Der Jüngste der großen Verdunkelten
Ein neuer Blick auf Karl Kraus von Burkhard MüllerEin neuer Blick auf Karl Kraus
Kaum je in der Kulturgeschichte dürfte es ein so dichtes Geflecht, ein so feines Gefädel von frischen Ideen, waghalsigen Vorschlägen und beispiellosen Begabungen, mit einem Wort: von Neuem gegeben haben wie in Österreich, speziell Wien, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs. Jeder Ismus saß vom anderen oft buchstäblich nur einen Kaffeehaustisch entfernt, in einem Zusammenhang, der kosmopolitisch war, aber sich durch höchstpersönliche Ansteckung vermittelte. Nicht alles, was hier ausgeheckt wurde, wies in die Zukunft, und nicht alle Zukunft, in die es wies, war eine strahlende. Doch drei Namen, die von hier in die Welt wirkten, sind immer noch jedem präsent: Franz Kafka, Sigmund Freud und Adolf Hitler.
Ein vierter verdiente es. Karl Kraus dringt nach so langer Zeit nicht mehr so leicht aus jenem Geflecht und Gefädel heraus, er scheint enger nach Zeit und Ort darin verfangen als die anderen drei. Dafür belohnt er den, der sich auf ihn einlässt, mit einem so tiefen Verständnis für das Geflecht selbst, dessen Kräfte, Widersprüche und Schatten, wie niemand sonst.