetzt, dass demokratische Systeme ja tatsächlich unter gewissen Bedingungen in autokratische kippen können. Welche Bedingungen das sind (und wie viele davon aktuell nicht gelten), darüber müsste man dann reden.
Temporalität: Verschwimmende Grenzen
Geschichte und globale Gegenwart lehren, dass die Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur faktisch irgendwann aufweichen können. Systemtransformationen wären ohne diese Möglichkeit überhaupt nicht denkbar. Doch woran lässt sich erkennen, wann die Demokratiedämmerung eingesetzt hat und wann ein System tatsächlich in einen anderen Zustand übergegangen ist? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Transformationsforschung. Sie war und ist auch immer eine politische Frage und ein Problem der gesellschaftlichen und diplomatischen Aushandlung. Russland ist ein gutes Beispiel dafür, wie »die« Diktatur häufig erst durch diskursive Zuweisung empirische Qualität erlangt. Russland war unter Wladimir Putin aus Sicht vieler, vor allem der politischen Gegner, ab einem gewissen Zeitpunkt eine faktische Diktatur. Der Europarat aber stufte Russland erst am 13. Oktober 2023 offiziell als De-facto-Diktatur ein. Damit verbunden war die Aufforderung an alle Mitgliedstaaten der EU, die Legitimität Wladimir Putins als Präsidenten der Russischen Föderation nicht mehr anzuerkennen – allerdings erst nach Ende der bis März 2024 laufenden Amtszeit. Bis dahin hatte er, zumindest aus Sicht des Europarats, noch als demokratisch gewählt gelten müssen.14
Dieser Fall zeigt, was in der Geschichte von Demokratie und Diktatur häufiger anzutreffen war: dass nämlich der Punkt, an dem sich der Umschlag vom einen in das andere aus Sicht der Beobachtenden klar und einhellig identifizieren lässt, im Prinzip nicht zu finden ist. Als Begründung für den Europarat galt im Fall Russlands die Erfüllung folgender Tatbestände: die Missachtung der Verfassung, die Ausweitung der Machtfülle und die fehlende zeitliche Begrenzung der Machtposition Putins, fehlende checks and balances wie ein starkes Parlament, eine unabhängige Justiz und eine freie Presse, die Verfolgung der politischen Opposition und das damit zusammenhängende Einfrieren der Zivilgesellschaft, woraus politische Indifferenz und Propagandagläubigkeit der Bürger erwachse. Inwiefern aber waren die angeführten Kriterien wirklich erst am 13. Oktober 2023 erfüllt? Entscheidend war auch die Realität des Ukrainekriegs. So hieß es in der Begründung, schließlich zeige dieser russische Angriffskrieg, dass Diktaturen eine Bedrohung für den internationalen Frieden und für die territoriale Integrität ihrer Nachbarn darstellten. Die Empirie soll so in diesem Fall auch die theoretische Valenz eines weiteren Kriteriums herausstellen, nämlich die Bedrohung, die anderen Staaten aus der Gegenwart von Diktaturen erwachse.
Der 13. Oktober 2023 verweist darauf, dass die Identifizierung von Diktaturen im Rahmen internationaler Politik immer auch einen normativen Akt darstellt, dem die Perspektiven der in solchen Systemen Lebenden oder auch der Wissenschaft entgegenlaufen können. Als politische Akte verweisen Diktaturdiagnosen heute normativ auf den schützenswerten Gegenentwurf der liberalen Demokratie; sie sind genau besehen nur als Negation der liberalen Demokratie denkbar – als die System gewordene Absenz gewisser Elemente, die funktionierende Demokratien der Gegenwart kennzeichnen. Offen ist lediglich, auf Basis welcher Kriterien die Grenze eindeutig erkennbar wird. Insofern tragen viele Diktaturdiagnosen in Politik und Gesellschaft, aber auch der Autokratiebegriff der Politikwissenschaft, einen Demokratie-Bias in sich. Sie machen »Diktatur« lediglich als die systemische Alternative zur Demokratie denkbar, aber nicht als etwas, das in einzelnen Facetten, in einzelnen Erscheinungsformen oder aber in der Gestalt von Wahrnehmungen auch in liberal-demokratisch verfassten Staaten anzutreffen sein kann – und umgekehrt.
Eine solche normative Unterscheidung von Demokratie und Diktatur, die auch die historisch-politische Bildung inspiriert, erfasst allerdings nicht, was die konkreten historischen Erscheinungsformen vor allem im 20. Jahrhundert, aber auch in der aktuellen Gegenwart bereithalten. Das sind zum einen Einblicke in Systeme, die sich als Alternativen zur liberalen Demokratie verstanden, aber deshalb nicht einfach als Ablehnung von etwas, sondern auch als Ermöglichung zu etwas begriffen werden konnten.15 Zum anderen zeigten und zeigen sich, wie vor allem die jüngere historische Forschung betont, Konstellationen, da sich Demokratisches und Diktatoriales unabhängig vom politischen System überlagern können.
Die verschwimmende Grenze zwischen Demokratie und Diktatur ist deshalb nicht nur ein aktuelles Diskursphänomen, eine Provokation, die Gewissheiten der historisch-politischen Bildung zur Disposition stellt und Verwirrung stiften soll, die jenen nützt, die das existierende System umstürzen möchten. Die mögliche Transition von der Demokratie zur Diktatur ist auch ein empirisches Problem, das bereits im antiken Rom aufgeworfen, aber im 20. Jahrhundert besonders virulent wurde. Insofern ist es vor allem ein historiografisches Problem.
Diktatur als Demokratie denken: Historiografie
Das kulturelle Gedächtnis der vereinigten Bundesrepublik und seine öffentliche Geschichtskultur beruhen auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur. Aus der Abgrenzung sowohl vom NS-Regime als auch von der DDR erwuchs nach 1990 ein intuitives Verständnis davon, dass das eine »Rechtsstaat« und das andere »Unrechtsstaat« sei, Ersteres die Gegenwart und Letzteres die Vergangenheit, abgeschlossen in zeitlichen Behältern, die sich mit 1933 bis 1945 und mit 1949 bis 1990 beschriften ließen.16
Die Geschichtswissenschaft hat viel dazu beigetragen, diese Zeitperioden auszuleuchten und Bilder aus der Diktatur zu sammeln. Mit der Aufgabe gesellschaftlicher Orientierung betraut, fungiert sie als Aufarbeitungswissenschaft par excellence für eine Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Demokratiequalität im Spiegel der diktatorialen Vergangenheit vergewissern will. Die Historikerin Mary Fulbrook, Spezialistin für DDR-Geschichte, hat in den 1990er Jahren angemerkt, dass sich Historiker dabei von den historisch-politischen Debatten und Sprechweisen ihrer Gegenwart beeinflussen lassen. Schon den Diktaturbegriff hielt Fulbrook für »politisch-moralisch befrachtet«.17 Die Zeithistorie hält jedoch bis heute an ihm fest, während Politikwissenschaftler von »Autokratien« oder »autoritären Systemen« sprechen, weil ihnen der Diktaturbegriff zu diffus erschien.18 Doch die »Diktatur« ist für das deutsche Selbstverständnis ein zu starkes Symbol, als dass man es in der öffentlichkeitsaffinen Geschichtsschreibung einfach beerdigen könnte.
Zugleich aber trägt die jüngere Geschichtswissenschaft dazu bei, Unschärfen zu erzeugen. Inspiriert auch durch politikwissenschaftliche Zeitdiagnosen reißen Historikerinnen derzeit die Mauer ein, die Demokratie und Diktatur im kulturellen Gedächtnis trennt. »Jenseits von Demokratie oder Diktatur« werden in neuesten Studien zum staatlichen Handeln in Ministerien und Verwaltung die Kontinuitäten herausgestellt, die die Zäsuren von 1933 oder 1945 transzendierten – ganz zu schweigen von den Kontinuitäten des Verwaltungspersonals, die schon länger bekannt sind.19 Historikerinnen und Historiker begreifen die NS-Diktatur als eine »illiberale Demokratie« oder, mutmaßlich im Anschluss an die zeitgenössische Propagandasprache, als eine »totale Demokratie«.20 Bereits in den 1990er Jahren loteten DDR-Historiker die »Grenzen der Diktatur« aus und meinten damit nicht nur die hausgemachten Probleme des SED-Regimes, sondern dessen Limitierungen bei der Durchdringung der ostdeutschen Gesellschaft.21 Jüngere Demokratiehistoriker sprechen, in Anlehnung an Jacob Talmon, von einer »bolschewistischen totalitären Demokratie« als Gegenentwurf zur westlichen Demokratie.22 Ein fruchtbarer Ansatz stammt von Christina Morina, die in ihrem neuen Buch aufzeigt, dass die Geschichte der SED-Diktatur auch als eine Geschichte des Demokratieanspruchs verstanden werden muss, der in der Bevölkerung Widerhall fand.23
Die aktuelle Geschichtswissenschaft trägt also mit ihren Befunden dazu bei, die Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur verschwimmen zu lassen. Zugleich aber werden auch Wissenschaftler, wenn konkret daraufhin befragt, sicherlich nicht die These vertreten, dass sich Demokratie und Diktatur in der Geschichte Deutschlands nicht mehr unterscheiden ließen. Eine Debatte darüber, was es für die geschichtswissenschaftliche Deutung, aber auch für das politische Selbstverständnis der Gegenwart bedeutet, wenn das Verhältnis zwischen Demokratie und Diktatur in der Geschichte offenbar anders zu vermessen ist, als noch vor dreißig Jahren angenommen, steht jedoch noch aus.
Das liegt auch daran, dass es keine innerfachlichen Debatten gibt über die analytischen Begriffe von Demokratie und Diktatur. Doch wer darüber diskutieren will, wie die Grenzen zwischen diesen Systemen verlaufen und ob der historische Grenzverlauf gar korrigiert werden muss, kann dies nicht, ohne zu definieren, was unter Demokratie und Diktatur verstanden werden soll.24 Gegen Definitionen jedoch, denen immer etwas Überzeitliches, etwas scheinbar Essentielles anhaftet, sträuben sich die meisten Fachhistoriker. Sie entwickeln ihr Verständnis von einem Gegenstand lieber induktiv, um seinem historischen Facettenreichtum und seiner Wandlungsfähigkeit durch die Zeit, auch im Hinblick darauf, wie er begriffen wurde, auf die Spur zu kommen.
Doch woher wissen Historiker dann, dass sie eine Diktatur erforschen und nicht vielleicht doch eine Demokratie? Implizit legen natürlich auch sie Arbeitsdefinitionen von Demokratie und Diktatur zugrunde, allein schon, wenn sie ihren Untersuchungszeitraum auswählen und ihre Fragestellung und Forschungskategorien entwickeln. Sie operieren mit Idealtypen, die im Anschluss an Max Weber geradezu die Funktion haben, in der empirischen Welt so nicht auffindbar zu sein. Deshalb gibt es eigentlich auch keinen Grund, sich vor der Explikation solcher Arbeitsdefinitionen zu scheuen, denn sie finden ohnehin Anwendung. Mary Fulbrook hat einmal von »Kryptotypen« gesprochen, von impliziten Schablonen, mit denen sich Historiker den erforschten Gegenstand der Vergangenheit zurichten, indem sie damit festlegen, was sie unter welchem Blickwinkel betrachten wollen und was sie bewusst oder unbewusst abblenden. Solche Forschungskategorien beschreiben die Aspekte eines Problems, über das man etwas erfahren will.
An demokratische Systeme stellt man gemeinhin andere Fragen als an diktatoriale, weil man auf der Basis des zur Verfügung stehenden Wissens, und meist lediglich mit einem intuitiven Begriff von Demokratie oder Diktatur, davon ausgehen kann, dass demokratische Gesellschaften anders funktionieren als diktatoriale. Eine weitere implizite Annahme ist, dass Demokratien die »Normalität« abbilden und Diktaturen einen permanenten Ausnahmezustand. Nur so erklärt sich, warum auch momentan wieder viel über »Alltag in der Diktatur« gesprochen wird, aber bislang niemand ein Buch über »Alltag in der Demokratie« geschrieben hat, obwohl doch auch sie letztlich nur eine Form von Herrschaft darstellt.
Weil Historikerinnen selten offen über die Idealtypen reflektieren, die ihren Forschungsprozess strukturieren, hat auch kaum jemand bemerkt, dass sie seit ungefähr zwanzig Jahren bereits Fragen an historische Diktaturen stellen, die eigentlich demokratietheoretisch fundiert sind. Das trifft bereits auf die gesamte Debatte um »Konsens« und »Zustimmung« in den deutschen Diktaturen zu.25 In jüngeren Jahren sind Forschungskategorien aus dem Wortfeld der Demokratiegeschichte vielfach auf die europäischen Diktaturen übertragen worden: von »Partizipation« über »Öffentlichkeit« und »Pluralismus« bis hin zum »Rechtsstaat«.26 Umgekehrt sind die Grenzen von Verfassungsstaatlichkeit, Minderheitenschutz oder Meinungsfreiheit in den historischen Demokratien und namentlich in der Bundesrepublik herausgearbeitet worden, man denke nur an Josef Foschepoths Arbeiten zur Überwachungspraxis und zum KPD-Verbot oder jüngst Klaus-Dietmar Henkes Adenauers Watergate über das nachrichtendienstliche Vorgehen gegen die SPD.27
Doch wie sind diese verschwimmenden Grenzen in analytischer Sprache zu fassen? Handelt es sich um Geschichten der Ausnahme von der Regel? Oder gab es Enklaven des Demokratischen in der Diktatur und Enklaven des Diktatorialen in der Demokratie? Welcher substantielle Kern lässt eine Diktatur Diktatur und eine Demokratie Demokratie bleiben, auch wenn sie Grenzen aufweisen? Das sind Fragen, die unmittelbar hinüberführen zur politikwissenschaftlichen Diskussion um die Schwellenwerte zwischen demokratischen, autoritären und autokratischen Regimen.28 Sie sollten dringend transdisziplinär geführt werden, bereichert um das historische Material, das es erlaubt, Alltagswahrnehmungen und politische Systembeschreibungen aus den verschiedensten Blickwinkeln und sozialen Positionen zu rekonstruieren. So lässt sich dann sicherlich auch zumindest in Ansätzen erklären, unter welchen Bedingungen Menschen dazu neigen, ihre persönliche Wahrnehmungstransition von der Demokratie in die Diktatur, und umgekehrt, zu erleben.29
Anmerkungen
Uwe Backes, Autokratien. Baden-Baden: Nomos 2022; Anna Lührmann /Staffan I. Lindberg, A third wave of autocratization is here: what is new about it? In: Democratization, Nr. 26/7, 2019.
Thomas Etzemüller, Demokratie in der Zwischenkriegszeit – die Mär eines europäischen Scheiterns. Eine irritierte Intervention. In: Merkur, Nr. 897, Februar 2024.
Vgl. Thomas Mergel, Dictatorship and Democracy, 1918–1939. In: Helmut Walser Smith (Hrsg.), The Oxford Handbook of Modern German History. Oxford University Press 2011; David Stasavage, The Decline and Rise of Democracy. A Global History from Antiquity to Today. Princeton University Press 2020.
Daniel A. Bell, The China Model. Political Meritocracy and the Limits of Democracy. Princeton University Press 2015; Mark Beeson, The coming of environmental authoritarianism. In: Environmental Politics, Nr. 19/2, 2010.
Der Widerstand, Nr. 2 vom 24. April 2020; vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Querdenken. Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr. Berlin: Metropol 2021.
Vgl. Bernhard Gotto, Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre. Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2018.
Auch vom »Vulgärheroismus« ist die Rede, so bei Astrid Séville, Das Märchen vom Widerstand. Der Vulgärheroismus der Rechtspopulisten. In: Kursbuch, Nr. 200/1, Dezember 2019.
Vgl. Claudia Gatzka, Italien: Das Script der »Befreiung«. In: Andreas Audretsch /Claudia Gatzka (Hrsg.), Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen. Bonn: Dietz 2020.
Bettina Röhl, Das wahre Gesicht des Populismus. In: WirtschaftsWoche vom 3. Juni 2014 (www.wiwo.de/politik/deutschland/bettina-roehl-direkt-die-populistische-gender-politik/9981580.html).
Sarna Röser, Ein Plädoyer für die Mehrheit. Innovation oder Ideologie: In welchem Deutschland wollen wir leben? Kulmbach: Plassen 2023.
Manfred Güllner, Politik contra Bürger – Erreicht Politik noch den Bürger? Vortrag bei der dbb-Jahrestagung in Köln vom 11. Januar 2016 (www.dbb.de/artikel/forsa-chef-manfred-guellner-diktatur-der-minoritaeten-sorgt-fuer-entfremdung-zwischen-politik-und-buergern.html).
Marcus Klöckner /Jens Wernicke, »Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.« Das Corona-Unrecht und seine Täter (2022); Alexander Christ, Corona-Staat. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht (2022); Michael Meyen, Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft (2021). Alle in München bei Rubikon.
SED-Aufarbeitungsbeauftragter beklagt Verharmlosung der Diktatur. In: FAZ vom 25. Dezember 2021 (www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-diktatur-sed-aufarbeitungsbeauftragter-uebt-kritik-17701333.html).
Council of Europe, Parliamentary Assembly, Resolution 2519 (2023), Examining the legitimacy and legality of the ad hominem term-limit waiver for the incumbent President of the Russian Federation vom 13. Oktober 2023.
Vgl. bereits Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 [1962]. München: dtv 1983.
Horst Möller, Diktatur- und Demokratieforschung im 20. Jahrhundert. Über den Sinn des Vergleichs. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 51/1, 2003.
Mary Fulbrook, Methodologische Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Richard Bessel /Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.
Steffen Kailitz /Patrick Köllner (Hrsg.), Autokratien im Vergleich. Baden-Baden: Nomos 2013.
Stefanie Middendorf, Beyond Democracy or Dictatorship: Structuring Sovereign Debt in Germany from Weimar to the Postwar Period. In: Nicolas Barreyre /Nicolas Delalande (Hrsg.), A World of Public Debts. A Political History. London: Palgrave Macmillan 2020.
Thomas Weber, Nationalsozialistische illiberale Demokratie. In: Ders. (Hrsg.), Als die Demokratie starb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart. Freiburg: Herder 2022; Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Beck 2020.
Richard Bessel /Ralph Jessen, Einleitung: Die Grenzen der Diktatur.
Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburger Edition 2014.
Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren. München: Siedler 2023.
Vgl. Andreas Wirsching, Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre (Rezension). In: sehepunkte, Nr. 21/3, 2023 (www.sehepunkte.de/2021/03/34995.html).
Bei David Stasavage (The Decline and Rise of Democracy) unterscheiden sich Demokratien von Autokratien dadurch, dass sie auf dem Konsens der Beherrschten fußen. Demnach wäre die NS-Diktatur nach mehrheitlicher Lesart eine Demokratie. Vgl. als instruktiven Debattenbeitrag für die DDR Andrew I. Port, Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Aus dem Amerikanischen von Sylvia Taschka. Berlin: Ch. Links 2010.
a. Michal Kopeček, Was there a socialist Rechtsstaat in late communist East Central Europe? The Czechoslovak case in a regional context. In: Journal of Modern European History, Nr. 18/3, 2020; Christian Möller, Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020; Sven Reichardt, Faschistische Beteiligungsdiktaturen. Anmerkungen zu einer Debatte. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Nr. 42, 2014.
Josef Foschepoth, Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017; ders., Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012; Klaus-Dietmar Henke, Adenauers Watergate. Die Geheimoperation des BND gegen die SPD-Spitze. Berlin: Ch. Links 2023.
Steffen Kailitz /Patrick Köllner, Zur Autokratieforschung der Gegenwart: Klassifikatorische Vorschläge, theoretische Ansätze und analytische Dimensionen. In: Dies. (Hrsg.), Autokratien im Vergleich.
Mehr dazu demnächst in Claudia C. Gatzka, Demokratie und Diktatur. Geschichte und Gegenwart einer Grenzziehung. Hamburger Edition 2024.
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