Heft 873, Februar 2022

Das liebe Geld

Literatur und Autonomie-Ideologie von Johannes Franzen

Literatur und Autonomie-Ideologie

Ein altes Sprichwort sagt: »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing« – damit ist die brutalste Grunderkenntnis der Kultursoziologie konzise zusammengefasst. Jemand muss für die Kunst bezahlen, und diese Tatsache hat Einfluss darauf, wie die Kunst am Ende aussieht. Das Sprichwort verweist auf die Zeit der Vormoderne, in der die Künstler von reichen, oft adligen Gönnern abhängig waren, die für ihr Geld als Gegenleistung erwarteten, dass die Kunst ihnen wohlgesonnen sein würde. Walther von der Vogelweide, der im Hochmittelalter für Bezahlung und Geschenke (wie einen berühmten Pelzrock) das dichterische Sprachrohr eines Fürsten wurde, gehört zu den bekannten Beispielen, die das historische Klischee von der heteronomen Vormoderne illustrieren sollen.

Der Fürst, der ein schmeichelndes Porträt, ein pompöses Geburtstagsgedicht oder ein leichtes Concerto für seine Gartenparty verlangt – das entspricht der modernen Vorstellung davon, was Heteronomie in ihrem Herzen ausmacht. Die offizielle Erzählung der Kulturgeschichte geht dann so: Mit dem Beginn der Moderne setzt sich die Idee einer freien Kunst durch, die sich weder einem Fürsten oder einem politischen Programm noch den Anforderungen des Marktes unterwirft.

Was diese Erzählung allerdings oft unterschlägt, ist der Umstand, dass Künstlerinnen und Künstler auch in der Moderne irgendwie ihre Miete bezahlen müssen. Die modernistische Genieästhetik erkauft sich den Mythos vom freien Autor durch die Romantisierung der Deprivation – durch den Mythos vom leidenden, prekären, aber freien Dichter. Die Literatur soll nicht vom Geld abhängig sein und den schmutzigen Anforderungen, die damit verbunden sind. Denn das Geld schreibt immer mit am Text, und diese Co-Autorschaft sollte nach Möglichkeit eingeschränkt werden. Das hat zur Folge, dass bis heute vor allem diejenigen ihren Lebensunterhalt mit der Kunst verdienen können, die sie verkaufen, erforschen oder lehren, aber selten diejenigen, die sie schreiben.

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