Ungeliebte, kalte, heroische Moderne
Dezisionisten und Sozialingenieure von Thomas EtzemüllerDezisionisten und Sozialingenieure
»Antihistorismus« statt Laissez-faire
»Ungeliebte Moderne« hat der Freiburger Soziologe Wolfgang Eßbach eine Vorlesung genannt, die er 2009 hielt.1 Er musterte paarweise wichtige Diagnostiker der Moderne, nämlich Max Weber und Sigmund Freud, die sich an irrationalen Zügen einer »schwierigen Moderne« abarbeiteten, der der Glaube an den Fortschritt und den Siegeszug der Rationalität abhandengekommen sei; Ernst Bloch und Ernst Jünger, deren Denken nach dem Ersten Weltkrieg um das Problem einer zerfallenden Gesellschaft kreiste, der es ihrer Meinung nach an kultureller Integration gebrach, und um die Frage, wie man ihr wieder Form geben könne; Georg Lukács und Carl Schmitt, die diese Suchbewegung radikalisierten, was sie in die beiden Spielarten des Totalitarismus führte; während Wilhelm Reich und Arnold Gehlen Psyche beziehungsweise Technik als Grundlagen der menschlichen Existenz unter den Bedingungen der Moderne ausmachten. Sie alle, so Eßbach, durchforsteten die Ideengeschichte Europas auf der Suche nach Hilfestellung und Ansatzpunkten, um dem vermeintlichen Verfall der Ordnung etwas entgegenzusetzen.
Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen widmete sich in seinen Verhaltenslehren der Kälte einer »pessimistischen Anthropologie«, derzufolge »der Mensch ›von Natur aus‹ zur Destruktion neigt und die Zivilisation einen barbarischen Kern hat«.2 Seine Protagonisten – überwiegend Schriftsteller wie Ernst Jünger und Bertolt Brecht, aber auch der Sozialphilosoph Helmuth Plessner – waren von der Moderne im frühen 20. Jahrhundert verunsichert, versuchten, sich gegen die Umwelt abzuschirmen und zu verpanzern, »mit einem klirrenden Schematismus« alle Uneindeutigkeiten in Klassifikationen zu pressen; sie lebten in ständigem Alarmismus und waren fasziniert von entscheidungsfreudigen Gestalten mit einfachen Konturen ohne komplizierte seelische Tiefe. Entscheidung wozu, das blieb offen, es zählte die Geste der Tat. »Kalte persona« und »Kreatur«, Erstere als gepanzerter Tat-Mensch, Letztere ein Spielball der Zeitläufte, das war der Gegensatz. Der erschreckenden Vieldeutigkeit der Moderne war nur durch Kälte beizukommen.
Nur wenige Jahre zuvor hatte der Historiker Heinz Dieter Kittsteiner eine Geschichte der Moderne in drei Stufen projektiert.3 Für die dritte Stufe ab etwa 1880 prägte er den Begriff der »heroischen Moderne«. Kittsteiners Kollege Anselm Doering-Manteuffel bezeichnete den ideellen Kern dieser heroischen Moderne als antihistoristisches Denken.4 Dieses Denken reagierte auf die Erfahrung, dass die Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts zu desintegrieren drohten. Die ersten protototalen und maschinisierten Kriege wurden erprobt, Wirtschaftskrisen waren durch die klassische liberale Doktrin des Laissez-faire nicht mehr zu erklären, durch Urbanisierung, Industrialisierung, Feminismus und Sozialismus schien die Sozialordnung zu zerfallen. Die gesellschaftliche Entwicklung folgte offensichtlich nicht mehr der Vernunft der Geschichte. Vielmehr musste der Mensch selbst handeln, um diese unbegreiflichen, überindividuellen Entwicklungen zu bändigen.
Kittsteiner konnte diese Geschichte vor seinem Tod 2008 nicht mehr ausführen. In seinem Nachlass an der Viadrina in Frankfurt an der Oder finden sich jedoch einige wenige Entwürfe, die erkennen lassen, welche Richtung seine Darstellung genommen hätte. Er wäre, wie Eßbach und Lethen, der ideengeschichtlichen Spur gefolgt und hätte Großdenker der Moderne wie Spengler, Jünger, Schmitt, Heidegger, Lukács, Freud oder Marx in den Blick genommen. Einige von ihnen sollten nach 1918 auf die dezisionistische »Tat« setzen, um die Verwerfungen möglichst energisch abzuräumen. Sie radikalisierten das Politische und bereiteten dem Nationalsozialismus den Boden. Kittsteiner hätte wohl eine sehr deutsche, präfaschistische Geschichte verfasst, die Radikalisierung von Nietzsches Denken durch eine »Parade der Übermenschen«.5 Nur mit Simmel hätte er einen »der wenigen Versuche […], sich in der ›Entfremdung‹ zurechtzufinden« zur Sprache gebracht.6
Es wäre letztlich keine Geschichte der Moderne geworden, sondern eine der Modernewahrnehmung deutscher Intellektueller, die auf die deutsche Situation reflektierten und erst nach 1945 die »›heroische‹ Betrachtungsweise der Geschichte« verloren: »Was sich im ›Schicksalsrausch‹ 1933 amalgamiert hatte: die heroische Attitüde aus dem Geist Nietzsches und die geschichtsphilosophische Legitimation, daß ihre Verwirklichung das Gebot der Stunde sei, fällt nun wieder auseinander.« Sie hätten sich inmitten »der unheroisch gewordenen Geschichte« eingegraben, »die es gelernt hat, von Endlösungen aller Art Abstand zu nehmen, die darauf verzichtet, den dynamischen historischen Prozeß ›stillstellen‹ zu wollen, die aber […] Ausschau hält, wie man ihn vielleicht in jeweils erträgliche Richtungen steuern kann«.7 Den vormaligen Heroismus hatte Kittsteiner spöttisch auf die Formel »Rasse und Motoren« gebracht, das sollte vermutlich die Verbindung von Übermensch-Denken und Technikfaszination meinen. Wolfgang Eßbach hat die wunderbare Formulierung gefunden, der Dezisionismus habe es sich einfach gemacht: »Gedacht, entschieden, gemacht.« Es waren die Vertreter der Tabula rasa, des Wegholzens und Abräumens der alten Gesellschaft, um für die neue Zeit einen »Neuen Menschen« zu schaffen. Diese Heroen wollten sich von der Geschichte nicht in die Ecke treiben lassen, sondern sich mit einem Schwerthieb aus ihr befreien. Es war ein Heroismus der Abrissbirne, der, wenn wir Ernst Jünger Glauben schenken, in den Feuerwalzen des Stellungskrieges geboren worden war. Aber hat dieser Heroismus die Geschichte der Moderne wirklich derart entscheidend geprägt? Musste die Angst vor der Desintegration notwendig in die große Disruption des »Dritten Reichs« münden? Oder deuteten Eßbach, Lethen und Kittsteiner die Moderne mithilfe eines viel zu engen Personaltableaus, missdeuteten sie sie?
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