Heft 912, Mai 2025

Demokratischer Minimalismus

Zur Kapitulation der Demokratietheorie vor der gegenwärtigen Lage von Uwe Volkmann

Zur Kapitulation der Demokratietheorie vor der gegenwärtigen Lage

I.

Im Herbst des Jahres 1932, die Weimarer Republik taumelte längst ihrem Ende entgegen, erschien in den Blättern der Staatspartei ein neunseitiger Artikel Hans Kelsens, der mit »Verteidigung der Demokratie« überschrieben war. Die Blätter waren ein Supplement zum Politischen Wegweiser, dem offiziellen Organ der Deutschen Staatspartei, die ihrerseits 1930 aus der Deutschen Demokratischen Partei hervorgegangen war; zwei Jahre später, als der Artikel erschien, war sie in der Bedeutungslosigkeit versunken. Wie viele Leser der Text seinerzeit noch gefunden hatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, gerichtet war er ausdrücklich an »die wenigen, die ihre Köpfe freigehalten haben von der Vernebelung der politischen Ideologien«. Düstere Prophetie und bewegendes Bekenntnis zugleich, war er geschrieben mit Herzblut und einem Pathos, das man dem kühlen Analytiker Kelsen nicht zutrauen mochte; hier warf sich jemand mit seiner ganzen wissenschaftlichen Redlichkeit noch einmal für die Demokratie in die Bresche, als der Kampf für sie schon verloren war.

Aber welche wären die Argumente, die er zu ihrer Verteidigung aufrief? Sie ergaben sich zum großen Teil aus der entschiedenen Ablehnung der beiden damals zur Diskussion stehenden Alternativen, der Diktatur des Proletariats auf der linken und der Diktatur des »gottbegnadeten Führers« auf der rechten Seite des politischen Spektrums: Die eine führe mit ihrer Ideologie des permanenten Klassenkampfs geradewegs zur »blutig-revolutionären Katastrophe«, die andere vertraue auf »das soziale Wunder«, dass jener Führer das absolut Gute erkennen und durchsetzen könne. Dem Sinn, genauer: dem »Grundsatz der Demokratie« werden demgegenüber nur ein paar wenige Sätze gewidmet, die am Ende in ein Eingeständnis ihrer Schwäche münden: »Sie ist«, schreibt Kelsen, »diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt« und deshalb in ihrer letzten Konsequenz auch eine auf ihre eigene Vernichtung gerichtete Bewegung dulden muss.

Was sie sonst ausmacht, hatte Kelsen selbst schon einige Jahre zuvor in seinem demokratietheoretischen Hauptwerk Vom Wesen und Wert der Demokratie dargelegt, 1929 in zweiter und deutlich erweiterter Auflage herausgebracht. Die auch hier wieder gefühlige Sprache, oft hart an der Grenze zur Predigt, täuscht darüber hinweg, dass es dem Inhalt nach ein Programm der neuen Sachlichkeit war, ganz darauf bedacht, die »Realität« der Demokratie vor ihrer »Ideologie« in Schutz zu nehmen, der Ideologie einer überzogenen Freiheit. All ihre Institutionen und Mechanismen haben dementsprechend in Kelsens Lesart nur den Sinn, dieser Freiheit die Spitze zu nehmen, sie auf eine technische Weise herunterzubrechen. Das Mehrheitsprinzip sorgt in diesem Sinne dafür, dass bei seiner Anwendung rein mengenmäßig immerhin mehr Menschen frei bleiben können, das heißt nicht gegen ihren Willen regiert werden, als im umgekehrten Fall. Der Parlamentarismus: ein »notwendiger Kompromiss zwischen der primitivierenden Idee der politischen Freiheit und dem Prinzip differenzierter Arbeitsteilung« und in diesem Sinne ein »spezifisches, sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der sozialen Ordnung«. Demokratische Repräsentation: eine »offenkundige Fiktion«, die »die große Masse des Volkes« bloß glauben mache, dass »es sich im gewählten Parlament selbst bestimme«. Demokratie insgesamt: nur »eine Form, nur eine Methode […], die soziale Ordnung zu erzeugen«, und gerade darin »Ausdruck eines politischen Relativismus« ohne eigenen Wertgehalt. Am Ende sprach dann für sie wenig mehr als der »soziale Friede«, den sie immerhin ermöglichen sollte, die Hoffnung auf friedlichen Austrag der Gegensätze und die Möglichkeit des Zusammenfindens im Kompromiss. Alles andere aber bekräftigte eher den Verdacht, den die Gegner der Demokratie schon immer gegen sie hatten.

II.

Als Kelsen seine Überlegungen zu Papier brachte, hatte er für diese normative Bescheidenheit seine Gründe. Das demokratische Experiment der Weimarer Republik, das erste auf deutschem Boden, hatte viele Hoffnungen enttäuscht; immer mehr Bürger wandten sich offen von der Demokratie ab und suchten ihr Heil im politischen Radikalismus; gerade für den parlamentarischen Betrieb hatten sie nur noch Hohn und Verachtung übrig. Was hätten große Worte und die Beschwörung irgendwelcher Ideale hier bewirken sollen? Auch heute sehen viele die Demokratie wieder am Abgrund stehen: Die Zahl der Staaten, die sich mit einigem Recht noch so nennen können, nimmt nach allen verfügbaren Indices weltweit ab; es gibt verschiedene Internetseiten, die über ihr Verschwinden regelrecht Buch führen; allein der gegenwärtige Blick auf Amerika mag das Fürchten lehren. Die Krise hat längst ihr eigenes Literaturgenre hervorgebracht, mit neuen Hervorbringungen nahezu im Wochenrhythmus und nicht nur gelegentlichen Anleihen bei der Sprache der Pathologie; der globale Bestseller heißt Wie Demokratien sterben.

In dieser Lage sucht auch die Theorie der Demokratie ihr Heil erneut in der Anspruchslosigkeit, im Abschied von den hoffnungsvollen Erwartungen, die sich auf sie als politische Form einmal richten mochten. Stellvertretend dafür steht eine in letzter Zeit vielzitierte Definition von Adam Przeworski, die von diesem selbst ausdrücklich als »minimalistisch« ausgewiesen wird: Demokratie, schreibt er, ist schlicht ein System, in dem Regierungen Wahlen verlieren können; füge man noch mehr Merkmale hinzu, werde man nur umso mehr Krisen entdecken. Von der alten Idee, dass sich eine politische Gemeinschaft in diesem System selbst bestimmt, ist demgegenüber nur am Rande die Rede, ähnlich wie bei Kelsen funktioniert Demokratie vielmehr schon dann, wenn »sämtliche gesellschaftlichen Konflikte im institutionellen Rahmen«, insgesamt also zivilisiert und friedlich ausgetragen werden. Die Definition selbst ist wesentlich an Joseph Schumpeter angelehnt, der Demokratie in Analogie zum ökonomischen Tausch erklärt hatte: Politische Unternehmer, die Parteien, unterbreiten ihren Konsumenten, den Wählern, ein Angebot und werden dafür von diesen mit Stimmen belohnt, die sie in den Besitz der staatlichen Ämter bringen. In diesem Sinne handeln sie mit Stimmen wie andere mit Öl und verführen die so ahnungs- wie verantwortungslosen Bürger mit ihrer Werbung.

Das ist der demokratische Minimalismus in seiner radikalsten Form, gespeist aus tiefem Misstrauen gegen die menschliche Fähigkeit zur Demokratie überhaupt. Aber auch soweit sie diese Grundannahmen nicht teilt, arbeitet die aktuelle Krisenliteratur fast durchgängig mit einem sparsamen Modell, das noch die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Verfassung hinzunimmt und dann wahlweise als konstitutionelle oder liberale Demokratie bezeichnet wird, als entscheidend für das Vorhandensein von Demokratie aber immer auf die reale Möglichkeit des Machtwechsels abstellt. Man muss eben mit dem zufrieden sein, was man – noch – hat.

III.

Wie jedes Individuum ist auch alle Philosophie ein Kind ihrer Zeit, hatte Hegel geschrieben. Für die Demokratietheorie gilt das in noch einmal besonderer Weise. Während die großen Skeptiker, von Platon über Hegel selbst bis hin zu Max Weber oder Schumpeter, ihre Sicht meist entwickelt hatten, als man entweder ein abschreckendes Bild von Demokratie vor Augen hatte oder ihre Zukunft ganz ungewiss erschien, werden Bücher, in denen sie geradezu idealisiert wird, fast ausschließlich zu besseren Zeiten, mindestens jedenfalls der berechtigten Hoffnung darauf, geschrieben. In den bleiernen 1950er und 1960er Jahren sucht man sie deshalb vergebens. Erst mit der großen Aufbruchstimmung danach, hierzulande unter dem Leitspruch »Mehr Demokratie wagen«, wird auch die politische Theorie von Optimismus erfasst, macht die Linke allmählich ihren Frieden mit dem liberalen Staat und will gerade durch ihn die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft befördern. Von hier an geht es zunächst immer weiter bergauf, die Erwartung eines goldenen Zeitalters des Liberalismus, die sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zu erfüllen schien, treibt auch die Theorie zu neuen Höhenflügen: John Rawls entwirft in seiner Gerechtigkeitstheorie die Gesellschaft als ein System fairer Kooperation; aus der Kommunitarismusdebatte, die sich daran entzündet, entspringt ein neuer Republikanismus im Geist Hannah Arendts; Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit werden als maßgebliche Akteure des politischen Prozesses entdeckt; Jürgen Habermas und andere rufen die deliberative Demokratie aus, die der sympathischen Idee eines Gesprächs unter Bürgern verpflichtet ist.

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