Heft 846, November 2019

Ins Bild gerückt

Zur Geschichte des französischen Kolonialismus von Danilo Scholz

Zur Geschichte des französischen Kolonialismus

1771 erschien der Roman Das Jahr 2440 des französischen Autors Louis-Sébastien Mercier und katapultierte seine Leser in die Zukunft. Der Ich-Erzähler erwacht im Paris des 25. Jahrhunderts und besichtigt bei seinem Gang durch die Stadt schließlich auch die neueren Monumente. Eine Statue löst bei ihm Bewunderung und Frohlocken aus: Dargestellt ist eine schwarze Person »in edler und Achtung gebietender Stellung«, »barhäuptig, mit ausgestrecktem Arm, blitzendem Auge«. Zu ihren Füßen findet sich die Inschrift: »Dem Rächer der neuen Welt«. Der namenlose Zeitreisende bringt auch die historischen Hintergründe dieses Denkmals in Erfahrung: Hier wird ein Sklavenbefreier gefeiert, ein »Todesengel«, der die »Fesseln seiner Landsleute« ein für alle Mal zerstört und die Welt damit »in Freiheit gesetzt« hat. Seinem Beispiel folgend hatten tausende Sklaven sich gegen ihre Peiniger erhoben. Sie richteten ein vom Gott der Gerechtigkeit gewolltes Blutbad an: »Franzosen, Spanier, Engländer, Holländer, Portugiesen, alles wurde ein Raub des Schwertes, des Giftes und der Flammen.« Selbst die toten Vorfahren der Sklaven erstanden aus ihren Gräbern auf, ihre Gebeine schienen »vor Freude zu klappern«.1

Die Gewalt hat jedoch nicht das letzte Wort, die europäische Präsenz ist nicht vom Erdboden getilgt. Europa bleibt, das machen spätere Fassungen von Merciers Roman noch deutlicher, Modell und Maßstab. Der Zeitung entnimmt der Erzähler, dass der fürchterliche »Rächer« nach getaner Arbeit das »Schwert« niederlegte und sich damit »begnügte«, bloß »Gesetzgeber zu sein«. In Mexiko, so berichtet die Presse, regieren die Nachfahren Montezumas einen Staat, der Teil eines von einem Kaiser geführten politischen Staatswesens ist – »ungefähr so, wie zu Eurer Zeit das blühende deutsche Reich in viele Fürstentümer aufgeteilt war«. Aus Paraguay wird gemeldet, dass die dortigen Feiern zum »Andenken an die Abschaffung der schändlichen Sklaverei« auch einen Anlass boten, der Bevölkerung nicht nur das politisch, sondern auch das wirtschaftlich Erreichte vor Augen zu führen. Es waren »Ackerbau« und »Künste« aus Europa, die das Land »dem Elend entrissen«, wie die »keineswegs undankbare« südamerikanische Nation »gesteht«.

Merciers fiktionaler Abolitionismus kennt nur Gewinner. Das gilt für die Welt im Text: »Herr« und »Sklave«, die »Kolonien wie die Metropolen« sind Nutznießer der Abschaffung der Sklaverei. Diese frohe Botschaft ist aber auch an das vorrevolutionäre Frankreich außerhalb des Texts adressiert. Nach dem Blutbad gibt sich Mercier versöhnlich, um das literarisch geschilderte Schlachten den Befürwortern der Sklaverei als Lehrstück entgegenzuhalten. In der 1786 erschienenen Ausgabe richtet sich der Erzähler eindringlich an die zeitgenössischen Leser des 18. Jahrhunderts: Wenn der gütige »Himmel einen Spartacus an den Ufern des Gambia entstehen ließe, […] was wird dann aus unseren Kolonien?« Wer an der Sklaverei festhält, muss in Zukunft mit dem Schlimmsten rechnen. Wer ihr ein Ende setzt, kommt – als Plantagenbesitzer- oder -aufseher – in den Genuss von ihren Herren »desto treuer« ergebenen »Untertanen«.

Es gilt, die Sklaverei abzuschaffen, um den Fortbestand des Kolonialismus zu sichern. Im 25. Jahrhundert Merciers herrscht Frankreich über Griechenland, Ägypten und weitere Teile Afrikas. Die überseeischen Besitzungen tragen beträchtlich zum französischen Handelsreichtum bei. Im Gegenzug »regeneriert« die Kolonialmacht die afrikanischen Territorien. Eigens eingeführte europäische Baumsorten, so fantasiert Mercier, mildern das trockene Klima des Kontinents und erschließen ihn so für die Viehzucht. Nicht alle lokalen Machthaber wollten sich ihrem Schicksal fügen. Bei Mercier führt die Reise in das Jahr 2440 durch ein 19. Jahrhundert voller »notwendiger« Kriege gegen die barbarische »Tyrannei« in Afrika. Von Frankreich erobert zu werden heißt zivilisatorisch laufen lernen.

Die Wirklichkeit holte die Literatur bald ein. Die Sklavenaufstände, die in den 1790er Jahren die französische Kolonie Saint-Domingue in der Karibik erschütterten, empfand Mercier als Fanal. Wo der Roman dem gerechten Zorn der Geknechteten huldigt, ja ihm buchstäblich ein Denkmal setzt, macht sich nun blankes Entsetzen breit: »Unsere Kolonien« stehen in Flammen, entfuhr es dem Literaten, der inzwischen auch Abgeordneter des Nationalkonvents war. Zwar rühmte sich Mercier 1798, mit seiner literarischen Zukunftsschau der eigentliche »Prophet der Revolution« zu sein, aber ihre karibischen Ausläufer flößten ihm Angst und Schrecken ein.2 In Merciers Text offenbart sich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Sklaverei, französischem Kolonialismus und der Darstellung schwarzer Körper in Kunst und Literatur. Dieses Erbe der französischen Geschichte birgt bis heute Sprengstoff und zieht sich als Leitmotiv durch die Ausstellung Le modèle noir, die von März bis Juli dieses Jahres im Pariser Musée d’Orsay zu sehen war.3

Vergangenheit heute

In Frankreich, dem Land, das einst so stolz auf die zivilisatorischen Errungenschaften seines überseeischen Imperiums blickte, gilt der Postkolonialismus einigen nach wie vor als übergriffiger Import aus den Vereinigten Staaten. So titelte die Wochenendbeilage des konservativen Figaro vor kurzem, dass die lauter werdenden Rufe nach einer schonungslosen Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen der kolonialen Vergangenheit ein beunruhigendes Zeichen für die »große Unterwanderung« der Universitäten durch aggressive Ideologen sei. Nicht nur das französische Selbstbild, liest man dort, sondern auch das Erbe der Aufklärung stünden auf dem Spiel.

Aufklärung und Sklaverei schlossen sich keineswegs immer aus, und so gab die französische Politik zu verstehen, dass Aufklärung über Sklaverei auch heute nottut. Die »Loi Taubira« aus dem Jahr 2001 erkennt nicht nur an, dass die Sklaverei und der Sklavenhandel Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren, sondern sieht vor, dass die historische französische Verantwortung für dieses Unrecht zum Pflichtstoff an den Schulen wird. In einem so zentralistisch organisierten Land wie Frankreich hat eine derart einschneidende Neuausrichtung des Lehrplans Folgen für die Verlagsprogramme. Ob Schulbücher oder wissenschaftliche Standardwerke, eine Vielzahl neuer Veröffentlichungen setzt sich mit der Geschichte der Sklaverei in den französischen Kolonien auseinander.4 Umstrittener als Frankreichs Rolle im transatlantischen Sklavenhandel ist die Bewertung der kolonialen Vergangenheit des Landes. Ein Gesetz aus dem Jahr 2005 wies Lehrkräfte ausdrücklich an, im Unterricht auf die »positive Rolle« Frankreichs in den Überseegebieten einzugehen. Erst als sich massiver Protest unter Historikern regte, wurde der umstrittene Passus zurückgezogen.

Es hat sich in der Tat einiges getan, seit die mehrbändige Studie Lieux de mémoire (1984–1992) erschien. Die von Pierra Nora herausgegebene Auflistung französischer Erinnerungsorte unterschlug das koloniale Erbe mit beinahe gespenstischer Konsequenz, bis auf eine Ausnahme: Ein Eintrag beschäftigt sich mit der Pariser Kolonialausstellung 1931, die mehr als acht Millionen Besucher anzog. Das Verschweigen lässt sich sogar in eine republikanische Tugend umdeuten. Als Nicolas Sarkozy (vergeblich, wie sich herausstellen sollte) seine Rückkehr in den Elysée-Palast anstrebte, verkündete er 2016 im Präsidentschaftswahlkampf: »Junge Franzosen, welche Nationalität Eure Eltern auch haben mögen, ab dem Moment, wo Ihr zu Franzosen werdet, sind Eure Vorfahren die Gallier und Vercingetorix.«

Vor diesem politischen Hintergrund konzipierte Patrick Boucheron eine Histoire mondiale de la France, ein kollektives Projekt, das sich dem Land von den vermeintlichen Rändern nähert. Das achthundertseitige Buch, das die Geschichte Frankreichs anhand von 146 mehr oder weniger bekannten Schlüsseldaten rekonstruiert, verkaufte sich allein im Jahr seines Erscheinens mehr als 110 000 Mal.5 Zu den vehementesten Kritikern von Boucherons globalgeschichtlich aufbereiteter Frankreich-Fibel gehörte wenig überraschend Pierra Nora, der dem gesamten Unterfangen unterstellte, die Idee der Nation zugunsten eines vagen Ideals von métissage und Multikulti zu entwerten. Die beiden Historiker trennen nicht nur weltanschauliche Differenzen, sie sind auch Konkurrenten im Verlagsgeschäft: Nora gilt seit Jahrzehnten als einflussreicher Programmgestalter bei Gallimard, wohingegen Boucheron bei Seuil den Ton angibt. Übertroffen wurden Noras Einwürfe nur von dem Philosophen Alain Finkielkraut, der Boucherons »Vademekum für Gutmenschen« verabscheute. Wie masochistisch müsse man drauf sein, um penibel aufzuzählen, was Frankreich dem Rest der Welt zu verdanken hat, wenn man doch genauso gut aufzeigen könne, wie der Rest der Welt sich von Frankreichs Ausstrahlung inspirieren ließ? Boucheron und seine Parteigänger hätten, so Finkielkraut, das Kunststück fertig gebracht, eine »Geschichte Frankreichs ohne Frankreich« zu schreiben. Weniger Berührungsängste hatte Emmanuel Macron, für den Boucheron 2017 in beiden Wahlgängen gestimmt hat. Wo andere Verzagtheit witterten, scheint das von Boucheron entworfene Geschichtsbild eines seit Jahrhunderten für grenzüberschreitende Einflüsse offenen Gemeinwesens dem Präsidenten besonders geeignet, Frankreich zu neuem internationalen Selbstbewusstsein zu verhelfen.

In den intellektuellen Debatten werden diese Gegensätze oft auf eine verführerisch einfache Formel gebracht: Universalismus gegen Postkolonialismus. So verhärtet scheinen die Fronten zwischen französischen Universalisten und den Postkolonialisten afrikanischer und amerikanischer Provenienz, dass selbst Versuche, ins Gespräch zu kommen, über polemisches Aneinandervorbeireden kaum hinausgelangen.6 Der Vorwurf der Diskriminierung ist in beiden Lagern schnell zur Hand: Wer argumentiert eigentlich potentiell rassistisch, derjenige, der nichtweiße Franzosen auf ihre Herkunft und damit Differenz festlegt, oder derjenige, der das Schwarzsein und die damit einhergehenden historischen Erfahrungen ausblendet und in einer vermeintlich alle Unterschiede aufhebenden republikanischen Staatsbürgerlichkeit zum Verschwinden bringt? Dass der Universalismus im Sinn der Selbstaufklärung gestärkt aus einer offenen Auseinandersetzung mit seinen blinden Flecken und seinen partikularen, in diesem Fall europäischen Erscheinungsformen hervorgehen könnte, bleibt eine Position, die im Geschrei oft untergeht, egal wie eloquent und überzeugend der Philosoph Etienne Balibar sie vorträgt.7

Es ist eine passende Pointe der Ausstellung Le modèle noir, dass sie auf die Dissertation einer amerikanischen Kunsthistorikerin zurückgeht. Denise Murell promovierte 2013 an der Columbia University mit ihrer Arbeit Seeing Laure: Race and Modernity from Manet’s Olympia to Matisse, Bearden and Beyond. Sie regte die Verantwortlichen des Musée d’Orsay dazu an, sich im Rahmen einer größeren Ausstellung mit der Bedeutung des »schwarzen Modells« zu befassen. Der Begriff bezieht sich auf das Modellstehen in Ateliers und Kunsthochschulen, ist aber darüber hinaus denkbar weit gefasst, nicht nur im Sinne einer porträtierten Person, sondern auch als mustergültiges Motiv: Was Modellcharakter hat, dem wird exemplarischer Wert zugemessen.

Die Kuratoren beabsichtigten, die französische Kulturgeschichte noch einmal neu zu betrachten und den Beitrag von Frauen und Männern aus den karibischen und afrikanischen Überseegebieten Frankreichs herauszuarbeiten. Der »Schwarze Atlantik«, einst Drehschreibe des Sklavenhandels der europäischen Kolonialreiche, wird nun auch in Frankreich publikumswirksam als Reservoir für Vor- und Leitbilder neu entdeckt.8 Wer hier bevormundende Massenunterweisung mit klar verteilten Rollen am Werk sieht, irrt: Es sind gerade die Gebrochenheit der Biografien, die Widersprüchlichkeiten der Ideen, die Zwiespältigkeit des politischen Handelns, die faszinieren, wenn man bis in die feinsten ideengeschichtlichen Verästelungen nachverfolgt, wie sich das schwarze Modell von der Rolle des Studienobjekts emanzipiert, um sich als Subjekt der Selbstermächtigung zu behaupten.

Von Saint-Domingue über Frankreich nach Haiti

Das Auspeitschen kam mit den Schiffen auf die Plantagen der neuen Welt. Es hatte sich in der Seefahrt als Disziplinarmaßnahme bewährt und prägte als Methode der Züchtigung seit Beginn der europäischen Expansion den Alltag in den Kolonien. Im europäischen Teil Frankreichs war Sklaverei seit dem 14. Jahrhundert verboten. Wer französischen Boden im Mutterland betrat, wurde dadurch de jure zum freien Menschen. In Wirklichkeit beriefen sich Sklaven, die nach Frankreich kamen, aber nur in den wenigsten Fällen auf dieses Gesetz.

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