Heft 899, April 2024

Der Gaza-Moment

von Albrecht Koschorke
Download (PDF)

Am Ortseingang des nordisraelischen Städtchens Karmiel, von der Hauptstraße aus unübersehbar, wurde zwischen 1978 und 1981 das Mahnmal »From Holocaust to Resurrection« errichtet. Es besteht aus mehreren Figurengruppen, die in ihrer Beziehung aufeinander die im Namen des Mahnmals angelegte Storyline illustrieren: in Stacheldraht verstrickte Leidensgestalten, gebeugte Menschen auf ihrem Marsch aus dem Grauen der Vernichtungslager, schließlich, als Symbol der Auferstehung, eine Frau, die ihr Kind erleichtert und triumphierend in den Himmel hält. Der Künstler Nicky Imber war selbst ein Überlebender des Konzentrationslagers Dachau. Der Name, den er der Skulptur der Frau mit Kind gab – »Hope« – ist auch der Name der israelischen Nationalhymne (haTikwa), deren Text von Imbers Großonkel gedichtet wurde.

Karmiel ist eine in den 1960er Jahren nach einem Masterplan erbaute Stadt. Das Territorium, auf dem sie sich befindet, gehörte zuvor zu benachbarten arabischen Dörfern, deren Bewohner enteignet und lediglich mit einem Streifen unfruchtbaren Landes entschädigt wurden. Der Zuzug in die neue Stadt wurde ihnen verweigert. Ein Protestmarsch gegen diese Entrechtung endete damit, dass man die Anführer inhaftierte und vor ein Militärgericht stellte.

Geschichten stehen nie für sich allein. Ihr Sinn und ihre Wirkung verändern sich entsprechend den Umständen, unter denen sie erzählt werden. Nicky Imber, geboren 1920 als Ignatz Imberman in Wien und an seinem Lebensende selbst ein Bürger von Karmiel, hat in den Skulpturen seine eigenen Erfahrungen und in gewisser Hinsicht seinen Lebensweg in Form gegossen. Für die Bewohner der enteigneten arabischen Dörfer, die nach dem Verlust ihrer landwirtschaftlichen Lebensgrundlage auf dem Weg zur Arbeit täglich an dem Mahnmal vorbeigekommen sein mochten, stellt sich die Geschichte anders dar. Für sie ist die in Israel allgegenwärtige Erinnerung an den Holocaust, die den Kern der kulturellen Identität des jungen Staates ausmacht, ein Instrument zur Legitimation des Unrechts, das ihnen angetan wurde.

Wenn man Anfang der 1980er Jahre die Westbank durchwanderte, was zu jener Zeit unproblematisch und gefahrlos war, wurde man in den arabischen Siedlungen gewöhnlich von Kindern und Jugendlichen empfangen, häufig mit einer rituellen Einladung zum Tee. Wenn herauskam, dass man Deutscher war, kam die Rede entweder auf Franz Beckenbauer und Gerd Müller – oder auf Hitler. Es stellte sich schnell heraus, dass auch Hitler unter den jungen Leuten seine Bewunderer fand. Schon damals war das nicht durch Ungebildetheit oder Naivität zu erklären, eher durch eine Art Rückstoßeffekt der jüdischen Staatserzählung. Das Gerede der Jugendlichen von Hitler klang wie eine Trotzreaktion auf die volkserzieherische Dauerpräsenz der Geschichte der Judenverfolgung. Die vormals Verfolgten waren inzwischen zu Besatzern geworden; der Widerstand gegen sie äußerte sich darin, von ihrem Leidenshintergrund auf höhnische Weise unbeeindruckt zu bleiben.

An kaum einem anderen Ort stoßen die Opfergedächtnisse so hart gegeneinander wie in Israel und Palästina. Dem Gedenken an die Schoah steht die Erinnerung an die nakba gegenüber, den Verlust und die Zerstörung der Heimat Hunderttausender Palästinenser im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel, deren Erinnerung wiederum von israelischer Seite unterdrückt wurde. An diese Ur-Katastrophen des Konflikts lagern sich beiderseits jahrzehntelange Erfahrungen der Verfolgung und Vertreibung, der Terror- und Staatsgewalt an. So entsteht ein unentwirrbares Geflecht von Geschichten und Gegengeschichten, angefangen von alltäglichen Feindseligkeiten bis hin zum wechselseitigen Vorwurf eines beabsichtigten Genozids.

Inzwischen weiß niemand mehr, wie dieser Konflikt noch gelöst werden kann. Das neuerdings wieder ins Gespräch gebrachte Zwei-Staaten-Modell war schon vor dem brutalen Massaker der Hamas und dem israelischen Flächenbombardement in Gaza unrealistisch geworden. Die jüngste Eskalation hat seine Verwirklichung trotz internationalen Drucks wohl noch unwahrscheinlicher gemacht. Mit der Verhärtung der politischen geht diejenige der erzählerischen Frontlinien einher. Selbst vom Standpunkt der Außenstehenden lässt sich kaum die eine Geschichte erzählen, ohne sich der Verkürzung der anderen schuldig zu machen, so balanciert die Stellungnahmen ausfallen mögen. Wo überall Erinnerungen an Gewalt und Demütigung lauern, finden auch die Worte keinen Weg mehr ins Freie.

Hier kommen die Eigentümlichkeiten einer narrativen Arithmetik ins Spiel. In jeder Erzählung steckt eine Bilanz. Im Fall von Opferrivalität ist die Bilanz beiderseits negativ. Die Geschichten, die sie im kulturellen Gedächtnis verankert, stufen das Leid der Gegenseite herab und entziehen ihm ihre Anerkennung, um den Einsatz für die eigene Wir-Partei zu erhöhen. Als Aufrechnungen, getrieben von einem Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit, würden sie es in letzter Konsequenz notwendig machen, die gesamte Vorgeschichte des Konflikts in moralischer Absicht rückwärts abzuwickeln. Dies umso mehr, je weniger die Aussicht auf künftige Lösungen noch Entlastung verspricht. Dann schwellen selbst kleinere Erregungen zu einem Kampf ums Ganze an. Geschichte ist von diesen Voraussetzungen her überhaupt nur noch als Geschichte des Leids und der Benachteiligungen erzählbar, die nach Wiedergutmachung rufen; mit einem Wort, als Geschichte aus dem Blickwinkel des Ressentiments.

Oft wird der 7. Oktober 2023, an dem die Hamas durch ihre grausigen Gewalttaten das Sicherheitsgefühl der Juden zutiefst erschütterte, als Israels 9/11 bezeichnet. Doch gibt es einen gewichtigen Unterschied zwischen den beiden Ereignissen. Den Angreifern auf das World Trade Center schlug breites Unverständnis entgegen. Weder Osama bin Laden noch die Taliban noch Saddam Hussein, der fälschlicherweise mit dem Anschlag in Verbindung gebracht wurde, boten sich als globale Identifikationsfiguren an. Auch die Hamas ist im Westen nicht populär, wie es einst Jassir Arafat mit seiner millionenfach kopierten Kufiya war. Dagegen ruft das Schicksal der Palästinenser, das durch den Gaza-Krieg in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt ist, weltweit Anteilnahme und Empörung hervor. Das erlaubt es, dass sich für ihre Seite eine breite, über radikalislamische Gruppen hinausgehende Allianz bildet, in der sich all die Bewegungen sammeln können, die sich gegen den Westen und die bisher vom Westen dominierte Weltordnung richten.

Auf diese Weise konnte der aktuelle Konflikt zum Kristallisationspunkt von Polarisierungen werden, die über den Brennpunkt in Gaza hinaus viel größere Kreise ziehen. Es ist auffällig, wie sehr sich auch auf fernab liegenden Schauplätzen das Nullsummenspiel zwischen den unmittelbaren Konfliktparteien wiederholt. Der Krieg in Gaza trifft hier auf eine unabhängig von ihm vorbereitete Disposition. Sie äußert sich als reizbar-aggressive Kompromisslosigkeit, paradoxerweise genährt von einem Gefühl der Schwäche und Defensive. In der akademischen Welt wird dies durch die postkoloniale Diskurslage begünstigt, die einerseits die Sensibilität für koloniales Unrecht erhöht und die Bereitschaft zur Solidarisierung mit dessen Opfern befördert, andererseits das Vokabular dazu beisteuert, dass sich die Konflikte in der Welt identitäts- und gedächtnispolitisch verhärten. Man könnte darin, postkolonial formuliert, geradezu eine Appropriation der Leidenserfahrung der unmittelbar Beteiligten sehen. In einer merkwürdigen Kaskade der Stellvertretungen versetzen sich sogar diejenigen, die das Geschehen aus sicherem Abstand verfolgen, wechselseitig unter Bekenntniszwang. Dadurch büßen sie die Fähigkeit ein, von außen her deeskalierend auf die verfahrene Situation einzuwirken.

Solche Symbolkämpfe spiegeln eine verschobene geopolitische Machtbalance wider. Die Debatte um den jüngsten Gaza-Krieg deutet auf einen Umbruch hin, den man ohne Übertreibung epochal nennen kann. Zum einen ist ein seit Jahrzehnten im Gange befindlicher Prozess zum Abschluss gekommen: Die Juden sind »Weiße« geworden. Nicht zu ihrem Vorteil, denn statt dass ihnen noch der Kredit eingeräumt wird, eine rassistisch diskriminierte Minderheit zu sein, rücken sie nun an die Seite der Kolonialisten. Die Gründung eines jüdischen Staates Israel in Palästina, dessen Unterstützung durch die USA und Europa, schließlich die seit Jahrzehnten andauernde Entrechtung der Palästinenser haben die Juden in der Wahrnehmung eines Großteils der Weltöffentlichkeit selbst zu weißen Machthabern werden lassen – ungeachtet der Tatsache, dass Hunderttausende jüdische Israelis ihrerseits Nachkommen von Vertriebenen aus arabischen Staaten sind.

Das hat zur Folge, dass der Antisemitismus, der einmal der Inbegriff von rassistischer Diskriminierung war, in dem neuen Bild der »weißen« Juden nicht unterzubringen ist und im postkolonialen Diskurs marginalisiert wird. Die Juden sind gewissermaßen auf die Verliererseite der Opferkonkurrenz geraten. Darin liegt einer der Gründe für die anhaltende Diskussion um die Singularität des Holocaust – sei es, indem die systematisch betriebene Vernichtung von sechs Millionen Juden nun in eine Reihe mit anderen genozidalen Gewaltexzessen rückt und dadurch ihre Singularität einbüßt, sei es, indem das Gedenken des Holocaust den Charakter einer deutschen Spezialangelegenheit annimmt und zur Sache der Vergangenheit erklärt wird: »Free Palestine from German Guilt«.

Die zweite epochale Veränderung besteht in der Achsendrehung der globalen Konfrontation. Sie ist so einschneidend und so eng an den Konflikt um Palästina gebunden, dass man von einem Gaza-Moment als historischem Wendepunkt sprechen kann. Die dominierende Bruchlinie verläuft hier nicht mehr zwischen West und Ost, wie noch in den Auflösungskriegen des alten Sowjetblocks bis hin zum Kampf um die Ukraine, sondern zwischen Nord und Süd. In dieser imaginären Topografie ist Israel »Norden«, Palästina »Süden«. Russland, das im Widerstand gegen die US-Hegemonie eine Führungsrolle beansprucht, ist vom »Osten« in den »Süden« gewechselt, desgleichen China. Auch die Erzählung vom »clash of civilizations« zwischen dem Westen und dem Islam buchstabiert sich entlang der Nord-Süd-Frontlinie neu aus. Entsprechend sind die aktuellen Debatten um Gaza von der gewachsenen Polarisierung zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden beherrscht. Das macht es möglich, sogar eine fundamentalistische Terrortruppe wie die Hamas in den Rang einer Befreiungsbewegung zu erheben.

Aus Sicht des Westens stellt sich der Niedergang seiner Hegemonie zugunsten eines multipolaren Systems konkurrierender Mächte so dar, als sei er gleichbedeutend mit dem Rückfall in eine überwunden geglaubte Epoche des gesetzlosen Kampfes aller gegen alle. Aus Sicht der neuen Formation des globalen Südens, zu der sich nun auch der vormalige Osten gesellt, ist es dagegen an der Zeit, ein altes Unrechtssystem, das seine Wurzeln in der europäischen Expansion seit dem 16. Jahrhundert und im Kolonialismus hat, endlich aus den Angeln zu heben. Infolgedessen nimmt die Zahl der Anspruchsberechtigten zu. Mit der Angleichung der Machtverhältnisse verschärft sich nicht nur die weltweite Konkurrenz um materielle Ressourcen und übt zusätzlichen Druck auf die Wahrnehmung lokaler Konfliktherde aus. Auch Gemeingüter symbolischer Art – Anerkennung, Hoffnung, Möglichkeitssinn, Vorstellbarkeit einer gemeinsamen Zukunft – geraten unter das Vorzeichen zunehmender Verknappung. Für die vormals Benachteiligten ist der Tag der Aufrechnung gekommen, und wieder läuft das auf eine weit zurückgreifende Rückabwicklung der Vergangenheit hinaus. Die Unerbittlichkeit der Gegnerschaft im Gaza-Konflikt hat durch den global divide von Nord und Süd einen weltpolitischen Resonanzraum gefunden. Umgekehrt führen die Schreckensbilder aus Gaza dazu, die entstandene Bipolarität aufzuheizen. Eine Generation nach dem Ende des Kalten Kriegs, als eine globale Ordnung unter westlichen Vorzeichen voreilig für alternativlos erklärt wurde, wird der Kampf um einen kaum mehr als zehn Kilometer breiten Landstreifen in Nahost zum Katalysator für eine neuerliche Zweiteilung der Welt.

Weitere Artikel des Autors