Das Kursbuch der Deutschen Bundesbahn
Lebenstaktung in der schwerfälligen Moderne von Thomas EtzemüllerLebenstaktung in der schwerfälligen Moderne
Ich sitze im Walhalla mit David beim Bier. Ich will schon lange über das Bundesbahn-Kursbuch schreiben, habe aber keinen Aufhänger. Bloß darstellen, wie kurios diese Fahrpläne früher aussahen? Da erwähne ich, dass es noch bis in die 1980er Jahre hinein selbst auf Hauptstrecken mehrstündige Löcher im Fahrplan gegeben hat. Zwei bis drei Stunden kein Schnell- oder Eilzug, sechs Stunden kein Nahverkehrszug, durchaus normal. Das ist ihm neu. Und plötzlich weiß ich, wie ich es angehen kann – und warum! Warum über das Kursbuch schreiben? Weil es als Indiz einer vergangenen Moderne gelesen werden kann, einer anderen Taktung des Lebens, vor der Erfindung des angeblichen Menschenrechts auf Mobilität. Das Kursbuch zeigt, wie es auch gegangen ist. Verweist es etwa auf die Zukunft?
Fahr lieber mit der Bundesbahn (Kursbuch, Sommer 1978)
Ich setze mich vor das Kursbuch und versuche noch einmal eine Fahrt zu planen, so wie ich es früher getan habe, früher, als es noch keine privaten Desktop-Computer, kein Internet, keine Mobiltelefone gab. Heute werden solche Fahrpläne gar nicht mehr gedruckt, sondern sind bloß noch als PDF-Dateien im Netz zu finden. »Wofür braucht man Kursbücher«, sagt unser Sohn, »warum muss man es sich schwer machen?« Stimmt ja auch, schauen Sie sich einmal so eine Tabelle an: Da kann es vorkommen, dass fünfmal derselbe Zug nebeneinander steht, jeder mit einer kleinen Schlängellinie und einer Ziffer versehen, die in der Fußnote erklärt: »nicht 25. Dez, 1. Jan, 15., 18. Apr, 26. Mai, 6., 16. Jun, 3. Okt«, beim nächsten »auch 25. Dez, 1. Jan, 6. Jun«, der dritte fährt in Mittelstadt – aber nur samstags – zwei Minuten eher ab, der vierte hat eine abweichende Zugnummer und verkehrt bloß mittwochs vom 10. Oktober bis 31. Dezember, beim fünften gibt man auf. Doch nein, da steht es: Am 3. März, und nur dann, durcheilt er Mittelstadt ohne Halt, vielleicht wegen einer Baustelle. Kein Alltagsreisender sucht sich auf diese Weise noch seine Verbindungen zusammen. Die App ist schneller und zeigt gleich auch – dank der bahneigenen Fehlerquote – alle aktuellen Defekte im Netz unzuverlässig an.
Also, ich probiere es. Zuerst eine leichte Übung, eine hübsche, exotische Fernverbindung im Sommer 1952, Tafel G »Balkan-Würzburg-Hamburg-Oslo /Stockholm«: Ab Istanbul 8.20 Uhr mit dem Orient-Simplon-Expreß. Abends Umstieg in Belgrad in den Tauern-Expreß nach München, dort Anschluss an D 363, den man nachts in Würzburg wieder verlässt, um auf D 385 zu wechseln, der in Hannover zum Frühstück Anschluss an den Italien-Skandinavien-Expreß hat, Ankunft in Stockholm nach weiteren 24 Stunden. Das steht alles auf einer Seite, kein Blättern nötig. Etwas schwerer, weil man drei Tafeln benötigt: der Rheingold von London Richtung Italien im selben Jahr. Tafel E verkündet, dass der Zug nach »Basel-Roma siehe F, K« fährt, aber in der Fortsetzungstafel F verschwindet er hinter Luzern einfach im Verweis »Erstfeld an 22.44«! Wo ist das denn? Tafel K bekräftigt die Information, gibt aber an, dass man um 1.06 Uhr weiterkäme, mit einem erneuten Umstieg in Chiasso. Der Rheingold fährt nicht durch? Oder verbirgt sich irgendwo ein Kurswagen, den mein nicht mehr ganz geübtes Auge übersehen hat? Ich finde nichts.
Ein letzter Versuch, jetzt richtig anspruchsvoll, eine Verbindung durch die westdeutsche Provinz, Sommer 1982, von Laasphe im Wittgensteiner Land ins lippische Oerlinghausen, werktags, weil sonntags kein Zug fährt. Laasphe ab 8.10 Uhr, Cölbe an 9.05, nur zweite Klasse, aber ein lokbespannter Zug (Kursbuchstrecke [KBS] 362), Cölbe ab 9.50, Korbach an 11.20, Triebwagen, nur zweite Klasse, aber ebenfalls mit Gepäckbeförderung (KBS 530). 12.05 Uhr weiter mit dem neu eingelegten Eilzug Marburg-Hagen-Köln, der einen Kurswagen von Bad Wildungen nach Köln führt, Brilon Wald an 12.42 (KBS 532). Die direkte Verbindung über Büren nach Paderborn, die früher einer der langlaufenden »Heckeneilzüge« durchs Hinterland genommen hatte, in diesem Fall von Frankfurt nach Bremen, ist eingestellt, also um 12.46 Uhr mit E 3498 nach Altenbeken, an 14.11. Der Zug macht unterwegs 20 Minuten Kopf in Warburg, und da steht der Hinweis, dass er von Marburg kommt (KBS 350, 340). Wäre es also schneller gegangen? Zurück zur Tabelle 530 und nachschauen. Ja, fährt eine knappe Stunde später in Marburg ab, nein, hält nicht in Cölbe und hat auch keinen späteren Anschluss von Laasphe. Da geht der nächste Zug nämlich erst um 12.10 ab. Es bleibt bei 8.10 Uhr Reisebeginn, und weiter. Den Zug um 14.10 bekommt man in Altenbeken nicht, aber um 14.48 den Heckeneilzug Paderborn-Wilhelmshafen, Lage (Lippe) an 15.20 Uhr (KBS 205), ab 17.04, Oerlinghausen an 17.19 Uhr (KBS 204). Die Fahrt hätte 9:09 Stunden (heute 6:25) gedauert, was mich die Suche gekostet hat, habe ich nicht gestoppt.
Sind die Bundesbahn-Fahrpreise zu hoch? Bitte urteilen Sie selbst: Fahrpreisindex: 2. Klasse Personenzug (1938=100) Hin u. Rückf. 155 (Aug. 55) Lohnindex: (1938=100) 227 (Aug. 55). Berücksichtigen Sie bitte noch, daß über 90 % aller Fahrgäste der Deutschen Bundesbahn verbilligt reisen, davon über 50 % zu den konkurrenzlosen Preisen der Zeitkarten des Berufs- und Schülerverkehrs. (Kursbuch, Sommer 1956)
Wer ein Kursbuch aufschlägt, hat sofort die Komplexität des Reisens vor Augen. Schon in einer einzigen Tabelle sieht man, wie viele Züge auf einer normalen Hauptstrecke ineinandergriffen. Das Kursbuch bot durch Blättern, Querverweise und die Schachtelung mehrerer Strecken in einer Tabelle beständig Varianten an, zum Beispiel das Angebot, über Castrop-Rauxel zu fahren, statt über Essen, oder schnell noch einmal die Strecke von Lemgo nach Hameln zu nutzen, weil man die falsche Seite aufschlug und zufällig erkannte: Da fahren so wenige Züge, diese Strecke muss demnächst bestimmt dran glauben.
Das Smartphone fokussiert effizient auf eine Verbindung. Alle anderen liegen jenseits des Wahrnehmungshorizonts und müssen immer aktiv gesucht werden. Am Kursbuch konnte (und kann) man sich festlesen wie an einem Roman. Es war ein Pendant zu den Reiseberichten des frühen 19. Jahrhunderts, die die Reiseplanung erleichtern, aber auch das Reisen in der Fantasie, im Lehnstuhl daheim ermöglichen sollten. Es versprach Autonomie, weil viele Leute bis in die 1970er Jahre kein eigenes Telefon besaßen und der nächste Schalter der Bundesbahn oft weit entfernt war. Und die deutschen Staatsbahnen begriffen es als imposanten Leistungskatalog, weil es zeigte, dass die Schienenstränge wie feine Adern das ganze Land durchzogen. Bis in die 1950er Jahre war das Streckennetz wahrlich dicht. Allenthalben gab es Nebenbahnen, und wo besonders wenige Menschen wohnten, behalf man sich mit noch kostengünstigeren Schmalspurbahnen. Kreuzen Sie auf der Straße einen schnurgeraden, ebenen Radweg mitten durch die Landschaft – und prüfen Sie auf »OpenStreetMap« oder im Eisenbahnatlas von Schweers und Wall, ob das nicht eine aufgelassene Bahnlinie gewesen ist.
Ein Motor, der ständig läuft, ist früh verbraucht; der Mensch, der sich keine Urlaubsreise gönnt, auch. (Kursbuch, Sommer 1961)
Ich bin Historiker, ich muss zuerst wissen, wie die Geschichte der Kursbücher aussah. Sie beginnt im Dunkel des 19. Jahrhunderts und lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Was ich finde: Ursprünglich wurden die Abfahrtszeiten in Zeitungen und auf Aushängen veröffentlicht. Je mehr Strecken es gab, je mehr Züge fuhren, desto näher lag wohl die Idee, die Abfahrtszeiten zu systematisieren und in eigenen Publikationen zusammenzufassen. Als erstes reguläres Kursbuch gilt das Eisenbahn-, Post- und Dampfschiff-Cours-Buch, herausgegeben im Jahr 1850 vom Königlichen Generalpostamt in Berlin. Dessen amtlicher Charakter lag darin begründet, dass die Post neben den Verbindungen in Deutschland und Europa alle Anschlüsse verzeichnete; die diversen Länder- und Privatbahngesellschaften hatten zuvor nur diejenigen genannt, die Reisende auf ihre eigenen Züge lenken sollten. Die Züge im Cours-Buch nahmen 42 Seiten ein, die Postkutschenkurse 54, die Schiffe acht. 1867 schwoll der Umfang auf 460 Seiten an, 1913 auf über 1100, 1999 war das Kursbuch der Deutschen Bahn – in einem Band! – mit 2477 Seiten acht Zentimeter dick. Die Post- und Bahnbusse hatten längst ein eigenes Fahrplanbuch bekommen.
Der Bahntelegraf steht auch für Privattelegramme zur Verfügung. Normale Gebühren! (Kursbuch, Sommer 1956)
Es wechselte mehrmals seinen Namen, die langlebigsten: Reichs-Kursbuch ab 1881, Deutsches Kursbuch ab 1936, Amtliches Kursbuch Westdeutschland mit Gründung der Bundesrepublik, Kursbuch Gesamtausgabe ab 1971. Die Herausgabe war offenbar so lukrativ, dass zwischen den Kriegen zeitweise zwei amtliche und parallel dazu die Kursbücher privater Verlage herausgegeben wurden. 1932 initiierte die Reichsbahn eine große Kursbuchreform. Sie unterzog die mittlerweile mit Informationen verstopften Tabellen einer gründlichen Überarbeitung und ließ eine gut lesbare Schrifttype entwickeln, die »Reichsbahnschrift«. Das Layout wurde aufgeräumter, großzügiger, überschaubarer, bis die Bahn zu Beginn der 1980er Jahre den Lichtsatz einführte mit seinen schneeweißen, klinisch reinen Tabellen. Mit der vollständigen Umstellung ein paar Jahre darauf war das Kursbuch grafisch vollendet – und ein knappes Vierteljahrhundert später erledigt.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.