Der Gaza-Moment
von Albrecht KoschorkeAm Ortseingang des nordisraelischen Städtchens Karmiel, von der Hauptstraße aus unübersehbar, wurde zwischen 1978 und 1981 das Mahnmal »From Holocaust to Resurrection« errichtet. Es besteht aus mehreren Figurengruppen, die in ihrer Beziehung aufeinander die im Namen des Mahnmals angelegte Storyline illustrieren: in Stacheldraht verstrickte Leidensgestalten, gebeugte Menschen auf ihrem Marsch aus dem Grauen der Vernichtungslager, schließlich, als Symbol der Auferstehung, eine Frau, die ihr Kind erleichtert und triumphierend in den Himmel hält. Der Künstler Nicky Imber war selbst ein Überlebender des Konzentrationslagers Dachau. Der Name, den er der Skulptur der Frau mit Kind gab – »Hope« – ist auch der Name der israelischen Nationalhymne (haTikwa), deren Text von Imbers Großonkel gedichtet wurde.
Karmiel ist eine in den 1960er Jahren nach einem Masterplan erbaute Stadt. Das Territorium, auf dem sie sich befindet, gehörte zuvor zu benachbarten arabischen Dörfern, deren Bewohner enteignet und lediglich mit einem Streifen unfruchtbaren Landes entschädigt wurden. Der Zuzug in die neue Stadt wurde ihnen verweigert. Ein Protestmarsch gegen diese Entrechtung endete damit, dass man die Anführer inhaftierte und vor ein Militärgericht stellte.
Geschichten stehen nie für sich allein. Ihr Sinn und ihre Wirkung verändern sich entsprechend den Umständen, unter denen sie erzählt werden. Nicky Imber, geboren 1920 als Ignatz Imberman in Wien und an seinem Lebensende selbst ein Bürger von Karmiel, hat in den Skulpturen seine eigenen Erfahrungen und in gewisser Hinsicht seinen Lebensweg in Form gegossen. Für die Bewohner der enteigneten arabischen Dörfer, die nach dem Verlust ihrer landwirtschaftlichen Lebensgrundlage auf dem Weg zur Arbeit täglich an dem Mahnmal vorbeigekommen sein mochten, stellt sich die Geschichte anders dar. Für sie ist die in Israel allgegenwärtige Erinnerung an den Holocaust, die den Kern der kulturellen Identität des jungen Staates ausmacht, ein Instrument zur Legitimation des Unrechts, das ihnen angetan wurde.
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