Heft 912, Mai 2025

Demokratischer Minimalismus

Zur Kapitulation der Demokratietheorie vor der gegenwärtigen Lage von Uwe Volkmann

Zur Kapitulation der Demokratietheorie vor der gegenwärtigen Lage

I.

Im Herbst des Jahres 1932, die Weimarer Republik taumelte längst ihrem Ende entgegen, erschien in den Blättern der Staatspartei ein neunseitiger Artikel Hans Kelsens, der mit »Verteidigung der Demokratie« überschrieben war.1 Die Blätter waren ein Supplement zum Politischen Wegweiser, dem offiziellen Organ der Deutschen Staatspartei, die ihrerseits 1930 aus der Deutschen Demokratischen Partei hervorgegangen war; zwei Jahre später, als der Artikel erschien, war sie in der Bedeutungslosigkeit versunken. Wie viele Leser der Text seinerzeit noch gefunden hatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, gerichtet war er ausdrücklich an »die wenigen, die ihre Köpfe freigehalten haben von der Vernebelung der politischen Ideologien«. Düstere Prophetie und bewegendes Bekenntnis zugleich, war er geschrieben mit Herzblut und einem Pathos, das man dem kühlen Analytiker Kelsen nicht zutrauen mochte; hier warf sich jemand mit seiner ganzen wissenschaftlichen Redlichkeit noch einmal für die Demokratie in die Bresche, als der Kampf für sie schon verloren war.

Aber welche wären die Argumente, die er zu ihrer Verteidigung aufrief? Sie ergaben sich zum großen Teil aus der entschiedenen Ablehnung der beiden damals zur Diskussion stehenden Alternativen, der Diktatur des Proletariats auf der linken und der Diktatur des »gottbegnadeten Führers« auf der rechten Seite des politischen Spektrums: Die eine führe mit ihrer Ideologie des permanenten Klassenkampfs geradewegs zur »blutig-revolutionären Katastrophe«, die andere vertraue auf »das soziale Wunder«, dass jener Führer das absolut Gute erkennen und durchsetzen könne. Dem Sinn, genauer: dem »Grundsatz der Demokratie« werden demgegenüber nur ein paar wenige Sätze gewidmet, die am Ende in ein Eingeständnis ihrer Schwäche münden: »Sie ist«, schreibt Kelsen, »diejenige Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt« und deshalb in ihrer letzten Konsequenz auch eine auf ihre eigene Vernichtung gerichtete Bewegung dulden muss.

Was sie sonst ausmacht, hatte Kelsen selbst schon einige Jahre zuvor in seinem demokratietheoretischen Hauptwerk Vom Wesen und Wert der Demokratie dargelegt, 1929 in zweiter und deutlich erweiterter Auflage herausgebracht. Die auch hier wieder gefühlige Sprache, oft hart an der Grenze zur Predigt, täuscht darüber hinweg, dass es dem Inhalt nach ein Programm der neuen Sachlichkeit war, ganz darauf bedacht, die »Realität« der Demokratie vor ihrer »Ideologie« in Schutz zu nehmen, der Ideologie einer überzogenen Freiheit. All ihre Institutionen und Mechanismen haben dementsprechend in Kelsens Lesart nur den Sinn, dieser Freiheit die Spitze zu nehmen, sie auf eine technische Weise herunterzubrechen. Das Mehrheitsprinzip sorgt in diesem Sinne dafür, dass bei seiner Anwendung rein mengenmäßig immerhin mehr Menschen frei bleiben können, das heißt nicht gegen ihren Willen regiert werden, als im umgekehrten Fall. Der Parlamentarismus: ein »notwendiger Kompromiss zwischen der primitivierenden Idee der politischen Freiheit und dem Prinzip differenzierter Arbeitsteilung« und in diesem Sinne ein »spezifisches, sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der sozialen Ordnung«. Demokratische Repräsentation: eine »offenkundige Fiktion«, die »die große Masse des Volkes« bloß glauben mache, dass »es sich im gewählten Parlament selbst bestimme«. Demokratie insgesamt: nur »eine Form, nur eine Methode […], die soziale Ordnung zu erzeugen«, und gerade darin »Ausdruck eines politischen Relativismus« ohne eigenen Wertgehalt. Am Ende sprach dann für sie wenig mehr als der »soziale Friede«, den sie immerhin ermöglichen sollte, die Hoffnung auf friedlichen Austrag der Gegensätze und die Möglichkeit des Zusammenfindens im Kompromiss. Alles andere aber bekräftigte eher den Verdacht, den die Gegner der Demokratie schon immer gegen sie hatten.

II.

Als Kelsen seine Überlegungen zu Papier brachte, hatte er für diese normative Bescheidenheit seine Gründe. Das demokratische Experiment der Weimarer Republik, das erste auf deutschem Boden, hatte viele Hoffnungen enttäuscht; immer mehr Bürger wandten sich offen von der Demokratie ab und suchten ihr Heil im politischen Radikalismus; gerade für den parlamentarischen Betrieb hatten sie nur noch Hohn und Verachtung übrig. Was hätten große Worte und die Beschwörung irgendwelcher Ideale hier bewirken sollen? Auch heute sehen viele die Demokratie wieder am Abgrund stehen: Die Zahl der Staaten, die sich mit einigem Recht noch so nennen können, nimmt nach allen verfügbaren Indices weltweit ab; es gibt verschiedene Internetseiten, die über ihr Verschwinden regelrecht Buch führen; allein der gegenwärtige Blick auf Amerika mag das Fürchten lehren.2 Die Krise hat längst ihr eigenes Literaturgenre hervorgebracht, mit neuen Hervorbringungen nahezu im Wochenrhythmus und nicht nur gelegentlichen Anleihen bei der Sprache der Pathologie; der globale Bestseller heißt Wie Demokratien sterben.3

In dieser Lage sucht auch die Theorie der Demokratie ihr Heil erneut in der Anspruchslosigkeit, im Abschied von den hoffnungsvollen Erwartungen, die sich auf sie als politische Form einmal richten mochten. Stellvertretend dafür steht eine in letzter Zeit vielzitierte Definition von Adam Przeworski, die von diesem selbst ausdrücklich als »minimalistisch« ausgewiesen wird: Demokratie, schreibt er, ist schlicht ein System, in dem Regierungen Wahlen verlieren können; füge man noch mehr Merkmale hinzu, werde man nur umso mehr Krisen entdecken.4 Von der alten Idee, dass sich eine politische Gemeinschaft in diesem System selbst bestimmt, ist demgegenüber nur am Rande die Rede, ähnlich wie bei Kelsen funktioniert Demokratie vielmehr schon dann, wenn »sämtliche gesellschaftlichen Konflikte im institutionellen Rahmen«, insgesamt also zivilisiert und friedlich ausgetragen werden. Die Definition selbst ist wesentlich an Joseph Schumpeter angelehnt, der Demokratie in Analogie zum ökonomischen Tausch erklärt hatte: Politische Unternehmer, die Parteien, unterbreiten ihren Konsumenten, den Wählern, ein Angebot und werden dafür von diesen mit Stimmen belohnt, die sie in den Besitz der staatlichen Ämter bringen. In diesem Sinne handeln sie mit Stimmen wie andere mit Öl und verführen die so ahnungs- wie verantwortungslosen Bürger mit ihrer Werbung.5

Das ist der demokratische Minimalismus in seiner radikalsten Form, gespeist aus tiefem Misstrauen gegen die menschliche Fähigkeit zur Demokratie überhaupt. Aber auch soweit sie diese Grundannahmen nicht teilt, arbeitet die aktuelle Krisenliteratur fast durchgängig mit einem sparsamen Modell, das noch die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Verfassung hinzunimmt und dann wahlweise als konstitutionelle oder liberale Demokratie bezeichnet wird, als entscheidend für das Vorhandensein von Demokratie aber immer auf die reale Möglichkeit des Machtwechsels abstellt.6 Man muss eben mit dem zufrieden sein, was man – noch – hat.

III.

Wie jedes Individuum ist auch alle Philosophie ein Kind ihrer Zeit, hatte Hegel geschrieben. Für die Demokratietheorie gilt das in noch einmal besonderer Weise. Während die großen Skeptiker, von Platon über Hegel selbst bis hin zu Max Weber oder Schumpeter, ihre Sicht meist entwickelt hatten, als man entweder ein abschreckendes Bild von Demokratie vor Augen hatte oder ihre Zukunft ganz ungewiss erschien, werden Bücher, in denen sie geradezu idealisiert wird, fast ausschließlich zu besseren Zeiten, mindestens jedenfalls der berechtigten Hoffnung darauf, geschrieben. In den bleiernen 1950er und 1960er Jahren sucht man sie deshalb vergebens. Erst mit der großen Aufbruchstimmung danach, hierzulande unter dem Leitspruch »Mehr Demokratie wagen«, wird auch die politische Theorie von Optimismus erfasst, macht die Linke allmählich ihren Frieden mit dem liberalen Staat und will gerade durch ihn die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft befördern. Von hier an geht es zunächst immer weiter bergauf, die Erwartung eines goldenen Zeitalters des Liberalismus, die sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zu erfüllen schien, treibt auch die Theorie zu neuen Höhenflügen: John Rawls entwirft in seiner Gerechtigkeitstheorie die Gesellschaft als ein System fairer Kooperation; aus der Kommunitarismusdebatte, die sich daran entzündet, entspringt ein neuer Republikanismus im Geist Hannah Arendts; Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit werden als maßgebliche Akteure des politischen Prozesses entdeckt; Jürgen Habermas und andere rufen die deliberative Demokratie aus, die der sympathischen Idee eines Gesprächs unter Bürgern verpflichtet ist.

Nun, da das Pendel weltweit wieder in die andere Richtung zurückschwingt, hat gerade Habermas sich von den hochfliegenden Hoffnungen ein Stück weit verabschiedet. Sein Werk ist in diesem Zusammenhang überhaupt ein interessanter Fall, weil sich in ihm die Konjunkturen und Moden der Theorie, darin zugleich auch ihre Zeitabhängigkeit, wie in einem Brennglas spiegeln. Sie kommen sogar in einem einzigen Buch zusammen, in Strukturwandel der Öffentlichkeit, das seinen Ruhm wesentlich begründet hat. Als es 1962 erstmals erschien, lief es im Kern auf die Diagnose eines Verfalls hinaus: Mit der endgültigen Durchsetzung der kapitalistischen Ökonomie und dem Übergang zum Wohlfahrtsstaat, so die zentrale These, gehe es auch mit der bürgerlichen Öffentlichkeit zu Ende; einst Grundlage der öffentlichen Meinungsbildung und notwendiger Unterbau einer parlamentarischen Demokratie, sei sie nun ihrerseits das Produkt der asymmetrischen Machtstrukturen der Gesellschaft, manipuliert zudem durch die zunehmend elektronisch produzierten Massenmedien.

In der Neuauflage von 1990 blieb zwar der Text unverändert, vorangestellt war ihm aber ein längeres Vorwort, das ihn in der Sache widerrief. Verbindender Leitgedanke war nun gerade die deliberative Demokratie, wie sie dann zwei Jahre später in Faktizität und Geltung, dem nächsten großen Werk, weiter ausbuchstabiert werden sollte. Dafür musste die »politische Öffentlichkeit« erneut in Stellung gebracht werden; als »Inbegriff derjenigen Kommunikationsbedingungen, unter denen eine diskursive Meinungs- und Willensbildung eines Publikums von Staatsbürgern zustande kommen kann«, bildete sie geradezu das Herzstück des Programms.7 Im neuen Strukturwandel von 2022, insgesamt also dem dritten, wird nun auch dies wieder zurückgenommen: Mit dem Aufkommen der neuen Medien, nicht weniger als »eine mit der Einführung des Buchdrucks vergleichbare Zäsur in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der Medien« insgesamt, beginne nun gerade jene Öffentlichkeit wieder zu verfallen; an ihre Stelle träten zunehmend die »Kommunikationsinseln im epistemischen Rang konkurrierender Öffentlichkeiten«, die ihrerseits in den Abwärtsstrudel der »enthemmten, gegen dissonante Meinungen abgeschirmten Diskurse« zu geraten drohen.8 Resignation nun auch hier.

Den endgültigen Abschied hat, als personifizierte Eule der Minerva, nun Veith Selk eingeläutet. Seine Demokratiedämmerung (2023) ist eine der jüngsten Hervorbringungen der Ende-der-Demokratie-Literatur, zugleich aber auch ihre letzte und nicht mehr überbietbare Steigerung: Auf rund dreihundert Seiten wird hier die Demokratie so luzide wie gnadenlos als ein einziges großes Illusionstheater entlarvt; wer sich durch das Buch durchgearbeitet hat, wird kaum anders können, als alle Hoffnung fahren zu lassen.9 Die Theorie bekommt den Totenschein gleich mit ausgestellt, sie kann heute nichts mehr erklären, geschweige denn, dass sie uns noch etwas zu sagen hätte: Aus und vorbei wie alles. Hier ist der demokratische Minimalismus gleich zum demokratischen Nihilismus geworden, nach dem nun eigentlich nichts mehr kommen kann.

IV.

Der demokratische Minimalismus passt in eine Welt, die sich von der Zukunft nicht viel erwartet und bloß noch hofft, dass es nicht schlimmer kommt. Vorherrschende Grundstimmung ist ein tiefer Pessimismus, gespeist aus existentiellen Sorgen: Die Jugend treibt die Angst vor dem Klimawandel um, die Mittelklasse fürchtet den sozialen Abstieg, die Älteren bangen um die Sicherheit ihrer Renten; die unteren Schichten fürchten sich davor, weiter abgehängt zu werden, die oberen vor der Wut der Abgehängten, sie alle zusammen nun vor dem nächsten Krieg. Zur dominierenden Kategorie ist dieser Gesellschaft der »Verlust« geworden, den sie möglichst zu vermeiden trachtet. Umso mehr klammert man sich an das Gegenwärtige und gerade noch Bestehende: als »schlichtweg das, was übrig geblieben ist« von der Vergangenheit, aber ebenso gefährdet wie alles, was darin versunken ist.10

Darin drückt sich eine grundlegende Verschiebung aus, ein neues Verhältnis zu Zeit und Zeitlichkeit, dessen historische Dimension sich in den von Reinhard Koselleck vorgestellten Kategorien von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont begreiflich machen lässt. Erfahrung war bei Koselleck »vergegenwärtigte Vergangenheit«, im Sinne einer Geschichte, die im Vorhandenen und bei den Menschen wirksam und lebendig ist, Erwartung demgegenüber »gegenwärtige Zukunft«, als ideelle Projektion des »Noch-Nicht« und des »nicht Erfahrenen« in die Zeit hinein. In den vormodernen Lebenswelten, so Koselleck, sei nun der Erwartungshorizont wesentlich durch die Erfahrung bestimmt gewesen, die Bauern, die ihre Äcker bewirtschafteten, und die Handwerker in ihren Zünften lebten so, wie auch die Generationen vor ihnen gelebt hatten, und auch für die Kinder und Kindeskinder konnte man es sich nicht anders vorstellen. Zukunft war dann im Wesentlichen Fortschreibung dessen, was schon immer war. Mit Eintritt in die Neuzeit und als ihr eigentliches Bestimmungsmerkmal ändert sich dies, die Erwartungen koppeln sich von den Erfahrungen ab, und dies alles unter dem sich durchsetzenden Narrativ des allgemeinen Fortschritts. Was kommen wird, lässt sich nicht mehr unter Rückgriff auf das Vergangene bestimmen: Die Zukunft wird neu, anders und aufregend, und dies in allen Bereichen des menschlichen Daseins.

Gerade in Europa glauben das heute nur noch die wenigsten. Die Gründe werden oft darin gesehen, dass das Narrativ des Fortschritts insgesamt an Glaubwürdigkeit verloren habe und in vielen Bereichen einem neuen Narrativ der Bedrohung gewichen sei; der Klimawandel ist hier nur ein, freilich besonders dramatischer Anwendungsfall. Soweit es um die Demokratie oder allgemein den politischen Liberalismus geht, der immer eine Fortschrittserzählung war, vollzieht sich darin aber auch eine erneute Verschränkung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, die von ihrer Grundrichtung her wieder an vormoderne Zeiten erinnert.11 Es ist deshalb kein Zufall, dass heute an jeder Ecke wieder der Vergleich mit Weimar hervorgeholt wird, demgegenüber wieder andere geltend machen, er sei ganz unzulässig; weder sei es heute so schlimm wie damals noch werde es so schlimm kommen.

Aber auch dort, wo der Vergleich zurückgewiesen wird, wirkt sich schon die Diskussion darüber auf den Erfahrungsraum von Demokratie aus, der nun ganz grundsätzlich neu besetzt wird: In seinen Geschichten orientiert er sich nicht mehr an der Zeitenwende von 1989/90, sondern ordnet sich um verschüttet geglaubte Traumata (Weimar) und Erfahrungen aus dem synchronen Vergleich an (Ungarn, Polen, Indien, Türkei, USA). Die Erwartungen werden dann wieder durch das geprägt, was anderswo schon beobachtet und gerade in der Krisenliteratur in seinen einzelnen Schritten bereits wissenschaftlich vermessen ist; genau dies wird dann in die Zukunft hinein extrapoliert.12 Diese soll nicht mehr anders sein als die Gegenwart, schon gar nicht stellt man sie sich als besser vor, sondern man will möglichst viel von der Gegenwart erhalten und in die Zukunft hinein verlängern, auf diese Weise zugleich auch retten. Der Rückblick in die Vergangenheit und der Ausblick in die Zukunft dienen so gesehen nur dazu, die Gegenwart aufzuwerten, als die Zeitebene, auf der sich das Bewahrenswerte versammelt.13

V.

An die Stelle eines neuen Nachdenkens darüber, wie demokratische Politik in diesen unruhigen Zeiten aussehen könnte, tritt deshalb im demokratischen Minimalismus, so er sich überhaupt um das Fortbestehen der Demokratie sorgt und sie nicht schon abgeschrieben hat, das modisch gewordene Konzept der Resilienz, das nun gerade auf die Erhaltung jenes Gegenwärtigen zielt. Es stammt aus der Psychologie und bezeichnet dort die Eigenschaft einer Person, auf Stress und veränderte Umweltbedingungen durch Anpassung zu reagieren und dabei doch innerlich dieselbe zu bleiben; das lateinische Verb, von dem es sich ableitet, bedeutet »abprallen«. Mit diesem Inhalt ist Resilienz geradezu das Gebot der Stunde, alles und jedes soll heute gegen mögliche Bedrohungen resilient sein oder dazu gemacht werden: das Gesundheitssystem gegen künftige Pandemien, die digitale Infrastruktur gegen Softwareabstürze und Cyberattacken, die Wirtschaft gegen zu heftige Ausschläge der Konjunktur.

Auf die Demokratie übertragen bedeutet es, diese so wetterfest zu machen, dass vor allem der Ansturm des autoritären Populismus an ihr abprallt. Die legalistische Kultur der Bundesrepublik setzt dafür vor allem auf die Mittel des Rechts. Man zieht dann etwa neue Verteidigungsmauern um das Verfassungsgericht hoch, um zu verhindern, dass dieses irgendwann von den anderen lahmgelegt oder gleich gekapert wird; es könnte ja für die Sicherung der Demokratie künftig noch gebraucht werden.14 Oder man ruft, auch das eine sehr deutsche Weise des Umgangs mit dem Problem, gleich nach Instrumenten wie der Verwirkung von Grundrechten und einem Parteiverbot, als könne man die Abwendung großer Teile der Bevölkerung von demokratischen Überzeugungen per Dekret untersagen.

Charakteristisch für beide Wege ist, dass die Sicherung der Demokratie nicht ihr selbst, sondern einer Instanz anvertraut wird, die ihrerseits außerhalb des demokratischen Prozesses steht. Von hier wäre es nur noch ein kleiner Schritt, für das Gemeinwesen wichtige Entscheidungen überhaupt auf Institutionen zu übertragen, die dem Wechsel von Mehrheit und Minderheit nicht unterworfen sind: Zentralbanken, unabhängige Regulierungsagenturen oder eben auch Verfassungsgerichte. Der mittlerweile vielfach beschriebene Aufstieg dieser Institutionen erschiene so gesehen nicht als das Problem demokratischer Legitimation, das er der Sache nach ist, sondern im Gegenteil als probates Mittel gegen die von allen Seiten drohenden Gefahren: Rettung der Demokratie dadurch, dass man ihr möglichst viele Gegenstände entzieht.15 Auch diese Entpolitisierung macht das System als solches zweifellos resilienter: Mag es im politischen Prozess auch drunter und drüber gehen, die wichtigen Entscheidungen werden ohnehin woanders getroffen. Ob sich mit alledem die Zukunft gewinnen lässt, fragt man besser nicht.

Es wäre dies aber auch keine sinnvolle Frage, weil Zukunft im Konzept der Resilienz nicht vorgesehen ist; wenn sie vorkommt, dann nur als Risiko, dessen Realisierung es zu verhindern gilt. In diesem Sinne handelt es sich um ein durch und durch defensives Konzept, gerade im Fall der Demokratie atmet es den Geist der Wagenburg, die gegen das Andere, das von allen Seiten andrängt, verteidigt werden muss. Damit gerät es in eine strukturelle Unterlegenheit gegenüber solchen Angreifern, die die Zukunft auf ihrer Seite sehen, überhaupt mit einer anderen, positiven Vision von Zukunft arbeiten. In der Vergangenheit war für die entsprechenden Entwürfe die politische Linke zuständig, die sie aber schon lange nicht mehr zu liefern imstande ist; bis heute gut darin, die gesellschaftlichen und ökonomischen Machtstrukturen kritisch zu analysieren, fehlt es ihr an den großen Ideen, wie sich daran etwas ändern ließe. Heute wird die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft, auch wenn man es ungern einräumt, von jemandem wie Trump bedient. Gegen »Make America Great Again« mag man deshalb vieles sagen, aber es erzählt in einem Satz eine Geschichte, die inspirierende Geschichte von vergangenem Niedergang und Aufbruch zu neuen Ufern; wenn dafür das Alte erst einmal zerhauen werden muss, nun gut. Mit Sätzen wie »Sie kennen mich« wird man dagegen künftig nicht antreten können.

VI.

Die Orte, an denen noch eine anspruchsvollere Vorstellung von Demokratie gepflegt wird, haben demgegenüber oft schon etwas Museales, der Wirklichkeit Entrücktes. Zu ihnen gehört etwa die Verfassungsinterpretation, in der sich, ihrem Gegenstand entsprechend, Schichten eines älteren Denkens ablagern und grundlegende Verschiebungen sich deshalb seltener – und wenn, dann langsamer – vollziehen als anderswo. Gegen alle mahnenden Rufe, man dürfe dem Grundgesetz keine bestimmte Demokratietheorie unterlegen, ist es hier insbesondere das Bundesverfassungsgericht, das bis heute darauf beharrt, dass Demokratie entgegen aller minimalistischen Zugriffe in der bloßen Möglichkeit des Mehrheitswechsels nicht aufgeht. Stattdessen wird sie, erstmals im KPD-Urteil, begriffen als die politische Lebensform, in der »die Menschen selbst ihre Entwicklung durch Gemeinschaftsentscheidungen« gestalten, »jedes Glied der Gemeinschaft freier Mitgestalter bei den Gemeinschaftsentscheidungen« ist und am Ende die »gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger« stehen soll.16

Demokratie findet danach nicht nur in den und durch die Wahlen, sondern ganz wesentlich auch dazwischen statt; sie »lebt«, wie es in der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon heißt, »zuerst von und in einer funktionsfähigen öffentlichen Meinung«, die »die vorhandenen Alternativen auch für konkrete Sachentscheidungen fortlaufend in Erinnerung ruft«.17 Grundrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden deshalb wesentlich als politische Mitwirkungsrechte gelesen, die Parteien fungieren laut Parteiengesetz als »ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen«; demokratische Repräsentation heißt »beständiger Dialog zwischen dem Parlament und gesellschaftlichen Kräften«, und die Wahl selbst erscheint zuletzt nur als Ausschnitt aus einem umfassenderen »Kommunikationszusammenhang«, der seinerseits das Wesen der Demokratie ausmacht.18

Das ist nicht weit entfernt von Ideen einer deliberativen Demokratie, wie sie sich bei Habermas und seinen Nachfolgern der Frankfurter Schule finden; in einigen Entscheidungen stößt man sogar auf Anleihen aus dem zugehörigen Vokabular. Es ist aber nicht ohne Ironie, weil das Gericht selbst in seiner sonstigen Judikatur demokratisches Regieren nicht gerade leichter gemacht hat, um es höflich auszudrücken: Es hat das Netz der materiell-inhaltlichen Vorgaben im Laufe der Zeit immer dichter gewebt, in viel zu vielen Bereichen wird die Verfassung heute extrem kleinteilig ausgelegt, entsprechend geschrumpft sind die Räume zu autonomer politischer Gestaltung. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner rigiden Auslegung der Schuldenbremse das Land nicht nur in eine Phase politischer Lähmung und Instabilität geführt, sondern es auch geschafft, eine Regierung zu stürzen: Zerbrochen ist die vorherige Koalition ja im Wesentlichen an dieser Entscheidung, an der auch alle, die ihr nachfolgen, noch zu tragen haben dürften. Philip Manow hat dies letztens zu der These zugespitzt, Demokratie finde heute in vielen Ländern überhaupt nur noch »unter Beobachtung« statt, und zwar gerade durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die immer übergriffiger agiere und so »die Möglichkeiten des Elektorats, auf gesellschaftliche Zukünfte Einfluss zu nehmen, auf überwachte Bahnen« lenke.19

Nun könnte eine solche Überwachung in Zeiten, in denen ein nicht unerheblicher Teil dieses Elektorats seine Zukunft in der Abschaffung der Demokratie sieht, natürlich auch ihr Gutes haben; Sicherung der Demokratie, etwa durch Offenhaltung der gleichen Chance der politischen Machtgewinnung, wäre ja doch eine sinnvolle und als solche auch weithin unbestrittene Aufgabe von Verfassungsgerichten. Angesichts des grassierenden Populismus dürfte das Problem auch eher darin liegen, dass diese mit ihren Entscheidungen oft selbst ein populistisches Ressentiment bedienen, die Vorstellung nämlich, dass die da oben abgehoben sind von den Nöten und Erfahrungen des Alltags, es auch einfach nicht können und deshalb völlig zu Recht von einer Institution, die wie der Geist über den Wassern schwebt, abgewatscht werden. Das Urteil zur Schuldenbremse und die bekannten Reaktionen darauf – wahlweise »Ohrfeige«, »Quittung« oder »Klatsche aus Karlsruhe« – belegen dies ebenso wie der vorläufige Stopp des umstrittenen Heizungsgesetzes, der all denen Recht zu geben schien, die auf den Marktplätzen ausriefen, das Volk müsse sich endlich die Demokratie zurückholen. Auch deshalb könnte es ein Fehler sein, die Rettung der Demokratie ausgerechnet von einem Gericht zu erwarten.

VII.

So oder so haben innerhalb der Rechtswissenschaft die Absetzbewegungen längst eingesetzt und gewinnt auch hier ein demokratischer Minimalismus an Zulauf, ohne sich so zu nennen: In einer einflussreichen neueren Behandlung wird das Demokratieprinzip wieder rein voluntaristisch verstanden, die Vorstellung, dass es dort überhaupt um einen Streit um Gründe gehen könnte, als lebensfremd verworfen. Stattdessen eröffnen sich im Gewand einer politischen Mechanik überall kleinteilige Sphären und abgestufte Grade von Freiheit, die sich keiner übergeordneten Idee mehr fügen.20 Und gerade unter jüngeren Vertretern des Faches gewinnt im Zuge einer allgemeinen Kelsen-Renaissance auch seine Demokratietheorie an Zulauf. Auch das lässt sich als Reaktion auf das Grundproblem aller anspruchsvolleren Konzeptionen lesen, die aus sich heraus immer in einer Spannung zur Wirklichkeit stehen. Es ist dann nicht schwer, ihnen diese Wirklichkeit als Spiegel vorzuhalten und sie daran zerschellen zu lassen; dafür reicht derzeit ein Blick in die Welt um uns herum.

Das Problem des demokratischen Minimalismus liegt demgegenüber umgekehrt darin, dass er seinen Begriff von Demokratie an die schlechtere Wirklichkeit vieler heutiger demokratischer Ordnungen anpasst, diese damit überhaupt zum Maßstab für den Begriff nimmt. Er muss sich damit die Gegenfrage gefallen lassen, was durch ihn selbst mit Blick auf die Herausforderungen und Gegenwartsprobleme der Demokratie zu gewinnen wäre. Was man mit ihm bekommt, ist immerhin leicht zu sehen: ein klares Unterscheidungskriterium zwischen Demokratie und Nichtdemokratie. So wie in den entsprechenden Verfallsanalysen die »slow road« präzise beschrieben wird, auf der einmal in Wahlen an die Macht gekommene Volksverführer ihre eigene Herrschaft verfestigen, die öffentliche Meinung manipulieren und institutionelle Gegengewichte ausschalten, ist nun der Punkt markiert, an dem der Umschlag in den Autoritarismus vollzogen ist und sich von Demokratie endgültig nicht mehr sprechen lässt.

Was man nicht bekommt, ist ein tieferes Verständnis dieser Herausforderungen und Gegenwartsprobleme, genauer: warum es sich dabei überhaupt um Probleme handelt und nicht bloß um etwas, das einfach so passiert. Wo es am Ende nur auf die fortbestehende Möglichkeit eines Mehrheitswechsels ankommt, ist alles unterhalb dieser Schwelle ja erst einmal ohne Belang. Warum, zum Beispiel, soll es für die Demokratie ein Problem sein, wenn eine offensichtlich immer größere Zahl von Leuten die Fakten leugnet und die abstrusesten Ansichten vertritt? Oder warum sollte das »Versiegen der rationalisierenden Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung« (Habermas 2022), überhaupt der Ausfall einer politischen Öffentlichkeit, den viele beklagen, die Theorie interessieren, wenn es auf eine solche für die Demokratie ohnehin nicht ankommt?

Versteht man hingegen mit deliberativen Konzeptionen Demokratie als eine Form des öffentlichen Vernunftgebrauchs, die durch den Austausch rechtfertigender Gründe bestimmt ist, sieht man, dass all dies nicht nur einige ihrer begünstigenden äußeren Voraussetzungen betrifft, die gegeben sein mögen oder auch nicht, sondern sie selbst, in ihrem Begriff und der sie von innen her tragenden Ordnungsidee, und sie von dort her zersetzt. Und man erkennt, warum sie existentiell herausgefordert ist, wenn Gesellschaften immer mehr und zuletzt so weit auseinanderdriften, dass, wie es derzeit in den USA zu beobachten ist, sich die verschiedenen Lager gegenseitig als Feinde betrachten und die eine Seite die andere ganz grundsätzlich als »böse« ansieht.21 Das ist für die Demokratie nicht nur deshalb eine Gefahr, weil damit ganz am Ende die Bereitschaft schwinden könnte, sich von der anderen Seite wieder abwählen zu lassen, wenn man sich von dieser doch durch einen Graben getrennt sieht. Sondern weil damit die Idee politischer Gemeinschaft aufgekündigt ist, die überhaupt erst den Grund wie die Möglichkeit von Demokratie bildet: als ein gemeinsames Unternehmen von Bürgern, die sich über ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen und Interessen hinweg wechselseitig zu Koautoren ihrer Rechtsordnung einsetzen und gerade darin zu einer solchen Gemeinschaft zusammenschließen. Man kann so auch sehen, warum die Demokratie nicht erst dann zerfällt, wenn eine aus einer solchen Polarisierung hervorgegangene und sie selbst immer weiter vorantreibende Bewegung die politischen Ämter im Staat besetzt, sondern bereits lange zuvor; der Umschlag in den Autoritarismus ist nur noch der letzte Nagel in den Sarg, und was davor steht, ist bestenfalls eine defekte und bereits schwer beschädigte Demokratie.

VIII.

Damit ist das erste von drei grundlegenden Defiziten des demokratischen Minimalismus benannt: dass er in seiner normativen Anspruchslosigkeit keinen Maßstab liefert, anhand dessen sich mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig markieren und als solche benennen lassen. Von hier aus muss man natürlich auch nicht weiter nachdenken, was gegen den weiteren Verfall gegebenenfalls zu unternehmen wäre, wie es die Europäische Union gegen erhebliche Widerstände mit der Regulierung von Künstlicher Intelligenz und sozialen Medien immerhin versucht. Damit fehlt es, zweitens, auch an einem Maßstab für Kritik. Denn natürlich ist es nicht so, dass es am gegenwärtigen Zustand der repräsentativen Demokratie auch hierzulande nichts auszusetzen gäbe; es hat ja Gründe, dass sich immer mehr Bürger von ihr abwenden: Die Qualität des politischen Personals scheint durchaus verbesserungsfähig, Politik wird häufig bloß durch ihre Simulation ersetzt, die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, viele Bürger fühlen sich schlecht regiert, andere wiederum mit ihren Ansichten nicht repräsentiert – der Platz reicht gar nicht hin, um aufzuzählen, woran es auch bei uns zu einer guten, oder sagen wir einfach: besseren Demokratie alles fehlt. Aber zur Fairness würde es gehören, bei aller Kritik zunächst zu unterscheiden, was daran wirklich demokratiespezifisch ist, also die Qualität des demokratischen Prozesses an sich betrifft, und wo es demgegenüber um generelle Probleme des Regierens in verschachtelten Mehrebenensystemen und im Lichte von Problemen geht, für die es Lösungen vielleicht auch gar nicht gibt, erst recht keine einfachen. Autoritäre Regime sind nicht besser darin, solche Lösungen zu entwickeln, sie können typischerweise nur besser verschleiern, dass sie auch keine haben; wo das nicht geht, greifen sie eben auf Repression zurück.

Auf der anderen Seite braucht es aber ein Bild von Demokratie, das sich dem realen Erscheinungsbild gegenüberstellen und anhand dessen sich dieses zuallererst beurteilen lässt. Es kann dies nur ein idealisierendes Bild sein, das das alte demokratische Versprechen auch unter veränderten Realisierungsbedingungen immer wieder sichtbar macht: dass jeder Bürger mit seiner Stimme gehört wird und diese wichtig ist, dass die Bürger in ihrer Gesamtheit sich mit dem, was sie politisch für richtig halten, in den politischen Entscheidungen wiederfinden können, und dass sie sich gerade darin als politische Gemeinschaft wissen und wollen. Nur daraus kann zuletzt die Bereitschaft erwachsen, sich für die und vor allem auch in der Demokratie zu engagieren. Dagegen wendet der demokratische Minimalismus wiederum ein, alle diesbezüglichen Erwartungen seien von vornherein überzogen und könnten nur enttäuscht werden, was dann am Ende auf die Demokratie selbst zurückfalle. Aber die Lösung kann auch nicht sein, sich deshalb gleich mit einer Minderform von Demokratie zu begnügen, die in der Tat niemanden mehr enttäuschen kann, weil auch niemand etwas von ihr erwartet.

Schließlich wird man, drittens, sehen müssen, dass es zu kurz gegriffen wäre, die vielfach diagnostizierte Krise der Demokratie bloß aus ihrem Gegensatz zum Autoritarismus zu begreifen, der dafür immerhin das passende Feindbild liefert. Stattdessen spricht einiges dafür, dass wir es mit einem In-sich-Konflikt der Demokratie zu tun haben, der im Kern ein semantischer Kampf, ein Kampf um die Besetzung ihres Begriffs ist. Der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance hat dies im Februar 2025 in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz in einer Klarheit zum Ausdruck gebracht, für die man ihm vielleicht noch einmal dankbar sein wird. Im Kern stehen sich hier zwei Modelle gegenüber, die wieder ältere, längst überwunden geglaubte Gegensätze aufrufen: zwischen Demokratie und Liberalismus, Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit, ganz wesentlich auch zwischen Identität und Repräsentation. Im einen Modell, für das derzeit hauptsächlich die USA stehen, verwirklicht sich Demokratie wesentlich im Modus der Identität, als vorgestellte Einheit zwischen der Mehrheit des Volkes und dem von ihr gewählten Anführer, der das innere Denken und Fühlen dieser Mehrheit, oft auch gerade der »schweigenden Mehrheit«, in seiner Person verkörpert und in seinem politischen Handeln, wie erratisch es von außen erscheinen mag, abbildet.

Demgegenüber setzt das europäische, wenngleich auch hier längst nicht mehr von allen geteilte Modell auf Formen und Verfahren der Repräsentation, in denen um den richtigen Weg gerungen und mit Argumenten gestritten wird. Zugleich sollen sich die Gegensätze, auch das ganz Rohe und Unbehauene, auf dem langen Weg von unten nach oben ein Stück abschleifen; es ist zugleich eine Kultur des wechselseitigen Respekts, der Mäßigung und des Ausgleichs, auf die man gerade im Vergleich auch einmal stolz sein kann. Man müsste dies auch noch weiter zuspitzen; als noch einmal amerikanische Spezialität käme etwa ein Verständnis von Politik als von jeder Regulierung freier, anarchischer Markt hinzu, auf dem sich der Stärkste durchsetzen darf. Man hat deshalb dort auch überhaupt kein Problem damit, wenn einige Superreiche wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss ummünzen.22 Gerade daran kann sich dann wiederum offener Streit mit der Europäischen Union entzünden, wie jüngst um die Regulierung der großen Internetkonzerne und der sozialen Medien. Aber das ist seinerseits wieder nur ein praktischer Anwendungsfall für den Kampf um die Begriffe, der dahinter stattfindet und den man dann als solchen auch annehmen müsste. Aus dem Geist der Defensive lassen sich solche Kämpfe erfahrungsgemäß nur schwer gewinnen.

1

Jetzt in: Matthias Jestaedt /Oliver Lepsius (Hrsg.), Verteidigung der Demokratie. Tübingen: Mohr Siebeck 2006.

2

Vgl. vor allem den Freedom-House-Index (freedomhouse.org/countries/freedom-world/scores), ferner https://www.demoptimism.org/democratic-decay-as-the-organising-concept.

3

Steven Levitsky /Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA 2018.

4

Adam Przeworski, Krisen der Demokratie. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Berlin: Suhrkamp 2020.

5

Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen: A. Francke 2018.

6

Vgl. beispielweise Tom Ginsburg /Aziz Z. Huq, How to Save a Constitutional Democracy. Chicago University Press 2018.

7

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt: Suhrkamp 1990.

8

Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp 2022.

9

Veith Selk, Demokratiedämmerung. Berlin: Suhrkamp 2023.

10

Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2024; das Zitat aus Judith Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste. Berlin: Suhrkamp 2018.

11

Ich greife hier eine Überlegung auf, die Hartmut Leppin im Frankfurter Arbeitskreis »Normativität und Geschichte« in einer Analyse des Klimabeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vorgetragen hat.

12

Sprechend der (derzeitige) Untertitel zu Levitsky /Ziblatt im englischen Original: What History Reveals about the Future. Der deutsche Untertitel ist immerhin noch optimistisch: Und was wir dagegen tun können.

13

François Hartog hat dies als »Präsentismus« beschrieben (Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time. New York: Columbia University Press 2015).

14

Vgl. nun, auf die gesamte Justiz bezogen, das »Judicial Resilience Project« des Verfassungsblog (verfassungsblog.de/we-are-launching-the-judicial-resilience-project/).

15

In diese Richtung tatsächlich Colin Crouch, Postdemokratie revisited. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Berlin: Suhrkamp 2021.

16

BVerfGE 5, 85 (196, 197f.)

17

BVerfGE 123, 267 (358)

18

BVerfGE 151, 1 (19f.)

19

Philip Manow, Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde. Berlin: Suhrkamp 2024.

20

Christoph Möllers, Demokratie. In: Matthias Herdegen u.a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts. München: Beck 2021; ders., Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik. Berlin: Suhrkamp 2020. Demgegenüber scheinen mir Möllers’ Überlegungen in Demokratie – Zumutungen und Versprechen (Berlin: Wagenbach 2008) noch einem deutlich anspruchsvolleren Konzept verhaftet.

21

Steffen Mau /Thomas Lux /Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2023.

22

Klar hervorgetreten in der Entscheidung des US Supreme Court in Citizens United vs. Federal Election Commission, 558 U.S. 310 (2010): Danach fällt der Einsatz finanzieller Mittel zum Zweck der politischen Einflussnahme unter das Recht der freien Rede; gesetzliche Beschränkungen zur Wahlkampffinanzierung durch mächtige Interessengruppen sind deshalb unzulässig.

Weitere Artikel des Autors