Heft 897, Februar 2024

Demokratie in der Zwischenkriegszeit – die Mär eines europäischen Scheiterns

Eine irritierte Intervention von Thomas Etzemüller
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Eine irritierte Intervention

Geschichte wiederholt sich. Nach dem Ersten Weltkrieg sind eine ganze Reihe demokratischer Staaten über die Klinge gesprungen und von rechtspopulistischen Regimes oder autoritären Diktaturen abgelöst worden. Genau dasselbe droht ganz offenkundig heute wieder. Von daher ist es kein Wunder, dass die historische Forschung zum Zerfall von Demokratien im 20. Jahrhundert Konjunktur hat. Wieder scheint eine komplexe, multiple Krisensituation moderne Gesellschaften zu überfordern. Damals aufgrund der Folgen des Weltkriegs, von Inflation und der unkontrollierbaren Weltwirtschaftskrise, die im Mittleren Westen der USA mit einer ökologischen Katastrophe einherging. Heute Klimawandel, Kriege und Flüchtlingskrise. Die Zeit politischer Utopie scheint beendet, und mit zahllosen Feuerwehraktionen bekommen die westlichen Gesellschaften ihre Wald- und politischen Brände nur noch mühsam und kurzfristig unter Kontrolle.

Politologen beschäftigen sich ebenfalls mit der Demokratie der Zwischenkriegszeit – interessanterweise aber mit den Bedingungen ihres Überlebens. Warum haben die schweren Verwerfungen und der Zweite Weltkrieg eigentlich nicht alle Demokratien hinweggefegt? Warum haben Demokratien, warum hat zumindest demokratisches Denken selbst unter nationalsozialistischer Besatzung Bestand gehabt? Wie soll man also die Zwischenkriegszeit interpretieren? Etwa die Hälfte der Demokratien hat überlebt, die Hälfte ist gescheitert. Was ist nun historisch und demokratietheoretisch wichtiger gewesen: Waren der Misserfolg die Regel und die überlebenden Demokratien marginale Fälle? Oder ist ihre Robustheit doch nicht so überraschend gewesen, die gescheiterten jedoch waren ein Irrtum der Geschichte?

Ein Credo des Soziologen Niklas Luhmann lautet, dank zahlloser Variationsmöglichkeiten in modernen, komplexen Gesellschaften sei es eher unwahrscheinlich, dass sich Relationen stabilisieren. Deshalb sei die Frage doch viel interessanter und schwerer zu beantworten, warum etwas funktioniere, als warum nicht. Übertragen auf Geschichte und Gegenwart hieße das: Von welchen Gesellschaften können wir größeren Aufschluss für die Gegenwart gewinnen, von denen, die ihre Demokratie zerstört, oder denjenigen, die sie bewahrt haben? Lernen wir mehr von Historikern oder Politologen?

Natürlich ist diese Gegenüberstellung unterkomplex. Aber zumindest sollte man über die Perspektive reflektieren. Ich möchte das mit einem impressionistischen Durchlauf durch einige historische Darstellungen und politologische Analysen versuchen. Ich bin eher zufällig auf diese Opposition gestoßen, und zwar bei der Arbeit an einem Buch über die »heroische Moderne« (Heinz Dieter Kittsteiner) und die Frage, was die »Ambivalenz« dieser Moderne (Zygmunt Bauman) eigentlich ausgemacht hat, also das »Janusgesicht« (Detlev K. Peukert) von Fortschritt und Vernichtung.1

Historiker spitzen die europäische Geschichte tendenziell auf das rückwärtsgewandte Gesicht zu, auf den Holocaust und damit zugleich auf das fast schon notwendige Ende der Demokratie.2 Eine ganze Reihe einflussreicher und vielgelesener Historiker hat Synthesen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert vorgelegt, aus denen jede Ambivalenz eliminiert ist. Die Titel sind sprechend: Age of Extremes (Eric J. Hobsbawm), Höllensturz (Ian Kershaw), The Dark Valley (Piers Brendon), Das Europa der Diktaturen (Gerhard Besier). In solchen Darstellungen wird die europäische Geschichte latent in eine Korridorperspektive gezwängt: Der politische Gegensatz von Demokratie und Diktatur zieht sich von der (stalinistischen) Sowjetunion über das Deutschland des (totalitären) »Sonderwegs« hinüber zum demokratischen Großbritannien, nebenan Frankreich, im Hintergrund die USA. Länder jenseits des Korridors, die dieses Bild modifizieren würden, und die zentraleuropäischen, etwas eigentümlichen Demokratien der Niederlande oder Belgiens, die ihre Konflikte damals erfolgreich in »Säulen« gegossen oder in ein permanentes Krisenmanagement transformiert hatten, werden in der Regel ignoriert.

Piers Brendons »Panorama der 1930er Jahre« beispielsweise präsentiert Krisen und Diktaturen, die europäischen Demokratien erwähnt er nicht einmal (von Großbritannien und Frankreich abgesehen).3 Für Mark Mazower haben sich Demokratien mühelos in Diktaturen verwandelt. »Nur am Nordrand des Kontinents konnte sich eine effektive parlamentarische Regierungsform halten« – das war’s zu diesem Thema.4 In Edgar Wolfrums und Cord Arendes’ Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts besteht die Zwischenkriegszeit praktisch ausschließlich aus Scheitern,5 und es ist frappierend, Wolfrums Welt im Zwiespalt zu lesen, der für das Jahr 1940 die Zahl der Demokratien auf fünf reduziert, ohne zu erwähnen, dass mehrere von ihnen nicht vermorscht zusammengebrochen sind, sondern von der deutschen Besatzung suspendiert worden waren.6 Ian Kershaws Europa ist ein reines Desaster, ein »verwilderter Kontinent«,7 in dem Demokratien nur in Ausnahmefällen funktionierten. Die Begriffe in seinen Kapitelüberschriften lauten »Selbstzerstörung«, »Abgrund«, »Katastrophe«, »Tanz auf dem Vulkan«, »Düstere Wolken«, »Der Hölle entgegen«, »Hölle auf Erden« und so weiter. Dem skandinavischen Weg widmet Kershaw eine beiläufige Seite, dem Stalinismus unter der ironischen Überschrift »Die Alternative« hingegen gute sieben Seiten.

James Sheehan hat immerhin gefragt, warum Europa im späten 20. Jahrhundert ein friedlicher Kontinent war.8 Aber seine Kapitel eins und zwei handeln von Krieg, Gewalt und Militarismus. Bezeichnend ist die Übersetzung des Haupttitels: Aus Where Have All the Soldiers Gone? wurde Kontinent der Gewalt. So wird der Ton gesetzt. Das ist ein spezielles Framing. Deshalb erklärt Kershaw über Seiten hinweg, warum Demokratien gescheitert sind, kaum aber, warum einige stabil blieben. Gerhard Besier will wissen, wieso Kontinentaleuropa im 20. Jahrhundert ein »Europa der Diktaturen« werden konnte.9 Mit dem »Dritten Reich« vor Augen legt sich über die europäische Geschichte offenbar ein blutiger Schleier. Eine von Eckart Conze und anderen herausgegebene Reihe heißt »Historische Grundlagen der Moderne. Autoritäre Regime und Diktaturen«. Wie soll dort ein Buch über Skandinavien erscheinen? In einem jüngsten Sammelband zu Krisen der Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren werden ausschließlich Diktaturen behandelt. Die Auswahl wird nicht begründet, es gibt keinen Literaturbericht, keine konzeptionellen Überlegungen zu Demokratie und Diktatur, und in einer Rezension des Bands ist folgerichtig von der Demokratie die Rede, die in der Zwischenkriegszeit gescheitert sei.10

Unbestreitbar ist das große zu Erklärende die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, wie es dazu kommen konnte, dass Millionen von Menschen aktiv oder passiv daran mitgewirkt haben, Millionen anderer Menschen zu ermorden. Das ist noch lange nicht vollständig erforscht. Und gerade die letzten Jahre haben gezeigt, wie wenig die angeblich unabänderlichen »Ewigkeitsklauseln« im Grundgesetz und in anderen Verfassungen gelten, wenn politische Extremisten sie beseitigen wollen. Aber sollte man nicht gerade deshalb die Frage nach den Bedingungen stellen, unter denen Demokratien stabil bleiben konnten, statt ex post die gesamte europäische Geschichte auf eigenartige Weise in die Geiselhaft totalitärer Diktaturen zu nehmen? Ich befürchte, dass Historiker der gegenwärtigen Demokratieverachtung Vorschub leisten, wenn sie die damals durchaus funktionierenden Demokratien aus der Geschichte herausschreiben. Denn das macht die autoritären Systeme und Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu etwas Schicksalhaftem und scheint – mit dem Prädikat der Wissenschaftlichkeit versehen – zu belegen, dass Demokratien letztlich den großen Problemen nicht gewachsen sind.

Immerhin ein Historiker, Stefan Plaggenborg, hat zugespitzt gefragt: »Sind Mörderregime geschichtlich relevanter als andere, die sich nicht in Massenvernichtung von Menschenleben und Rassismus historisch manifestierten und deswegen historiographisch immer im Schatten der großen Verbrechersysteme stehen?« Und seine Antwort lautete: »Um in der deutschen Geschichtswissenschaft wahrgenommen zu werden, bedarf es eines Völkermords. Sonst braucht man über das Land nicht viel zu wissen.«11 Ähnlich hat es auch Mazower in Der dunkle Kontinent formuliert: »Wenn diese Erfolge [die Lösung diverser Konflikte in der Zwischenkriegszeit] heute in Vergessenheit geraten sind, so deshalb, weil sie auf zu friedliche Weise erzielt wurden, um in die Geschichtsbücher zu kommen.« Kann es sein, dass die bisherigen Ergebnisse der Totalitarismusforschung sich zu einer Chiffre verdichtet haben, die dann andere empirische Darstellungen über Gebühr prägt? So dass »Ambivalenz« primär von den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts her gedacht wird, »Ordnung« zu sehr vom Terror her?12

Derselbe Stefan Plaggenborg hat allerdings zutreffend konstatiert, dass man Gewalt nicht aus der Moderne herausrechnen dürfe. Das ging gegen eine idealisierende Modernisierungstheorie, die die Sowjetunion als »vormodern« klassifizierte, um sie aus der per se »guten« Moderne zu katapultieren.13 Die europäische Geschichte darf in der Tat nicht auf nett frisiert werden. Die skandinavischen Demokratien mit ihren (Zwangs)Sterilisierungen »geistesschwacher« und »asozialer« Menschen und der harten Minderheitenpolitik gegenüber Sami oder Inuit waren keineswegs gewaltfrei, von der brutalen belgischen und niederländischen Kolonialpolitik ganz zu schweigen. Laut Michael Hanchard ist Exklusion konstitutiv für Demokratien.14 Doch wie will man die Moderne konturieren, wenn man nicht zu erklären versucht, warum einige dieser Gesellschaften trotz Kolonialismus, Unsicherheit und Exklusion seinerzeit nicht in die Diktatur abgerutscht sind?

Ein suggestives Beispiel: Am selben 30. Januar 1933, als in Berlin der Fackelzug vor Hitler defilierte, der gerade die Macht »ergriffen« hatte, wurde in Kopenhagen ein wegweisendes Abkommen geschlossen, das »Abkommen der Kanzlerstraße« (Kanslergadeforliget). Wer kennt es? Es war nach dem Wohnsitz des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Thorvald Stauning benannt, und seine Bedeutung war bahnbrechend. Da rauften sich nämlich eine sozialistische Arbeitnehmer- und eine konservative Produzentenpartei zusammen. Die Bauern wurden durch die Abwertung der Krone und andere Maßnahmen unterstützt, ein einjähriges Verbot von Streiks und Aussperrungen verhinderte einen schweren Arbeitskonflikt, und die Regierung konnte den Aufbau eines modernen Sozialstaats in Angriff nehmen. Gut drei Jahre darauf wiederholten die Schweden und die Finnen diesen Coup.

In der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter gibt es einen Bericht, der die Differenz zu Deutschland noch deutlicher macht. Am 31. Januar 1933 wurde das Abkommen im dänischen Parlament verhandelt, und es war durchaus umstritten. Siebenhundert bis achthundert protestierende Kommunisten hatten sich vor dem Reichstag eingefunden, der von zwanzig Polizisten mit Schlagstöcken bewacht wurde. Als einer der Demonstranten eine Rede halten wollte, wurde er weggeschoben. Es kam zum Tumult, und zum ersten Mal in ihrer Geschichte setzte die dänische Polizei zwei Tränengasgranaten ein. Sie wurden allerdings zurückgeworfen, dann flogen sie hin und her, bis sie in der Tür des Reichstags explodierten. Allen flossen die Tränen, berichtete die Zeitung. Die Polizei erhielt Verstärkung und drängte die angewachsene Schar der Protestierenden zurück, die Steine warfen und drei Beamte verletzten. Bei dieser Mischung aus Slapstick und Gewalt blieb es dann, das Gesetz wurde verabschiedet.15 Auch visuell ist dieses Datum bezeichnend eingefangen: Die Fotos des riesigen Aufmarschs in Berlin stehen plakativ für den Anfang der Barbarei. Eine Fotografie des Kanslergade-Abkommens zeigt einen mit Papier beladenen Schreibtisch, um den herum drei gesetzte Herren stehen, darunter Stauning mit seinem Rauschebart und der runden Brille. Diesem Bild fehlt jede dramatisierende Wirkung, es taucht in den Gesamtdarstellungen der europäischen Geschichte nicht auf. Vielleicht hat Mazower ja Recht: Das ist zu zivilisiert, demokratisch und konstruktiv.

Aber es gab eben diese beiden Optionen, mit der Dynamik der Moderne umzugehen. Und heute gibt es offenbar zwei wissenschaftliche Perspektiven auf Demokratien in der europäischen Zwischenkriegszeit. Dabei kommt es, zugegeben, auch etwas darauf an, wie man rechnet. Für Thomas Ertman haben sich acht von zwölf der westeuropäischen Demokratien, die mit Ende des Ersten Weltkriegs begründet wurden, als resistent erwiesen. Giovanni Capoccia kam zu dem Schluss, dass deren Zahl zwischen 1920 und 1939 von vierundzwanzig auf elf gesunken sei. Ian Kershaw meinte, dass die eine Hälfte der europäischen Nationen aus demokratischen Staaten bestand, die andere aus autoritären Regimes, die teils nicht einmal an politischer Verfolgung oder Führerkult interessiert gewesen seien.16 Nach anderen Berechnungen standen 1938 elf Demokratien neben sechzehn unvollständigen Demokratien oder autoritären Regierungen aller Schattierungen.17

Die radikalste Form autoritären Regierens, der Faschismus, war jedenfalls in den wenigsten Ländern erfolgreich.18 Die demokratischen Staaten mit ihren je unterschiedlichen Modellen des sozialen Ausgleichs, der Konfliktbewältigung und der Konsensbildung hätten vielleicht doch Vorbild sein können. Die autoritären Regimes hätten sich mit dem Aufschwung nach Ende der Weltwirtschaftskrise eventuell doch in Demokratien (rück)-transformieren können. Vielleicht sogar in Deutschland? Neben der mörderischen Entgrenzung im »Dritten Reich« sollte man auch die – ebenfalls erklärungsbedürftige – Nichtentgrenzung in den Blick nehmen.

Weniger hilfreich ist es, die Leistungen der Demokratien zu marginalisieren. So behauptet Thomas Simon, die stabilen Demokratien seien klein beziehungsweise politisch bedeutungslos gewesen. Allerdings begründet er das Scheitern europäischer Demokratien viel zu stark mit deutschen Spezifika und mit unzulässigen Pauschalisierungen, wenn er von »dem« Bürgertum oder »den« Monarchen spricht. Angeblich hätten sich mit dem Erstarken der Sozialdemokratie weite Teile des bürgerlichen Lagers von der parlamentarischen Demokratie abgewandt. Warum das nicht überall in Europa geschah und warum dieses Lager in Preußen bis 1932 gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Demokratie stabilisierte, erklärt er nicht.19

Andere Autoren dagegen haben höchstens rudimentäre Kenntnisse von Geschichte und Gesellschaftsordnung der skandinavischen Länder. Jan-Werner Müller beispielsweise behauptet in seiner »politischen Ideengeschichte Europas«, die Allianz aus Bauern und Sozialdemokraten in Schweden habe sich »glücklichen Umständen« verdankt.20 Diese Demokratie baute jedoch nicht auf Glück, sondern gründete tief in demokratischen Praktiken und belegt, dass die Geschichte der Brendons und Wolfrums nicht die Autorität historischer Wahrheit für sich beanspruchen kann.

Ein Problem stellt die Frage dar, wie man bestimmt, welches Land als Demokratie einzustufen ist. Thomas Ertman hat gefordert, das Zusammenspiel sozialer Bewegungen und politischer Parteien in den Blick zu nehmen, um die je unterschiedliche Ausgestaltung und Stabilität von Demokratien zu verstehen. Das läuft eher auf qualitative Analysen hinaus. Andere Politologen nutzen umfangreiche Datensätze, die während der letzten Jahrzehnte erstellt worden sind, etwa von Seymour Martin Lipset, Tatu Vanhanen, Gregory Luebbert, dem European Consortium for Political Research und anderen. Diese Datensätze versuchen mithilfe von drei bis zehn Variablen – die meisten sind bei vier bis fünf eingependelt –, die Differenz zwischen Demokratie, unvollständiger Demokratie und autoritärem System zu bestimmen. Die Anzahl der Variablen ist höchst unterschiedlich, sie sind inhaltlich sehr disparat und lassen mehrheitlich nur binäre Optionen zu, von denen mir nicht bei allen einleuchtet, wie sie begründet sind.

Ein paar Beispiele: Stehen mehrere Parteien zur Wahl? Verhindert ein Staat Wahlbetrug? Ist die Regierung gegenüber dem Parlament verantwortlich? Liegen das Bruttosozialprodukt unter oder über 200 Dollar, der Urbanisierungsgrad unter oder über 50 Prozent, die Alphabetisierungsquote unter oder über 75 Prozent? Sind mindestens 50 Prozent der Erwachsenen – oder der Männer – wahlberechtigt? Schon mit dem Kriterium »universales Wahlrecht« könnte man »die USA erst ab 1920, Großbritannien erst ab 1928 und etwa Belgien, Frankreich und die Schweiz in der Zwischenkriegszeit zu keinem Zeitpunkt als Demokratien einstufen«.21 Deshalb macht der Politologe Steffen Kailitz für diese Zeit gar keine vollendete Demokratie aus. In einigen Fällen werden die Variablen dann mit 0/1 codiert und je Land eine Summe gezogen, die den Grad der Demokratisierung anzeigt. Warum aber beispielsweise viermal eine Eins für das eine Land eine Null, für das andere eine Eins als Ergebnis haben können, bleibt mir bei solchen Erhebungen unklar.22 Trotz dieser Unzulänglichkeiten, die Politologen selbst thematisieren und durch Metastudien zu korrigieren versuchen: Ihre Auseinandersetzung mit Demokratien in der Zwischenkriegszeit ist deutlich differenzierter, als es die erwähnten geschichtswissenschaftlichen Synthesen sind.

Das Bild bleibt allerdings mehrdeutig. Steffen Kailitz stellte fest, dass sich damals »Demokratien in einer Grauzone zwischen Scheitern und Überleben bewegen« konnten. In den Niederlanden, Skandinavien oder der Tschechoslowakei war man nach 1918 von der Idee der parlamentarischen Demokratie erst einmal nicht wirklich überzeugt.23 Elisabeth Dietermann behauptet, dass sich die Demokratie in den Niederlanden durchgesetzt habe, weil sich die Eliten auf keine bessere Alternative einigen konnten. In der Tschechoslowakei war man ebenfalls skeptisch, dort bildete sich eine merkwürdige präsidiale Diktatur auf Zeit heraus, die eine echte Volksherrschaft ermöglichen sollte. Für die Dänen wiederum war es entscheidend, Demokratie nicht mit Parlamentarismus und Parteienherrschaft zu identifizieren, dafür aber mit dem Willen des Volkes. Der Theologe und Kirchenhistoriker Hal Koch hat seinerzeit das politische Credo so formuliert: »Der Grundgedanke im Ganzen ist ja gerade der, dass niemand von uns Recht hat.«24 Eindringlicher kann man die Pflicht zum Konsens wohl kaum formulieren. In der letzten Folge der dritten Staffel der dänischen Serie Borgen erringt die ehemalige Ministerpräsidentin mit einer neuen Partei auf Anhieb dreizehn Sitze – von 179. Trotzdem wird ihr aus taktischen Gründen von anderen Parteien das Amt der Regierungschefin angetragen. Wäre das irgendwo anderswo auf dem Kontinent auch nur denkbar? In den USA und Großbritannien wäre es technisch sogar unmöglich. In Schweden und den Nachbarländern sind Minderheitsregierungen dagegen der historische Normalfall.25

Finnland hatte schon als Großfürstentum innerhalb des russischen Reichs ein funktionierendes Parlament, das aktive und passive Frauenwahlrecht seit 1906, gut ausgebaute Verwaltungsstrukturen und eine funktionierende Volkswirtschaft. Johanna Rainio-Niemi hat das als demokratische Revolution von oben innerhalb einer der autokratischsten Monarchien Europas charakterisiert. Die Eliten wollten die finnische Autonomie innerhalb des russischen Reichs verteidigen, deshalb standen sie auf Seiten der Demokratie. Sie wurde »als besondere Eigenschaft des Staates und der gesamten Nation wahrgenommen«.26 1907 errangen die Sozialdemokraten achtzig der zweihundert Parlamentssitze. Nach der Unabhängigkeit 1917 begann allerdings ein kurzer, brutaler Bürgerkrieg, der viele Opfer kostete und die Gesellschaft lange prägte. Danach war es mühsam, die Nation zu einen, und 1932 putschten Rechtsextremisten – der Staatspräsident beendete das allerdings innerhalb einer Woche auf friedlichem Weg. Wenn also in Skandinavien – Dänemark, Norwegen und Schweden – kollektivistische Praktiken die Demokratie stabilisierten und Faschisten den Wind aus den Segeln nahmen, dann waren es in Finnland »die relativ gut legitimierten staatlichen Strukturen (wie etwa der Verwaltung) und die historisch tief verwurzelte Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Verfassungskontinuität« (Rainio-Niemi), die dasselbe leisteten. Und auch in Finnland sorgte die »nordische Parteienlandschaft« für Stabilität, weil sich die Interessen der vielen kleinen Parteien überlappten und deshalb die Konsensorientierung stärkten.

Zwei Beispiele von der anderen Seite. Allan Zink hat das griechische Metaxas-Regime als »limitierten Faschismus« bezeichnet. Metaxas habe sich ab 1936 auf die Faschisten gestützt, weil er vom König abhängig war und sich weder auf eine Partei noch eine Massenbasis stützen konnte, ihm fehlte sogar die Kontrolle über das Militär.27 In Portugal ebnete das Militär einem zivilen Diktator den Weg, der mithilfe von Professoren und einer effizienten Verwaltung einen korporativen, antiurbanen, katholischen Ständestaat schaffen wollte. Das war eine Diktatur der Regierung, nicht des Militärs oder einer Einheitspartei. Salazar ließ inhaftieren und foltern, aber es wurden keine unversöhnlichen, auszumerzenden Feinde imaginiert, deshalb gab es wenig Tote, und 1974 putschte das Militär das Land in die Demokratie zurück.28

Diese knappen Bemerkungen sollen markieren, wie genau man beobachten muss, wenn man Demokratien in der Zwischenkriegszeit verstehen will – was überhaupt eine Demokratie war und wie sie funktionierte. Großbritannien, »Mutterland der Demokratie«, war vor 1918 eine elektorale Oligarchie und ist heute eine Demokratie, in der die Regierung mit nur wenigen »Vetopunkten« konfrontiert ist. Damit sind Koalitionspartner, Verfassung, Föderalismus oder Verrechtlichung gemeint. Die Regierung tappt nicht ständig in die »Politikverflechtungsfalle«,29 die andere Staaten plagt. Aber ist das »demokratisch«? Und das britische Wahlrecht mit dem Prinzip des »The winner takes it all«?

Bevor man also von Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert spricht und sie schlicht auf ein dichotomisches Verhältnis reduziert, sollte man eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas schreiben. »Verfassung« meine ich in einem ganz breiten Sinn: Wie sieht eine politische Kultur aus, wie sehen politische Praktiken aus, welche politischen Verfahren und Institutionen haben sich herausgebildet und so weiter? Wie werden Konflikte ausgetragen, was wird überhaupt als »Konflikt« verstanden? Welche Konsensmechanismen gibt es? Inwieweit ist der Alltag der Menschen politisiert, beispielsweise durch die Verankerung in sozialen Bewegungen? Welche Rolle spielen Design oder Sport und Körperkultur bei der Formierung neuer, demokratischer Menschen? Ich vermute, dass in Deutschland selbst die Kenntnisse um die französische Gesellschaftsverfassung oft ausbaufähig sind, um diese höchst spezifische Raison d’être von Republik, Sprache und planification, von Schule, Militär und Region.30

Man muss differenziert beschreiben und verstehen, warum Konflikte in Deutschland anders ausgetragen wurden als in Skandinavien oder warum eine zersplitterte Parteienlandschaft hier für Konsens, dort für Dissens sorgt. Soziale Strukturen, Institutionen, Organisationen, Verfahren, Praktiken, Selbstbilder, nationale Mythen und Erfahrungen, kollektive Verhaltensweisen, Mentalität, das alles ist historisch gewachsen, und es formatiert, wie eine Gesellschaft sich selbst steuert. Dieser Verfassungsbegriff dehnt »das Politische« recht weit, weil er alltägliche Praktiken nicht für unpolitisch hält.

Soziologen wurde vorgeworfen,31 eine idealisierte Moderne zu entwerfen und die Sowjetunion und den Nationalsozialismus als in allen Bereichen gescheiterte Experimente zu charakterisieren, um sie modernetheoretisch für irrelevant erklären zu können. Damit hätten sie Baumans Provokation, dass Gewalt der Moderne inhärent ist, ignoriert. Historiker neigen dazu, die Geschichte der Zwischenkriegszeit auf Gewalterfahrungen zuzuspitzen. Sollte man also den Politologen folgen? Zumindest lässt ihr Bild Platz für die leuchtende, die düstere und die ambivalente Moderne. Es kommt darauf an, welches Land man in den Blick nimmt und wie demokratisch dessen Verfassung aussah.

Das könnte die Lehre sein, die wir für die Gegenwart ziehen sollten. Die Demokratie wird erneut attackiert. Wie wollen wir sie bewahren helfen? Indem wir analysieren, wie Brandstifter und Opportunisten schon einmal vorgegangen sind? Oder indem wir diejenigen optimistischen Pragmatiker in den Blick nehmen, die seinerzeit Demokratien am Laufen gehalten haben? Warum gibt es zahlreiche Forschungsprojekte zu Gewalt und antidemokratischen Akteuren, aber keines – oder kaum eines – zur friedlichen Kooperation? Ergibt sich das aus der Sache selbst oder bloß aus heutigen Rezeptionsmustern? Aus der selbstzerstörerischen Dynamik der medialen Aufmerksamkeitsökonomie – Zersetzung »sells« –, an der Lust an multiplen Katastrophen? Wenn wir so betont einseitig auf die Geschichte der Demokratie blicken – warum reden wir uns dann ein, sie verteidigen zu wollen?

Anmerkungen

1

Thomas Etzemüller, Hatte die Moderne ein »Janusgesicht«? Eine kritische Betrachtung aus (nord-)europäischer Perspektive. In: Rüdiger Hachtmann /Sven Reichardt (Hrsg.), Detlev Peukert und die NS-Forschung. Göttingen: Wallstein 2015; ders., Ambivalente Metaphorik. Ein kritischer Rückblick auf Zygmunt Baumans »Dialektik der Ordnung« (1989). In: Zeithistorische Forschungen, Nr. 14, 2017.

2

Ausnahmen bestätigen die Regel: Tim B. Müller /Adam J. Tooze (Hrsg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition 2015; Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Beck 2020.

3

Piers Brendon, The Dark Valley. A Panorama of the 1930s. London: Knopf 2000.

4

Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Übersetzt von Hans-Joachim Maass. Berlin: Alexander Fest 2000.

5

Edgar Wolfrum /Cord Arendes, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Kohlhammer 2007.

6

Edgar Wolfrum, Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett-Cotta 2017.

7

Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Aus dem Englischen von Klaus Binder u.a. München: DVA 2016.

8

James Sheehan, Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. Übersetzt von Martin Richter. München: Beck 2008.

9

Gerhard Besier, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts. München: DVA 2006.

10

Michaela Maier u.a. (Hrsg.), Die Krisen der Demokratie in den 1920er und 1930er Jahren. Spanien – Portugal – Italien – Jugoslawien – Ukraine – Ungarn – Rumänien – Polen – Österreich. Wien: Böhlau 2023; Clemens Klünemann, Jagd auf die Demokratie. In: SZ vom 18. September 2023.

11

Stefan Plaggenborg, Ordnung und Gewalt. Kemalismus – Faschismus – Sozialismus. München: Oldenbourg 2012.

12

Neben Kershaw, Mazower und anderen vgl. Jörg Baberowski /Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzeß und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium. Bonn: Dietz 2006; Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung. München: Oldenbourg 2003; Marshall Berman, All that is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York: Simon and Schuster 1982; Gabriel Jackson, Zivilisation und Barbarei. Europa im 20. Jahrhundert. Frankfurt: Insel 1999; Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Deutungsmuster für die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Mittelweg 36, Nr. 21/6, Dez. 2012 /Jan. 2013; Bernard Wasserstein, Barbarism & Civilization. A History of Europe in Our Time. Oxford University Press 2007.

13

Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der Sowjetische Weg. Frankfurt: Campus 2006.

14

Michael George Hanchard, The Spectre of Race. How Discrimination Haunts Western Democracy. Princeton University Press 2018.

15

Dagens Nyheter vom 31. Januar 1933.

16

Giovanni Capoccia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in Interwar Europe. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2005; Thomas Ertman, Democracy and Dictatorship in Interwar Western Europe Revisited. In: World Politics, Nr. 50/3, April 1998; Kershaw, Höllensturz.

17

Niels Kayser Nielsen, Demos, ethnos, oikos – en nordisk historie fra mellemkrigstiden. In: Scandia, Nr. 68/2, 2002; Bernard Rulof, Selling Social Democracy in the Netherlands: Activism and its Sources of Inspiration during the 1930s. In: Contemporary European History, Nr. 18/4, November 2009; die Beiträge in Dirk Berg-Schlosser /Jeremy Mitchell (Hrsg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39. London: Macmillan 2000; Müller /Tooze (Hrsg.), Normalität und Fragilität.

18

Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945. Stuttgart: Reclam 2006.

19

Thomas Simon, Einleitung: Aufstieg und Krise der parlamentarischen Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit. In: Parliaments, Estates & Representation, Nr. 40/2, Mai 2020.

20

Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp 2013.

21

Steffen Kailitz (Hrsg.), Nach dem »Großen Krieg«. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017.

22

Dirk Berg-Schlosser /Gisèle De Meur, Conditions of Democracy in Interwar Europe. A Boolean Test of Major Hypotheses. In: Comparative Politics, Nr. 26/3, April 1994; Dirk Berg-Schlosser /Jeremy Mitchell (Hrsg.), Authoritarianism and Democracy in Europe, 1919–39. Comparative Analyses. New York: Palgrave 2002; Jørgen Møller /Svend-Erik Skaaning, Democratic Spells in Interwar Europe – the Borderline Cases Revisited. In: Steffen Kailitz (Hrsg.), Nach dem »Großen Krieg«.

23

Elisabeth Dietermann, Demokratische Perspektiven in den Niederlanden der 1930er Jahre; Jeppe Nevers, Demokratiekonzepte in Dänemark nach dem Ersten Weltkrieg; Andrea Orzoff, Das Personal und das Vokabular der Demokratie. Die Erste Tschechoslowakische Republik. Alle in: Müller /Tooze (Hrsg.), Normalität und Fragilität.

24

Zit. n. Kayser Nielsen, Demos, ethnos, oikos (Hervorhebung im Original).

25

Torbjörn Bergman, When Minority Cabinets are the Rule and Majority Coalitions the Exception. In: Wolfgang C. Müller /Kaare Strøm (Hrsg.), Coalition Governments in Western Europe. Oxford University Press 2000.

26

Johanna Rainio-Niemi, Die finnische Demokratie in der Zwischenkriegszeit. In: Müller /Tooze (Hrsg.), Normalität und Fragilität.

27

Allan Zink, Greece: Political Crisis and Authoritarian Takeover. In: Berg-Schlosser /Mitchell (Hrsg.), Conditions of Democracy in Europe, 1919–39.

28

Ursula Prutsch, Iberische Diktaturen. Portugal unter Salazar, Spanien unter Franco. Innsbruck: Studienverlag 2012.

29

Thomas Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung. Hamburg: Junius 2012.

30

Und erst recht um die Bedeutung der Verpolderung in den Niederlanden. Gegen das Meer musste das Land eingedeicht werden, was verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu Interessenausgleich und Kompromissen zwang. Dazu die bereits angesprochene »Versäulung« – und das ergab eine »Pazifierungsdemokratie«, die von etwa 1917 bis in die sechziger Jahre Bestand hatte. Vgl. Anne Heyer, Die Niederlande: Ein Land des politischen Kompromisses? In: Detlef Lehnert (Hrsg.), Transnationale Demokratisierung in Europa. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Berlin: Metropol 2023.

31

Plaggenborg, Experiment Moderne; Michaela Christ /Maja Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven. Berlin: Suhrkamp 2014.

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