Der Algerienkrieg als Matrix für den Nahostkonflikt? (II)
von Danilo ScholzGamal Abdel Nasser: Antagonistisches Bindeglied zwischen Algerien und Israel
Während seiner bis 1970 währenden Regierungszeit baute Präsident Gamal Abdel Nasser Kairo zu einem Drehkreuz der Dekolonisierung aus. Tatsächlich lässt sich ohne Ägypten die politische Geschichte der Verquickung von algerischem Unabhängigkeitskampf und palästinensischer Nationalbewegung nicht erzählen. Nassers politisches Erbe erwies sich für den Nahen Osten als zwiespältig – einige jüngere Untersuchungen würden sagen: verheerend. Aber seine panarabische Weltanschauung bildet den missing link zwischen Algerien und Palästina. Schon bald nach dem militärischen Staatsstreich der sogenannten Freien Offiziere im Jahr 1952, der Nasser, zunächst offiziell als Juniorpartner, an die Schalthebel der Macht brachte, stellte man Kontakt zur algerischen FLN her, der man finanzielle und militärische Unterstützung zukommen ließ. Es war kein Zufall, dass die Provisorische Regierung der Algerischen Republik, die als Exilregierung dem Guerrillakampf der FLN internationale Legitimität verschaffen sollte, in Kairo ausgerufen wurde. Als afrikanische und asiatische Vertreter postkolonialer Staaten 1955 in der indonesischen Stadt Bandung zusammenkamen, um sich aus dem sowjetisch-amerikanischen Klammergriff des Kalten Krieges zu lösen, avancierte Nasser, inzwischen der mit eiserner Faust regierende starke Mann in Ägypten, zu einer der Schlüsselfiguren der Konferenz. Ein algerischer Historiker ging so weit, Bandung als zweite Geburt der FLN zu charakterisieren: Nach der Feuertaufe des Guerillakampfs betrat sie nun die diplomatische Bühne, wenn auch fürs Erste nur mit Beobachterstatus.
In Paris nahm man diese Entwicklung irritiert und mit wachsender Paranoia zur Kenntnis. In der Presse und in politischen Hinterzimmern nährte man in völliger Verkennung des algerischen Nationalbewusstseins Mutmaßungen, Nasser sei der eigentliche Strippenzieher hinter den subversiven Machenschaften und steuere insgeheim die FLN aus dem Ausland. Doch da war noch ein weiterer Punkt, den Nasser in Bandung auf die Tagesordnung setzte: das Schicksal der heimatlosen Palästinenser. Nasser war 1948 auf arabischer Seite nach Ausrufung der israelischen Unabhängigkeit gegen den jüdischen Staat in den Krieg gezogen. Nach der Niederlage schlugen sich zahlreiche palästinensische Flüchtlinge nach Ägypten durch, einige von ihnen verschworen sich zu kleinen Einheiten – den Fedajin – und drangen mit Billigung Nassers, nicht zuletzt vom seinerzeit ägyptisch verwalteten Gazastreifen aus, mordend und brandschatzend in die Kibbuzim im Grenzgebiet ein. Dass Israel durch das Pochen auf die Rechte der Palästinenser in Bandung brüskiert würde, stand nicht zu befürchten – die arabischen Staaten hatten dafür Sorge getragen, dass Delegierte aus Jerusalem gar nicht erst zu der Konferenz eingeladen wurden. So machte sich Nasser vorsichtig formuliert weder in Paris noch in Jerusalem Freunde.
Angesichts des ägyptischen Unruhefaktors sondierten die Regierungen in Israel und Frankreich hinter verschlossenen Türen Möglichkeiten für eine stärkere militärische Kooperation. Tatsächlich nahm das Volumen der französischen Rüstungsexporte so zügig wie kontinuierlich zu. Hauptprofiteure waren die israelische Luftwaffe, die nach anfänglichem Zögern mit modernsten Kampfflugzeugen aus französischer Fertigung versorgt wurde, sowie das geheime israelische Atomprogramm, in das französisches Know-how einfloss.
Doch das eigentliche Pulverfass stand auch weiterhin in Ägypten. Nasser spielte mit dem Feuer, und jemand musste ihm die Grenzen aufzeigen – daran gab es für viele israelische Entscheidungsträger in Politik und Militär kaum einen Zweifel. 1954 führte der israelische Nachrichtendienst eine Geheimoperation durch, für die ägyptische Juden rekrutiert wurden, um Bombenanschläge in Kairo und Alexandria zu verüben. All dies lief unter falscher Flagge, da die Attentate der Muslimbruderschaft und den ägyptischen Kommunisten in die Schuhe geschoben werden sollten. Das zu erwartende Chaos, so das israelische Kalkül, würde Nassers Regime destabilisieren. Der Plan flog jedoch auf, die Verdächtigen wurden festgenommen und vor Gericht gestellt, einige von ihnen zum Tode verurteilt. Bis heute ist nicht geklärt, wie tief die israelische Regierung in die Anschlagspläne verstrickt war. Der israelische Verteidigungsminister Pinchas Lawon wurde als Bauernopfer bestimmt und musste seinen Hut nehmen.
Ob der nächste Versuch, der renitenten Regionalmacht Ägypten die Flügel zu stutzen, gelingen würde, war eine Frage des Timings und der Partner. Einen Vorwand lieferte Nasser, als er im Juli 1956 den Suez-Kanal verstaatlichte, der bislang von einem mehrheitlich britisch-französischen Konsortium betrieben wurde. In der »Dritten Welt« feierte man einen Akt nationaler Selbstbehauptung und das Ende kolonial-kapitalistischer Seilschaften, in Europa war Nasser nun endgültig als Wiedergänger Hitlers abgestempelt, der internationale Abkommen missachtete und Vereinbarungen behandelte, als wären sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurden. Ungestraft wollte man ihn daher nicht davonkommen lassen, zumal die Regierung in Paris sich der Illusion hingab, dass, sobald Nasser aus dem Weg geräumt wäre, auch die Insurrektion der FLN in Algerien wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde.
So heckten im Oktober 1956 führende Vertreter der britischen, französischen und israelischen Regierung eine militärische Vergeltungsoperation aus. Israel marschierte im Sinai ein, Frankreich und Großbritannien stellten den Kriegsparteien ein Ultimatum, das Ägypten ablehnen musste und der wiederbelebten Entente cordiale Grund genug war, selbst militärisch in den Konflikt einzugreifen – offiziell natürlich nur, um die Sicherheit des Schiffsverkehrs im Suez-Kanal zu gewährleisten. Die demoralisierten ägyptischen Streitkräfte standen am Rand einer Niederlage, als die beiden Supermächte USA und UDSSR dem Treiben – »a policy of reasserting by force colonial control«, entfuhr es dem amerikanischen Außenminister John Foster Dulles – nach gut einer Woche ein Ende machten. Für Israel, Großbritannien und Frankreich, die sich nach blitzartigen Erfolgen bereits auf der Siegerstraße wähnten, war das ein Fiasko. Der Weltöffentlichkeit bot sich der Anblick zweier siechender Kolonialmächte, die sich mehr und mehr an ihren Überseeambitionen verhoben. Dass Israel mit ihnen paktierte, beschädigte die internationale Reputation des Landes. Nasser dagegen triumphierte, militärisch schon geschlagen, politisch als Fackelträger des Antikolonialismus. Der erste angriffslustige politische Aufsatz, den der junge Student Edward Said 1956 im Daily Princetonian unterbrachte, befasste sich mit der Suez-Krise.
Die Schmach von Suez tat dem französisch-israelischen Rapprochement einstweilen keinen Abbruch. Glaubte man Jacques Soustelle, dem Generalgouverneur in Algier, hing die Zukunft der gesamten Mittelmeerregion von zwei Eckpfeilern ab: Französisch-Algerien und Israel. Sollte einer von ihnen zusammenbrechen, sähe es düster aus. Im Oktober 1957 handelte Schimon Peres eine Vereinbarung aus, in der Frankreich Israel seine Unterstützung beim Bau eines Atomreaktors in der Negev-Wüste zusagte, der um 1963 in Betrieb ging. Frankreich selbst testete 1960 erstmals erfolgreich einen Nuklearsprengkopf, selbstredend nicht zuhause in Europa, sondern in der algerischen Wüste.
Statt zu fragen, ob der Algerienkrieg als Folie für den Israel-Palästina-Konflikt taugt, ließe sich der Spieß allerdings auch umdrehen. Konnte das in Algerien in Bedrängnis geratene Frankreich sich die ein oder andere Sache von Israel abschauen? Spitzenbeamte in Paris trugen sich mit dem Gedanken, wenigstens einen Teil des französischen Überseereichs in Nordafrika zu retten. Alain Peyrefitte, ein enger Berater von de Gaulle, ließ sich unter anderem vom UN-Teilungsplan für Palästina aus dem Jahr 1947 inspirieren und schlug vor, Algerien in einen französischen und einen überwiegend arabischen Teil aufzutrennen, wie er in einer Artikelserie in Le Monde ausführte, die kurz darauf in Buchform erschien. Bei einem Staatsbesuch in Frankreich 1960 hatte David Ben-Gurion diese Idee de Gaulle ebenfalls unterbreitet – aufgehen könne dieser Plan aber nur, so der israelische Ministerpräsident, wenn massenhaft französische Siedler nach Algerien auswanderten, um die demografische Oberhand zu behalten, und willens seien, als Soldaten im Land zu dienen. Ganz wohl war de Gaulle bei der Vorstellung, ein »französisches Israel« in Algerien aus dem Boden zu stampfen, nicht, zumal die pieds-noirs anders als die jüdischen Siedler keine historischen Wurzeln in dem Land hatten. Die nationale Heimstätte der Algerienfranzosen bleibe nun mal Frankreich. Er ließ Peyrefitte abblitzen, und Biografen bezweifeln, dass das Teilungsansinnen für den französischen Präsidenten je mehr war als eine Hinhaltetaktik, um Zeit bei den Verhandlungen über die unvermeidliche Unabhängigkeit eines ungeteilten Algerien zu gewinnen.
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