Fluch der Macht
von Albrecht Koschorke1
Es wird berichtet, dass in alten Zeiten der Kaiser von Japan gezwungen war, jeden Morgen mehrere Stunden unbewegt, die schwere Krone auf dem Kopf, in seinem Palast zu sitzen, um die kosmische Stabilität seines Reiches zu garantieren. Auch afrikanische Könige unterlagen strengen Beschränkungen. Sie mussten, oft in glühender Hitze, bei endlosen Zeremonien ausharren, hatten ihre Tage an abgeschiedenen Orten zu verbringen und durften kaum je den Fuß in die Behausung anderer Sterblicher setzen. Gefangen in der Pflicht, symbolische Handlungen zu verrichten, waren sie vom Alltagsleben ihrer Mitmenschen abgeschnitten. So führten sie, obwohl mit höchsten Würden versehen, ein glückloses Leben. Ging alles gut, verbrachten sie ihre Tage in eintöniger Isolation. Waren aber ihre Untertanen unzufrieden mit ihnen, wandten sie sich von ihnen ab und schreckten nicht davor zurück, sie hart zu bestrafen. Erst erwartete man von ihnen, dass sie Wunder vollbringen, kurz darauf behandelte man sie wie Verbrecher.
Mitunter wurde die Strafe sogar vorsorglich verabreicht. James George Frazer, der um 1900 das völkerkundliche Wissen seiner Zeit in einem monumentalen Werk zusammenführte, überliefert die Geschichte eines Königs in Sierra Leone, der am Vorabend der Krönungszeremonie derartig verprügelt wurde, dass er den Antritt seiner Amtszeit nur um ein Weniges überlebte. Solche Grausamkeiten führten dazu, dass in manchen Gegenden geeignetes Führungspersonal kaum noch zu finden war. Ins Amt gebracht wurden infolgedessen oft nicht die fähigsten, sondern missliebige Kandidaten, denen man es durch Beförderung nach oben heimzahlen wollte.
Es macht Mühe, bei diesen Schilderungen nicht an die heutige politische Klasse zu denken, speziell die Ampelkoalition. Mag das Bild eines in Zeremonien eingeschnürten Kleinkönigs, der sonst nichts zu bestimmen hat, an den deutschen Bundespräsidenten erinnern, so trifft das Schicksal von Mächtigen, die erst in den Himmel gehoben und dann fallengelassen werden, eher auf Olaf Scholz und Robert Habeck zu. Schon lange fragt man sich, wer es sich unter diesen Umständen überhaupt noch antun will, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
In seiner Schrift Totem und Tabu hat Sigmund Freud Frazers Berichte aufgegriffen und psychoanalytisch ausgedeutet. Wie bei Freud nicht anders zu erwarten, sah er hinter dem ambivalenten Verhältnis der Untertanen zu ihrem Herrscher das Bild des Vaters aufscheinen, der gleichzeitig Objekt der Bewunderung und Ziel feindseliger Regungen ist. Freud erkannte in den von Ethnologen beschriebenen Meidungsvorschriften das Verhalten der Neurotiker wieder, die er in seiner Wiener Praxis therapierte. In beiden Fällen bestand seiner Auffassung nach der widersprüchliche Handlungssinn in einem uneingestandenen Ausleben von Feindseligkeit.
Wie die Neurotiker sich in ihren Zwangshandlungen auf verquere Weise den Wunsch erfüllten, gegen den sie ihre ängstlichen Zwänge aufrichteten, so hätten auch die Tabus, mit denen die afrikanischen »Wilden« ihren König umstellten, eben der kollektiven Aggression Ausdruck verliehen, vor der sie den Herrscher angeblich schützen sollten. Etwas Ähnliches wäre über die Wähler in heutigen Demokratien zu sagen, wenn sie ihren politischen Repräsentanten die Schalthebel der Macht an die Hand geben, nur um sie kurz darauf wegen ihrer Abgehobenheit zu beschimpfen, am liebsten gleich wieder zum Teufel zu jagen und so ein Zustimmungsklima für tatsächliche Gewalttätigkeiten zu schaffen.
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Besteht also die treibende Kraft hinter dem Aufbegehren gegen die jeweiligen Amtsinhaber in einer verhehlten Lust am Vatermord? Freuds analytisches Vokabular bietet noch eine andere Denkmöglichkeit. In Demokratien werden der Idee nach diejenigen mit Entscheidungsbefugnissen betraut, in denen sich der Wählerwille verkörpert glaubt. Es sind also im Verhältnis zu den gewählten Repräsentanten immer Anteile des Eigenen mit im Spiel. Doch dieses Eigene wird von inneren Widersprüchen durchzogen. In der Ambivalenz gegenüber den Herrschenden kommt mithin die innere Zerrissenheit des Wählerwillens zum Ausdruck: zwischen der Beauftragung von Entscheidungsträgern und der Rebellion gegen sie.
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