Couch Guy
von Johannes FranzenDas Jahr 2021 war für die meisten Menschen nicht leicht, aber für den Studenten Robert McCoy, besser bekannt unter dem Spitznamen »Couch Guy«, muss es besonders schwer gewesen sein. Am 21. September 2021 überraschte seine Freundin ihn an der University of Virginia mit einem Besuch. Das hätte ein normaler privater Moment sein können, aber wir leben in einer Zeit, in der jeder private Moment das Potential hat, digital vergesellschaftet, also zu einem Ereignis zu werden, an dem zahlreiche Menschen teilhaben, die ohne soziale Medien damit nicht das Geringste zu tun hätten.
McCoys Freundin hatte einen kurzen Surprise Clip auf der Plattform TikTok hochgeladen und mit einem gefühlvollen Song unterlegt (Still Falling For You von Ellie Goulding). Was zunächst als liebenswerter Eintrag in ein digitales Tagebuch gedacht war, wurde bald zum Gegenstand eines kollektiven forensischen Furors. Im Video – das inzwischen Millionen und Abermillionen Menschen angeschaut haben – sieht man, wie die Freundin mit einem Rollkoffer ein Apartment betritt. Dort sitzt McCoy gerade auf einer Couch neben drei Frauen, zeigt allerdings zunächst einmal keine nennenswerte Regung, bis er endlich langsam aufsteht und seinen Besuch in den Arm nimmt.
In der TikTok-Community kam diese verzögerte Reaktion ausgesprochen schlecht an. Einige User meinten, das Ausbleiben sichtbarer Anzeichen spontaner Begeisterung auf Seiten McCoys als offensichtliches Indiz für dessen Untreue werten zu müssen. In der Folge entbrannten fieberhafte Debatten darüber, ob der Clip nicht womöglich Anhaltspunkte für noch gravierendere Verfehlungen enthalte, wobei jedes körpersprachliche Detail eingehend daraufhin untersucht wurde, ob es nicht etwa als potentieller Indikator für toxische Charakterzüge und gewalttätige Tendenzen infrage komme. Für eine Analyse der Gegenwartskultur stellt der Fall McCoy eine faszinierende Quelle dar. Er wirft Fragen nach den Mechanismen der digitalen Öffentlichkeit auf, die eine Form von kollektiver Kreativität freigesetzt haben – einer Kreativität allerdings, die zu moralisch fragwürdigen Kontrollverlusten führen kann.