Heft 897, Februar 2024

Das Land der schreienden Steine und unser Schweigen

Im Schatten geopolitischer Großkonflikte wird Armenien von seinem historischen Trauma eingeholt von Bernhard Malkmus

Im Schatten geopolitischer Großkonflikte wird Armenien von seinem historischen Trauma eingeholt

Bergkarabach-Arzach

Zwölf Stunden früher als Wladimir Putin komme ich in Jerewan an. Die Maschine aus Wien landet um halb drei in der Nacht. Dichtes Gedränge in der Empfangshalle. Julia Kramer vom Goethe-Institut winkt mir zu, als seien wir schon alte Bekannte. Sie stellt mir Artur vor, den institutseigenen Chauffeur, der damit beauftragt ist, mir in der vor uns liegenden Woche das armenische Alphabet und die Zahlen von eins bis zehn beizubringen. Die Kälte der Nacht sickert durch den Fensterspalt des Mercedes S-Klasse, in dem wir über die verwaiste Ringautobahn rauschen und durch honiggelb erleuchtete Vorstädte rumpeln. In der Pension Villa Ayghedzor nimmt mich eine freudestrahlende Nachtportierin in Empfang. In meinem teppichverhangenen Zimmer im ersten Stock öffne ich die holzgeschnitzten Verandaläden, es ist noch stockfinster. Im Süden, wo ich den Ararat vermute, der angeleuchtete schlanke Obelisk von Zizernakaberd (»Schwalbenfestung«), der zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Der Obelisk sei in der Mitte gespalten, hatte ich auf der Reise gelesen, als Zeichen für die Spaltung armenischer Identität in Diaspora und Heimat.

Wir befinden uns im Jahr 2015. Morgen, am 24. April, werden wir beide an der Schwalbenfestung sein: Putin am Vormittag beim Staatsakt, ich am späten Abend mit armenischen Freunden, nachdem der Nachtwind die Frühlingswärme wieder aus der Stadt geblasen hat. Vor hundert Jahren ordnete Mehmed Talât, der osmanische Innenminister, an, armenische Intellektuelle in Konstantinopel festzunehmen und ins Landesinnere zu deportieren. Auch wenn es bereits Jahrzehnte zuvor Massaker an Armeniern und anderen Volksgruppen gegeben hatte, gilt dieser »Rote Sonntag« (karmir kiraki) als der Beginn der systematischen Vernichtung armenischen Lebens im Osmanischen Reich. In langen Todesmärschen wurden unter Billigung der Bündnispartner aus Deutschland und der k.u.k. Doppelmonarchie während des Ersten Weltkriegs anderthalb Millionen Armenier ermordet oder in der syrischen Wüste dem Hungertod ausgeliefert.

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