Demokratie in der Zwischenkriegszeit – die Mär eines europäischen Scheiterns
Eine irritierte Intervention von Thomas EtzemüllerGeschichte wiederholt sich. Nach dem Ersten Weltkrieg sind eine ganze Reihe demokratischer Staaten über die Klinge gesprungen und von rechtspopulistischen Regimes oder autoritären Diktaturen abgelöst worden. Genau dasselbe droht ganz offenkundig heute wieder. Von daher ist es kein Wunder, dass die historische Forschung zum Zerfall von Demokratien im 20. Jahrhundert Konjunktur hat. Wieder scheint eine komplexe, multiple Krisensituation moderne Gesellschaften zu überfordern. Damals aufgrund der Folgen des Weltkriegs, von Inflation und der unkontrollierbaren Weltwirtschaftskrise, die im Mittleren Westen der USA mit einer ökologischen Katastrophe einherging. Heute Klimawandel, Kriege und Flüchtlingskrise. Die Zeit politischer Utopie scheint beendet, und mit zahllosen Feuerwehraktionen bekommen die westlichen Gesellschaften ihre Wald- und politischen Brände nur noch mühsam und kurzfristig unter Kontrolle.
Politologen beschäftigen sich ebenfalls mit der Demokratie der Zwischenkriegszeit – interessanterweise aber mit den Bedingungen ihres Überlebens. Warum haben die schweren Verwerfungen und der Zweite Weltkrieg eigentlich nicht alle Demokratien hinweggefegt? Warum haben Demokratien, warum hat zumindest demokratisches Denken selbst unter nationalsozialistischer Besatzung Bestand gehabt? Wie soll man also die Zwischenkriegszeit interpretieren? Etwa die Hälfte der Demokratien hat überlebt, die Hälfte ist gescheitert. Was ist nun historisch und demokratietheoretisch wichtiger gewesen: Waren der Misserfolg die Regel und die überlebenden Demokratien marginale Fälle? Oder ist ihre Robustheit doch nicht so überraschend gewesen, die gescheiterten jedoch waren ein Irrtum der Geschichte?
Ein Credo des Soziologen Niklas Luhmann lautet, dank zahlloser Variationsmöglichkeiten in modernen, komplexen Gesellschaften sei es eher unwahrscheinlich, dass sich Relationen stabilisieren. Deshalb sei die Frage doch viel interessanter und schwerer zu beantworten, warum etwas funktioniere, als warum nicht. Übertragen auf Geschichte und Gegenwart hieße das: Von welchen Gesellschaften können wir größeren Aufschluss für die Gegenwart gewinnen, von denen, die ihre Demokratie zerstört, oder denjenigen, die sie bewahrt haben? Lernen wir mehr von Historikern oder Politologen?
Natürlich ist diese Gegenüberstellung unterkomplex. Aber zumindest sollte man über die Perspektive reflektieren. Ich möchte das mit einem impressionistischen Durchlauf durch einige historische Darstellungen und politologische Analysen versuchen. Ich bin eher zufällig auf diese Opposition gestoßen, und zwar bei der Arbeit an einem Buch über die »heroische Moderne« (Heinz Dieter Kittsteiner) und die Frage, was die »Ambivalenz« dieser Moderne (Zygmunt Bauman) eigentlich ausgemacht hat, also das »Janusgesicht« (Detlev K. Peukert) von Fortschritt und Vernichtung.
Historiker spitzen die europäische Geschichte tendenziell auf das rückwärtsgewandte Gesicht zu, auf den Holocaust und damit zugleich auf das fast schon notwendige Ende der Demokratie. Eine ganze Reihe einflussreicher und vielgelesener Historiker hat Synthesen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert vorgelegt, aus denen jede Ambivalenz eliminiert ist. Die Titel sind sprechend: Age of Extremes (Eric J. Hobsbawm), Höllensturz (Ian Kershaw), The Dark Valley (Piers Brendon), Das Europa der Diktaturen (Gerhard Besier). In solchen Darstellungen wird die europäische Geschichte latent in eine Korridorperspektive gezwängt: Der politische Gegensatz von Demokratie und Diktatur zieht sich von der (stalinistischen) Sowjetunion über das Deutschland des (totalitären) »Sonderwegs« hinüber zum demokratischen Großbritannien, nebenan Frankreich, im Hintergrund die USA. Länder jenseits des Korridors, die dieses Bild modifizieren würden, und die zentraleuropäischen, etwas eigentümlichen Demokratien der Niederlande oder Belgiens, die ihre Konflikte damals erfolgreich in »Säulen« gegossen oder in ein permanentes Krisenmanagement transformiert hatten, werden in der Regel ignoriert.
Piers Brendons »Panorama der 1930er Jahre« beispielsweise präsentiert Krisen und Diktaturen, die europäischen Demokratien erwähnt er nicht einmal (von Großbritannien und Frankreich abgesehen). Für Mark Mazower haben sich Demokratien mühelos in Diktaturen verwandelt. »Nur am Nordrand des Kontinents konnte sich eine effektive parlamentarische Regierungsform halten« – das war’s zu diesem Thema. In Edgar Wolfrums und Cord Arendes’ Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts besteht die Zwischenkriegszeit praktisch ausschließlich aus Scheitern, und es ist frappierend, Wolfrums Welt im Zwiespalt zu lesen, der für das Jahr 1940 die Zahl der Demokratien auf fünf reduziert, ohne zu erwähnen, dass mehrere von ihnen nicht vermorscht zusammengebrochen sind, sondern von der deutschen Besatzung suspendiert worden waren. Ian Kershaws Europa ist ein reines Desaster, ein »verwilderter Kontinent«, in dem Demokratien nur in Ausnahmefällen funktionierten. Die Begriffe in seinen Kapitelüberschriften lauten »Selbstzerstörung«, »Abgrund«, »Katastrophe«, »Tanz auf dem Vulkan«, »Düstere Wolken«, »Der Hölle entgegen«, »Hölle auf Erden« und so weiter. Dem skandinavischen Weg widmet Kershaw eine beiläufige Seite, dem Stalinismus unter der ironischen Überschrift »Die Alternative« hingegen gute sieben Seiten.
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