Heft 908, Januar 2025

Von Tieren und Tafeln

Ein Besuch im Berliner Zoo von Burkhard Müller

Ein Besuch im Berliner Zoo

Elefant. Wer in den Berliner Zoo will, tritt ein durchs Elefantentor. Zwei lebensgroße Elefanten flankieren den Eingang, knieend, aus Sandstein oder vielleicht auch Zement, es lässt sich schwer entscheiden. Über ihnen spannt sich ein lackrot akzentuierter Torbogen, im Schwung eines geträumten Orients. Ein markanter, ein guter Eingang.

Gut sind Institutionen, die Wert auf ihren Eingang legen. Nicht nur findet man seinen Weg hinein so leicht, wie man sollte. Man fühlt sich auch willkommen geheißen und erhält das Versprechen, dass man, indem man das Draußen gegen das Drinnen vertauscht, eine Steigerung des eigenen Daseins erfahren wird. Gedrängter, bunter, ernster und heiterer wird es werden als das gewöhnliche Leben.

Das Elefantentor stammt noch aus einer Zeit, wo es selbstverständlich war, Eingänge in solcher Weise zu gestalten: als Schlüsselstelle der Architektur, wo sich der Stoffwechsel eines Baus oder Gartens mit der Welt vollzieht, der lebenserhaltende Austausch der Sphären. Ein Portal, das mehr ist als bloßer Durchweg, lädt den Besucher ein, aber ermahnt ihn auch: Du bist hier Gast, mit allem, was Gastrecht und Gästepflicht mit sich bringen. Gast und Gastgeber, heute auf zwei Rollen verteilt, waren ursprünglich eins: Das ist der Doppelsinn des lateinischen Wortes »hospes«. Erst die Begegnung macht sie beide zu dem, was sie sind, und erhöht sie; ihr gemeinsamer Ort ist die Schwelle, die darum nicht festlich genug markiert werden kann.

Sifaka. Zoo, Tierpark und Tiergarten gelten gemeinhin als Synonyme. Wer aber meint, das wäre alles mehr oder weniger dasselbe, der wird in Berlin Überraschungen erleben. Es geht damit los, dass er am falschen Ort aus der S-Bahn steigt, denn »Tiergarten« und »Zoo«, das sind verschiedene Bahnhöfe, wenn auch relativ nahe beieinander. Am anderen Ende der Stadt aber liegt der Tierpark.

Als Berlin geteilt wurde, brauchte natürlich auch der Osten ein Pendant, genauso wie einen eigenen Flughafen, während umgekehrt der Westen mit Oper, Rathaus und Universität nachziehen musste; von all diesen Dingen gab (und gibt) es in Berlin immer mindestens zwei Exemplare. In dieser Liga der zentralen großstädtischen Einrichtungen spielt auch der Zoologische Garten mit; ohne ihn darf eine Metropole nicht als komplett gelten, schon gar nicht, wenn es sich um den Brückenkopf westlicher Freiheit inmitten von Feindesland beziehungsweise die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik handelt.

Der Tierpark (Ost) ist größer als der Zoo (West), aber das bezieht sich allein auf die Fläche. Am Rand gelegen, hat der Tierpark mehr Platz. Doch besitzt er geringere Attraktivität und zählt deutlich weniger Besucher. Das Verhältnis der beiden Gärten entsprach dem der beiden Halbstädte: Der zentral gelegene Zoo gewinnt seine Eigenart durch die Enge der Umfriedung, er stellt eine Insel in andersartiger Umgebung dar, deren Druck er von allen Seiten standhalten muss; er war sozusagen ein West-Berlin innerhalb West-Berlins. Der Tierpark hingegen ist kontinuierlich mit seinem Umland verbunden, was ihm Raum verschafft; dafür verliert sich seine Struktur in der Weite.

Dass ich den Tierpark überhaupt kenne, verdanke ich einer Nichte, die hier vor einiger Zeit ihr freiwilliges ökologisches Jahr ableistete und einen Rundgang organisierte. So kam ich auch in Bereiche hinein, die für Besucher normalerweise gesperrt sind, die Aufzuchtstation für Chamäleons zum Beispiel; oder ins Gehege der Guanakos zur Fütterungszeit (die Energie der Guanakos bei dieser Gelegenheit wirkt beängstigend, sie rennen alles über den Haufen, was sich zwischen sie und ihren Trog stellt). Und wie leicht so ein Sifaka wiegt, wenn er auf einem herumturnt – alles bloß Pelz und keine Substanz an die-sem madagassischen Lemuren. Solch eine privilegierte Sonderführung ginge im Berliner Zoo wohl eher nicht, weil derartige Bevorzugung unter den dortigen Raumbedingungen den anderen Besuchern auffallen und ihren Neid erregen müsste. Anders als im Tierpark kann im Zoo immer jeder alles sehen, was los ist.

Hirsch. Gar keine Tiere, das heißt keine Tiere in menschlicher Obhut, gibt es hingegen heute im Berliner Tiergarten. Er ist ein Stadtviertel der gehobenen Kategorie mit viel Grün. Das Grün stammt noch von den Zeiten her, wo er den brandenburgischen Kurfürsten als Wildgatter diente: Hier wurden Hirsche und anderes Wild gehalten und gejagt, ein Vorrecht der Aristokraten. Sehr weidgerecht im heutigen Sinn ging es dabei nicht zu. Da das Wild die Einzäunung nicht verlassen konnte, war ihm die rettende Flucht verwehrt. Es wurde weniger zur Strecke gebracht als abgeknallt. Auch ließ man alle Tätigkeiten mit Ausnahme des eigentlichen Tötungsvorgangs, von der Hege bis zum Treiben vor die Flinte, vom Personal erledigen; dem Fürsten und seinen illustren Gästen kam der Augenblick des Schusses zu. Was heute jeder Jäger in seiner neuzeitlich-ganzheitlichen Berufsehre als unweidmännisch von sich weisen würde, den Fürsten war es gerade recht: Nur so erreichten sie die unglaubliche Zahl an Trophäen, Tausende von ihnen, und nur darauf kam es an.

Im historischen Übergang vom Tiergarten zum Zoologischen Garten hatte die Menagerie ihren Ort. Hier hielt man, erst eher nebenbei, solche Tiere, die man nicht in Massen schießen, sondern im Einzelnen zeigen wollte, weil sie den höfischen Glanz nicht als Leichen, sondern lebendig erhöhten; sei es, weil man sie allegorisch mit den hochherzigen Eigenschaften des Monarchen verband, wie bei Löwe und Adler, sei es, dass sie als Exoten Erstaunen wecken sollten gleich einem kostbaren Gewand. Wo das Volk sie zu sehen bekam, musste man es fast mit Gewalt daran hindern, dass es sie wie Kriegsgefangene behandelte, piesackte und mit Steinen bewarf. Denn hatte man über diese Exoten, da sie hergebracht werden konnten, nicht einen Sieg errungen? Es waren Abzeichen des Triumphs über die Natur, zu einer Zeit, wo Natur noch nicht als bedroht, sondern als bedrohlich erschien.

Weißnacken-Fasantaube. Die Besucher der Menagerie gafften. Das Gaffen, oder sagen wir neutraler das Schauen, tritt bei den Rechtfertigungsstrategien der Zoos (denn rechtfertigen müssen sie sich heute) zurück hinter dem Bildungsauftrag. Es ist nicht leicht zu sagen, worin genau er bestünde. Das Fernsehen ist voll von Filmen, die Tiere bei einer Vielfalt von Aktivitäten zeigen – beim Beutereißen, beim Wandern, bei der Paarung –, die das Publikum im Zoo so gut wie nie beobachten kann und die den Blick in eine Intimität ge-statten, wie der Zoo sie nur in Ausnahmefällen zulässt. Diese Filme wirken weit belehrender, als der Zoo es je könnte. Dazu ist an den Gehegen und Käfigen eine Fülle von Schrifttafeln angebracht, die so ziemlich alles erklären, was an diesem Tier Beachtung verdient, so dass man es selbst kaum mehr zu sehen braucht, um Bescheid zu wissen. Das Tier wird zur Fußnote seiner selbst.

Es erinnert an die großen Rock- und Popkonzerte der Gegenwart, wo Zigtausende zusammenströmen und hohe Eintrittspreise zahlen, um Taylor Swift live zu erleben – aber was sie wirklich zu sehen bekommen, das ist, neben der playmobilhaft kleinen Figur der Sängerin selbst, vor allem ihre riesige Projektion auf einer Leinwand. Wo es solch eine Leinwand gibt, da blickt man fast nur noch auf sie. Und trotzdem verlieren die Livekonzerte nichts von ihrer Anziehungskraft, im Gegenteil: Das reale Menschlein, das da vorne singt und tanzt, dient als Unterpfand des Authentischen, als Garant von Präsenz: obwohl das Missverhältnis der beiden, von Präsenz und Projektion, erbarmenswürdig ist. So auch dienen die realen Tiere im Zoo den Besuchern als Bildungs- und Erlebnisunterpfänder.

Doch möchte ich diese erklärenden und erläuternden Tafeln nicht missen. Man könnte sagen, es sei der Pedant in mir, der diese Schilder so ausgiebig zur Kenntnis nimmt, ausgiebiger vielleicht als das zugehörige Tier selbst. Besonders gilt das von den vielen Vögeln, die immer zu mehreren Spezies auf einmal gehalten werden. Sie zu finden und zu erkennen wird, besonders in den offenen Hallen, wo sie wenigstens teilweise herumfliegen können wie in freier Natur, zu einer Schatzsuche – oder genauer, zu einer Art Memory-Spiel: Karte Nummer eins halte ich in der Hand, wenn ich die Tafeln lese; das Match, die dazu passende Karte Nummer zwei treibt sich irgendwo im Gebüsch herum; und die will ich aufspüren, um das Gefühl zu haben: Passt!

Ja, ein Spiel ist es, eines, bei dem gewiss auch das Kontroll- und Ordnungsbedürfnis seinen Anteil hat. Die Fast-Freiheit all dieser bunten Vögel in Glashäusern, die dem Auge mit ihrem dichten Grün die räumliche Begrenzung verschleiern, hat etwas vom Paradies. War nicht auch das Paradies ein solcher Garten, dessen Umfriedung den Insassen unfühlbar blieb? Das war eine heimliche Bedingung seines Glücks.

Zum Paradies gehört die Vielfalt. Sie bietet sich dem Blick nicht ohne Weiteres dar. Selbst bei der hohen Besatzdichte lässt sich zunächst einmal nur ausmachen, dass hier etwas im Blattwerk raschelt. Man muss wissen, wonach man Ausschau hält, sonst gibt die Vielfalt sich nicht preis. Zehntausend Spezies von Vögeln existieren in der Welt (und wenn man den »Splittern« folgt, die momentan mal wieder die Oberhand über die »Lumper« zu haben scheinen, sogar elftausend). Die Naturverehrer aus der Stadt, die die Vielfalt der Lebensformen als ein höchstes Gut beschwören, kennen, wie Umfragen ergeben, im Schnitt sieben heimische Arten; und wie viele davon sie im Gelände auch erkennen, sei dahingestellt. Wenn sich die beschworene Vielfalt vom leeren Abstraktum in Anschauung verwandeln soll, braucht man die Tafel. Sie bietet nicht nur das zur Ruhe gebrachte Bild des Vogels (die Vögel selbst neigen ja immer zum Entwischen), sondern nennt beim Namen.

Diese Namen sind so kaleidoskopisch wie die Benannten selbst. Ja, das Kaleidoskop scheint die angemessene Metapher für die Art, wie hier Benennung geschieht: Aus einer begrenzten Zahl von Elementen geht, dank der Möglichkeiten des Kompositums, des zusammengesetzten deutschen Hauptworts, eine nahezu unbegrenzte Fülle von Kombinationen hervor. Das ältere Deutsch hatte nur wenige Namen für Tiere; vergeblich wird man bei Walther von der Vogelweide nach Anzeichen suchen, dass er Kohl- und Blaumeise auseinanderkannte oder auch bloß eine Meise von einem Fink unterschied, obwohl diese ziemlich deutlichen Wesen täglich um ihn herumflatterten, selbst im Winter. Um 1700 kannte die Naturgeschichte vierhundert Arten von Tieren. Um 1800 waren es bereits viertausend Arten – von Schlupfwespen. Woher die Namen für sie alle nehmen?

Das Ergebnis klingt so: Malaienstar – Weißbürzelschama – Weißnacken-Fasantaube (diese als Einzige mit Bindestrich) – Chinesischer Sonnenvogel (dieser mit dem Attribuierungsmittel des Adjektivs) – Malaienente – Straußwachtel; sie finden sich sämtlich auf einer einzigen Tafel und bilden miteinander eine Wohngemeinschaft, die ihnen die Zooleitung zugewiesen hat. Andernorts hat man die Bartlett-Dolchstichtaube, den Palawan-Pfaufasan, den Blauscheitelmotmot, den Fratzenkuckuck und den Eulenschwalm zusammengebracht, dazu den Kleinkantschil, bei dem es sich um einen Vertreter aus der Familie der Hirschferkel handelt.

Nehmen wir die Weißnacken-Fasantaube. Es gibt Hunderte von Taubenarten; die alte deutsche Kernsprache kannte nicht nur 99 Prozent dieser vorwiegend tropischen Vögel noch nicht, sondern unterschied auch nicht weiter zwischen den vier oder fünf Spezies, die hierzulande vorkommen. (Lediglich die Turteltaube, aus lateinisch »turtur«, erhielt frühzeitig weniger einen spezifizierenden Vor- als einen verdeutlichenden Nachsatz, da »Turtel« als solches nicht mehr zu verstehen war.) »Fasantaube«, das hob eine einzelne Gattung aus der Fülle der Familie hervor, wobei es gar nicht so sehr darum ging, ob diese Taube wirklich Ähnlichkeit mit einem Fasan hatte, sondern nur überhaupt um Abgrenzung von den anderen Gattungen. Und dann gibt es innerhalb der Gattung noch weitere Arten oder Unterarten, wie zum Beispiel die Fergusson-Fasantaube oder die Bronzenacken-Fasantaube (die in Berlin nicht in Erscheinung treten). Über eine Kaskade von Morphemen, wie bei einer Bahnreise, wo man mehrmals auf immer kleineren Bahnhöfen umsteigen muss (Stuttgart, Ulm und Biberach – Meckenbeuren, Durlesbach), gelangt man schließlich an den umschriebenen, aber deutlichen Bestimmungsort.

Die Große Enzyklopädie der Vögel, die ich besitze, hat sich vorgenommen, allen zehntausend Spezies einen deutschen Namen zu verleihen und kennt unter anderem: den Wetarfeigenpirol; die Rußwürgerkrähe; den Braunbauchlaubenvogel; den Waglertrupial; den Burumistelfresser; den Kathalabrillenvogel; den Maskarenenparadiesschnäpper; und 9993 andere.

Sie kommentiert: »Die deutschen Namen sind in vielen Fällen lediglich als Vorschlag zu betrachten, da es bislang keine offizielle und verbindliche Liste gibt. Sie sind keineswegs immer schön, treffend oder sinnvoll, oft sogar ausgesprochen hässlich, irreführend oder wenig hilfreich.« Aber das kann dem Ernst und Sinn des Projekts nichts anhaben: Alle sollen neben dem zweiteiligen wissenschaftlichen auch ihren zusammengesetzten deutschen Namen bekommen, damit alle Teilhaber der deutschen Sprachgemeinschaft Nachricht von sämtlichen Vögeln der Welt erhalten. Insbesondere für den Fall, dass einige davon demnächst verschwinden sollten. Dann will man eine Inschrift für den Grabstein haben, Stephen-Island-Scheinzaunkönig zum Beispiel, der endemisch auf einer winzigen Insel vor der Küste Neuseelands vorkam und dessen Bestand komplett von einer einzigen Katze ausgerottet wurde. Vorläufig noch an Bord der Arche Noah sind die Scherenschwanznachtschwalbe, die Veilchenkopfnymphe und der Rotschwanzadlerschnabel. Merkt sie euch! Das tönt wie im Gedicht der Droste, wo es heißt: Vergiss nicht die Toten. Vergiss nicht die Toten.

Bärin. Ich kenne Leute, die gehen grundsätzlich in keinen Zoo, weil sie ihn auch heute noch, lange nach dem Zeitalter der Menagerie, als ein Tiergefängnis betrachten. Und zum Beweis führen sie die Gitterstäbe an, die es im Zoo (nicht an allen Stellen mehr, aber doch unübersehbar) ebenso gibt wie im Menschenknast: Nämlich als metallgewordenes Zeichen des Zwangs, der die Insassen hindert, hinzugehen, wo sie wollen. Ein Gefängnis wohlgemerkt, in dem ausschließlich Unschuldige einsitzen. Bei den menschlichen Verbrechern ist das als Strafe gedacht, bei den Tieren nicht; die Wirkung aber ist dieselbe.

Die Leute, die den Zoo ablehnen, sind nicht unbedingt Vegetarier. Und wirklich lässt sich hier ein Unterschied erkennen: Wer der Tötung von Tieren zustimmt, weil er sie essen will, hat einen vernünftigen Grund, seine Ernährung; und braucht nur auf die Anlage des menschlichen Allesfresser-Gebisses hinzuweisen, um zu demonstrieren, dass die Natur uns nicht ausschließlich, aber doch auch zum Fleischverzehr bestimmt hat. Überdies kann er geltend machen, dass die Tötung augenblicklich erfolgt, die Haft in ihrer Qual aber in aller Regel lebenslänglich dauert. (Ist nicht unter den Urteilen, die dem anderen das Leben absprechen, »lebenslänglich« im Grunde viel grausamer als die Todesstrafe? Die Todesstrafe wirkt rasch und radikal; der lebenslängliche Freiheitsentzug macht jeden Tag des aberkannten, schattenhaften Lebens zur neuen, langwierigen Tortur.)

Ja, die Zooverweigerer genießen ihr Schnitzel möglicherweise frei von Gewissensbissen. Denn die Lust zu essen liefert in ihren Augen ein stärkeres Argument als die Lust zu schauen. Diese ist frivol, mindestens so wie der Genuss eines Trauerspiels auf der Bühne; doch eher wie der Voyeurimus bei einem Unfall auf der Autobahn. In gewisser Hinsicht stellt jedes Tier in Gefangenschaft ein solches Unfallopfer dar: Von Haus aus nämlich gehört es in die freie Wildbahn.

Ich wohne in Chemnitz, wo es gleichfalls einen Zoo gibt, einen kleineren als in Berlin, aber doch einen ambitionierten. Dort waren immer Bären gehalten worden. Ich kenne noch den alten Bärenkäfig (nicht einmal einen Zwinger möchte ich ihn nennen, denn der Bärenzwinger zum Beispiel im Burggraben von Torgau gewährt den Bären viel mehr Platz). Es war ein langer, schmaler Käfig mit sehr kräftigem Eisengitter. Im Hintergrund befand sich Fels, vermutlich aus Zement modelliert, der die natürliche Umgebung repräsentieren sollte, faktisch aber den Raum für die Bären noch weiter verkleinerte, die nur direkt an den Stäben hin- und hergehen konnten. Es anzusehen war eine Qual. Dann entschloss man sich, für die letzte Grizzly-Bärin (die anderen Bären waren gestorben) ein neues, großes Freigelände anzulegen. Dorthin wurde sie umgesiedelt. Aber sie ging weiterhin nur auf einer ganz kurzen Strecke hin und her, wie sie es gewohnt war, ungefähr dem entsprechend, was ihr alter Käfig hergegeben hatte. Ein Kaspar Hauser des Tierreichs war sie, der durch das Ausweglose seiner Unfreiheit, auch wenn ihm, spät, die Freiheit geschenkt worden ist, die freien Menschen beschämt. Inzwischen ist auch diese Bärin verstorben. Eine neue wurde nicht angeschafft.

Ist also der Zoo ein Gefängnis? Im Hinblick auf die Tiere bestimmt; im Hinblick auf die menschlichen Besucher aber auch noch etwas anderes, nämlich eine Ausstellung, ein Museum. Ja, als diese Kreuzung aus Museum und Gefängnis bestimmt man die Institution des Zoos wohl am genauesten.

Doch bedeutet der Zoo ein Gefängnis wohl nicht für alle Tiere in gleicher Weise, wenn man das Leiden an der Unfreiheit als dessen zentrale Eigenschaft verstehen will. Geht man an den Terrarien vorbei, wo die Reptilien in totengleicher Starre verharren (höchstens dass der Kehlsack pulst, schwaches einzelnes Zeichen von Lebendigkeit): so drängt sich kaum der Gedanke auf, dass sie in ihrer Freiheit, das heißt Bewegungsfreiheit, eingeschränkt wären.

Wie aber steht es mit den verschiedenen Arten von Katzen und Affen? Sicher, sie haben sich irgendwie abgefunden mit dem umschriebenen Areal, auf das man sie reduziert hat. Sie verhalten sich also vernünftig. So scheinen sie nichts zu vermissen. Aber gerade dass sie solche Vernunft erkennen lassen, macht klar, wie ähnlich sie den Menschen sind. Wie Menschen in vergleichbarer Lage haben sie resigniert, das heißt die Bitterkeit ihrer Lage einsichtigerweise auf kräftesparende Dauer gestellt. Gerade die Ergebung der Tiere in ihre Gefangenschaft weckt den Verdacht, es möchte ihnen Unrecht geschehen.

Quastenstachler, Erdmännchen. Wahrscheinlich leiden am meisten die unvernünftigeren unter den intelligenteren Tieren. Es gibt Tiere, die können ihren Laufdrang nicht unterdrücken. Sie müssen in ihren Käfigen wahnsinnig werden. Gibt es so etwas, Wahnsinn bei einem Tier? Ich glaube schon; Wahnsinn heißt ja nichts anderes, als dass ein- und ausgeübte Verhaltensweisen in der Lebensumwelt der Betroffenen ihren Zweck nicht mehr zu erfüllen vermögen.

In seinem kleinen ummauerten Bezirk, in den die Besucher von oben herabblicken können, zieht unermüdet der Quastenstachler seiner Wege. Sie bringen ihn nirgendwohin. Seine Beharrlichkeit hat im Kleinen ein System von Pfaden eingetieft, die von fern an die Wegeführung des Zoos im Großen erinnern, geschwungen, schleifenförmig in sich zurückkehrend und darauf gerichtet, in Gestalt einer Linie eine Fläche zu erschließen. Das ist sinnvoll für einen Zoo; aber sinnlos für den Quastenstachler, der wie ein Gespenst zum unabsehbar Immerselben seines Handelns zurückkehrt.

Der Quastenstachler wohnt direkt neben den Erdmännchen, die, anders als er, soziale Gesellen sind, Höhlen im lehmigen Boden anlegen und so doch insgesamt einen gewissen Ausgleich für die Umschriebenheit ihres Lebensraums im Zoo erfahren dürften. Immer ist mindestens ein Tier damit beschäftigt, aufgerichtet Wache zu stehen, das Gesicht nach oben gewandt, da in der afrikanischen Wildbahn (wo die Erdmännchen herstammen) ihre schlimmsten Feinde Greifvögel sind, die aus der Luft zuschlagen. Niemand hat den Erdmännchen gesagt, dass diese Feinde im Berliner Zoo nicht vorkommen, oder wenn doch, dann selbst als Gefangene, die ihren Schicksalsgenossen keinen Schaden zufügen können. So haben die Erdmännchen jedenfalls immer zu tun; man möchte es fast eine Beschäftigungstherapie nennen.

Zwischen Erdmännchen und Quastenstachler befindet sich lediglich eine Glasscheibe. Zwei der Erdmännchen sind, trotz aller Vergünstigungen im Sozialen und Aktiven, in die Bewegungsmuster des Hospitalismus verfallen; ohne Unterlass rennen sie an den vielleicht vier Metern der Trennscheibe auf und ab, haben auch schon ihren eigenen Pfad des Wahnsinns eingetieft.

Unmittelbar neben ihnen zieht der Quastenstachler seine Bahn, so dicht, dass seine stachlige Schwanzquaste, wäre nicht das Glas dazwischen, sie pieken müsste. Sie nehmen voneinander beiderseits keine Notiz. Der Abstand zwischen ihnen bewegt sich immer wieder im einstelligen Zentimeterbereich. Aber nicht einmal diese paar Zentimeter sehen und denken sie über den ih-nen verfügbaren Raum hinaus, weder die Erdmännchen noch der Quastenstachler.

Der Quastenstachler ist ein Solitär mit hohem Bewegungsbedürfnis, aber geringer Neugier. Doch auch bei den Erdmännchen scheint die Neugier ihre Wurzel vor allem in der Empfindung einer permanenten Bedrohung zu haben, die sie nicht aus den Nerven kriegen, selbst dann nicht, wenn sie sich (was sie nicht zu erkennen vermögen) in der völligen Sicherheit des Zoos befinden; und ihre hurtige Vigilanz, so lustig sie den Besuchern auch erscheint, entstammt der ständigen Angstbereitschaft, nicht weniger real, nachdem ihre Gründe entfallen sind.

Immerhin erspart ihnen das die eigentliche Strafe an der Haft, die Langeweile. Sie haben alles, was sie auch in der Wildbahn brauchen, ihre Familie, genug Dreck zum Höhlenbauen, darüber hinaus stets Futter in verlässlicher Menge. Die Zoobesucher pflegen starke Sympathien für die Erdmännchen zu hegen; wahrscheinlich weil sie denken, empfinden oder ahnen: Die sind ja wie wir.

Seelöwe. Die Einrichtung des Zoos hat sich gehalten, trotz allem. Der Zirkus hingegen geht den Bach hinunter. Das ist darum bemerkenswert, weil Zoo und Zirkus als Zwillinge gelten dürfen. Gemeinsam haben sie: das Tier; die Gefangenschaft; die Darbietung als Grundlage der Institution.

Warum darf es dann heute noch den Zoo geben, aber nicht mehr den Zirkus, das heißt insofern er ein Zirkus der Tiere ist? (Ich vermute, der Zirkus wird als reines Menschenwerk aus Akrobaten, Clowns und Feuerschluckern nicht überleben; er wird es so wenig wie der Urlaub auf dem Bauernhof, wenn man dort die Viehhaltung aufgibt.)

Ein Zirkus bedeutet von Haus aus ja eigentlich kein größeres Übel als ein Zoo. Wie es schlechte und tierfeindliche Zirkusse gibt, so bestimmt auch schlechte Zoos. Eigentlich wäre der Ansatz des Zirkus dem des Zoos sogar vorzuziehen, indem er den intelligenten Tieren (und nur für solche hat der Zirkus Verwendung, während der Zoo ja schlechthin alle Tiere präsentieren soll) Gelegenheit gibt, etwas zu tun und zu zeigen, was sie können oder was man ihnen beigebracht hat. Pferde, Elefanten, Seelöwen lassen sich, so wenigstens mein Eindruck, gerne zu Kunststücken anleiten. (Bei den Raubtieren bin ich mir nicht so sicher.) Schopenhauer hat erklärt, es gebe kein Glück außer im Gebrauch der eigenen Kräfte. Stimmt das (und ich glaube, es stimmt), müssten Zirkustiere glücklicher sein als Zootiere: Denn ein Seelöwe, der einen Ball auf der Nase dreht, gebraucht seine Kräfte ganz sicher.

Woher also diese neuere Feindseligkeit gegen den Zirkus, während die Zoos sich weiterhin des ungebrochenen Zuspruchs der Familien am Sonntag erfreuen? Möglicherweise liegt es daran, dass der Zoo eine Attraktion eher für die obere Mittel- und Oberschicht darstellt, während der Zirkus vor allem die untere Mittel- und die Unterschicht anzieht. An deren Vergnügungen findet man stets etwas auszusetzen. Verboten wird immer von unten nach oben: erst die Hahnenkämpfe, dann die Hunderennen, dann der Stierkampf; die verschiedenen Arten, mit Pferden Sport zu treiben, bis heute nicht.

Ich möchte an dieser Stelle eine Geschichte mitteilen, die ich nicht selbst erlebt, sondern erzählt bekommen habe. Eine Freundin fuhr im Winter mit ihrem kleinen Neffen über das Land südlich von München. Auf einer langen verschneiten Allee gingen sie spazieren. Da kamen ihnen zwei Elefanten entgegen, begleitet von ihrem Mahut oder Führer. Tante und Neffe zeigten sich vollkommen verblüfft: Wo kamen hier, im winterlichen Oberbayern, Elefanten her? Der Mahut fasste sie ins Auge und sagte: Sie sind nicht von hier, oder? Nein, das waren sie nicht. Sonst hätten sie nämlich gewusst, dass sich hier das Winterquartier des Zirkus Krone befindet, der seinen Elefanten täglich Auslauf verschafft. Man plauderte ein bisschen, es kam heraus, dass der Neffe an diesem Tag Geburtstag hatte. Wollt ihr ihm nicht gratulieren?, fragte der Mahut. Da ließen sich die beiden Elefanten auf ihr Hinterteil nieder, streckten die Rüssel in die Höhe und trompeteten ihren Glückwunsch in die Winterluft hinaus. Dass ihnen dies widerfahren würde, damit hatten, als sie zu ihrem Ausflug aufbrachen, bestimmt weder Tante noch Neffe gerechnet. Es muss ein großes Überraschungsglück gewesen sein.

Das waren Zirkus-Elefanten. Kein Zoo-Elefant hätte in eine solche Beziehung zu einem Menschenkind treten können. Die Elefanten im Berliner Zoo, wie sie sandfarben bepudert vor ihrem sandfarbigen Hintergrund stehen und ihr eingeschränktes Elefantenleben führen, sind beeindruckend; aber sie kommunizieren nicht mit den Besuchern. Natürlich waren die Elefanten des Zirkus Krone dressiert. Wurde ihnen darum Gewalt angetan? Zähmbarkeit, sagt der Romantiker Ludwig Tieck, ist das Genie der Tiere.

Übrigens verpassen wir leider die Seelöwenfütterung, die uns als die sehenswerteste des Zoos angekündigt worden ist. Die Seelöwen würden nicht nur einfach ihre Fische schnappen (was ja auch schon ein Schauspiel wäre), sondern sich sozusagen ihren Unterhalt verdienen, indem sie allerlei Kunststücke vollbringen, mit den Flossen klatschen, sich von einem Sprungbrett ins Becken stürzen und so weiter. Schade, das hätten wir gern gesehen.

Orang-Utan. Der Berliner Zoo hat vier Bevölkerungen. Erstens natürlich die Zootiere, die zu sehen man herkommt und Eintritt zahlt. Zweitens die freien Tiere, die sich nicht als geborene oder eingeführte Häftlinge hier befinden, sondern von sich aus den Weg in diese große nährstoffreiche Anlage gefunden haben und überall herumschlüpfen; es sind gar nicht so wenige. Drittens die Besucher und Besucherinnen, die in ihrer Gesamtheit an einem Sommersonntag die Zootiere an Biomasse übertreffen dürften, selbst wenn man Elefanten und Flusspferde einbezieht. Und viertens (das ist, wenigstens in diesem Ausmaß, eine Berliner Spezialität) die Tierstatuen.

Die vier Bevölkerungen unterscheiden sich in ihren Bewegungsmöglichkeiten. Ganz frei sind die menschlichen Gäste, die den Zoo am Abend wieder verlassen. Die freien Tiere könnten das auch, werden aber überwiegend wohl bleiben. Die gefangenen Tiere haben für ihr Hin und Her ihr abgezirkeltes Areal. Einzig völlig unbeweglich ist die Schar der Statuen.

Die meisten dieser Standbilder sind aus der teuren Bronze; dargestellt werden mit Vorliebe Affen, die großen Affen, »great apes«, die dem Menschen am Nächsten stehen und darum im Deutschen den verfänglichen Namen der Menschenaffen führen. Im Unterschied zu den lebenden Tieren darf man diese Affen, die sich alles gefallen lassen, anfassen und sogar draufsteigen, denn anders als bei Dichtern und Feldherrn haben diese hier keinen Sockel, der zu Respekt und Abstand zwingt. Die Kinder tun es gern und viel und lassen sich von den Eltern fotografieren. Unter dieser Berührung, wo sie sich tausendfach wiederholt, beginnt die Bronze zu leuchten. Bronze hat ja die Eigenschaft, dass ihr ursprünglicher Glanz an der frischen Luft schon bald durch Oxidation in eine schwärzliche oder chlorgrüne Färbung übergeht, außer eben, wo die ausdauernde Liebe sie täglich neu poliert. Gleich zwei lebensgroße Gorillas – Gorillamänner, weit massiger als Menschenkinder – hat der Zoo aufzuweisen. Beim einen ist es der muskulöse Arm, der sich aus der Dunkelheit des schweren Körpers golden abhebt, und man sieht auch weshalb: Hier muss sich der vielleicht achtjährige Junge abstützen, wenn er den Affen erklimmen will. Der andere Gorilla sitzt nicht, sondern schreitet auf den Fingerknöcheln; ein kleines Mädchen hält sich auf seinem Rücken und hat Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, denn der Rücken fällt steil von den Schultern ab. Silberrücken nennt man diese großen alten Affenmänner in den Urwäldern Zentralafrikas; dieser aber ist unter den leichten Körpern der Kinder zum Goldrücken geworden. Auch ein Orang-Utan wandelt auf seinen Fingerknöcheln einher; kleiner als sein afrikanischer Verwandter, bietet er sich den Kindern auf Augenhöhe und ohne Hindernis dar und ist infolgedessen fast ganz zu Gold geworden.

Das Wesen der Tiere scheint sich in den Skulpturen, die nach ihrem Bild und zu ihren Ehren geschaffen worden sind, gültiger auszudrücken als in den Tieren selbst; jedenfalls soweit der Zoobesucher sie zu sehen bekommt. Der Bronze-Orang, mit seinem schleppenden Gang und der schief hochgezogenen Schulter, erscheint als ein Lebewesen, das ganz bei sich ist; man kennt es, wenn man es erblickt. Bei dem einzelnen unglücklichen Orang aus Fleisch und Blut hingegen, der gleich ein paar Meter weiter in seinem Glaskäfig haust, ist das durchaus nicht der Fall. Er versteckt sich hinter einem Ast und hat sich dazu noch ein Stück Stoff übergezogen, menschengemachtes Zeug, als schämte er sich: ein Schatten seiner selbst, durch die Spiegelung der Scheibe noch weiter ins Unkenntliche gedrängt.

Beim Tier vermag die Plastik mehr als bei jedem anderen Gegenstand, den sie sich wählen kann. Dinge bleiben Dinge, wenn der Bildhauer sie sich vornimmt, hier geschieht keine Transformation. Pflanzen, deren ungewisses Leben mit dem Licht und dem Wind verwoben ist, erstarren, wenn sie ins allzu feste Material hinübertreten. Menschen lassen sich zwar bildhauerisch gut wiedergeben, aber der ihnen wesentliche Geist gelangt in Stein und Metall nicht zu seinem Ausdruck; zudem besteht die Außenhülle unserer Artgenossen (außer bei den allegorisch zu deutenden Akten) zum überwiegenden Teil aus Textil, das zum Mühlstein um den Hals des Porträtierten wird, wo es sich ins Gewicht der fremden Masse verwandelt. Das Tier hingegen, frei von modischem Putz wie von bildunwirksamen Hintergedanken, geht ganz in seine Skulptur ein.

Alle diese Tierskulpturen sind, was sich von den ungezählten anderen Standbildern Berlins so ohne Weiteres nicht behaupten lässt, Meisterwerke. Der größte dieser Meister ist August Gaul gewesen; ob auch einige der Skulpturen hier von ihm stammen, weiß ich nicht, es könnte gut sein. Er empfing die Berufung seines Lebens, als er in der Lotterie eine Jahreskarte für den Berliner Zoo gewann.

Spatz. Was macht den besonderen Reiz der freien Tiere im Zoo aus, all der Spatzen, Stare, Krähen, Tauben, ja sogar der Frösche, die in den Wassergräben der Gehege wohnen? Sie scheinen sich mit ihren gefangenen Vettern gut zu vertragen, ja manchmal sitzen so ein Spatz und ein kleiner Papagei einträchtig auf einem Zweig wie Geschwister. Aber sie tun, was sie wollen, und die Bewohner der Anstalt im engeren Sinn eben nicht. Sie, die freien Tiere, sind zwar unscheinbarer, doch interessanter als diejenigen, die wild einmal waren und nicht mehr sind.

Interessant an ihnen ist ebendies, die Freiheit. Die Zootiere haben keine Wahl, als sich den Augen der Menschen auszusetzen; manche versuchen sich zu verbergen, doch es hilft nicht viel. Die anderen jedoch kommen uns freiwillig nahe, ohne Angst vor uns (was sich von den Zootieren nie mit Bestimmtheit sagen lässt; sie sind zur Angstlosigkeit wahrscheinlich bloß abgestumpft). Wenn sich der Mensch über seine Stellung in der Natur belehren wolle, sagt wiederum Schopenhauer, brauche er sich bloß die Tatsache vor Augen zu führen, dass jedes wilde Tier, sobald es seiner nur ansichtig wird, die Flucht ergreife. Darum beschert uns ein Tier, das vor uns Menschen nicht flieht, obwohl es das könnte, einen Augenblick der Heiterkeit. Den Zootieren ist die Flucht verbaut, sie haben keine Wahl, als unsere Nähe zu ertragen. Unser Erlebnis dieser Tiere ist untrennbar von dem Zwang, den sie erdulden müssen. Aber der Spatz am Gitter, der vor unsern Schritten nicht davonflattert, sondern unsre Krümel aufpickt, stimmt uns froh und gerührt und beschert uns durch seine Furchtlosigkeit einen kleinen Urlaub von der Gegenwart der Gewalt, auf der – und das wissen irgendwie selbst die vielen Kinder hier – die Idee des Zoos zuletzt beruht.

Panda. Die unfreien Zootiere haben nur eine Möglichkeit, so etwas wie freies Verhalten auszuüben, und das ist die Fortpflanzung. Wo Zootiere sich fortgepflanzt haben, besonders die seltenen, da wird es mindestens in den lokalen Medien (Berlin hat nur lokale Medien) ausgiebig besprochen und bejubelt. Vordergründig gilt diese Freude dem Umstand, dass die gefährdete Spezies mit solcher Nachzucht sich mindestens einen kleinen Schritt vom Abgrund ihres Untergangs entfernt hätte. Tatsächlich aber beweist jedes Lebewesen, das sich fortpflanzt, dass es sich über die bare Fristung der Existenz hinaus mindestens einen kleinen Überschuss bewahrt oder geschaffen hat, den sich die Leitung des Zoos zugutehält. Das neugeborene Tierbaby stellt, noch jenseits davon, dass es zusammen mit seiner Mama sooo süß aussieht, gewissermaßen ein Lächeln auf dem Gesicht des Häftlings dar.

Die Sklaverei in Amerika scheiterte zuletzt daran, dass seit der Unterbindung des Handels im frühen 19. Jahrhundert kein frischer Nachschub mehr aus Afrika kam; denn die Sklaven auf den Plantagen kriegten einfach nicht genug Kinder, um die Reproduktion der Einrichtung Sklaverei zu gewährleisten. Unentschieden muss dabei bleiben, ob sie nicht mehr den Willen hatten, sich fortzupflanzen, also zu schwach dafür waren; oder aber den Willen, sich nicht mehr fortzupflanzen, was ein Zeichen von Stärke und Widerstand gewesen wäre.

Auch die Zoos lebten lang von den »Wildfängen«, also als parasitäres System; heute setzen sie ihren Stolz darein, dass sie ohne Zufuhr, sozusagen als Perpetuum mobile funktionieren und sich nur noch untereinander austauschen, aber nicht mehr aus der Wildnis schöpfen. Ja, die Transportrichtung hat sich sogar umgekehrt: Etliche Spezies gibt es fast nur noch in Gefangenschaft, wo die Letzten ihrer Art ein prekäres Exil fristen. Das Ziel besteht in der schließlichen Auswilderung, um den Fortbestand unter neuerdings natürlichen Bedingungen zu ermöglichen. Die Wärter der Pandas (von denen auch Berlin welche hat, als Dauerleihgabe der Volksrepublik China) tragen manchmal Panda-Kostüme, die man mit Panda-Urin präpariert hat: Pandas, selbst wenn sie in Gefangenschaft geboren sind, sollen sich nicht an Aussehen und Geruch der Menschen gewöhnen, damit sie eines Tages frei und ohne Assistenz durch die Bambushaine Sezuans streifen – nicht »wieder«, sondern erstmals. Natur soll kreiert werden.

Ceylon-Hutaffe. Die Informationstafeln an den Käfigen geben immer auch den Bedrohungsgrad an, in einer Skala, die von LC (»least concern«) und NT (»near threatened«) über VU (»vulnerable«) und EN (»endangered«) zu CR (»critically endangered«) und EW (»extinct in the wild«) reicht. Die siebte und letzte Stufe ist dann »extinct«, das Requiem, EX.

Ab »critically endangered« tritt der Zoo in die Zone besonderer Verantwortung ein und fühlt sich bei »extinct in the wild« zu seiner edelsten Aufgabe berufen. So setzt sich die Entwicklungshilfe an die Stelle vormaliger kolonialer Ausbeutung. Neben dem Bildungserlebnis ist die Artenrettung zum zweiten, ja, zum schwereren Anker der Rechtfertigung für die Institution des Zoos geworden.

Angetragen werden die sieben Stufen auf einer Skala wie bei der Umweltfreundlichkeit von Waschmaschinen, der Zustand der betreffenden Art wird mit einer roten Marke angezeigt. So gibt es, bei aller Zerstörung in der Welt, doch Ordnung im Zoo. Die Aufmerksamkeit der Besucher wird durch den signalisierten Bedrohungsgrad gelenkt wie durch die Preisschilder im Schaufenster eines Juweliers. So große Seltenheit besitzt, was du hier siehst: Schau es dir an, genau, womöglich ist es bald verschwunden.

Ein solches Juwel ist zum Beispiel der Ceylon-Hutaffe. Er kommt nur in Sri Lanka vor (seinen alten kolonialen Namen vermochte er nicht abzustreifen, als die Insel sich umbenannte), und dort ergeht es ihm schlecht. »Im Wald zuhause« heißt es zu seiner Erläuterung auf Deutsch, doch auf Englisch darunter bereits »losing their forest home«. Stark gefährdet ist er, CR. Die Wälder – nur dort kann er leben – schwinden dahin. So kommt er auf der Suche nach Nahrung den vorrückenden Bauern und ihren Speichern immer näher und wird als Schädling bekämpft. Nur die Tempel (in Sri Lanka sind das vermutlich buddhistische) gewähren ihm Obdach und Schutz.

Sieht man ihnen eine Weile zu, erkennt man, wie gering der Unterschied zwischen ihnen und den Menschen in Wahrheit ist. Besonders mit den Händen, an denen alle Finger einzeln in Bewegung sind, vollbringen sie unablässig Wunder der Geschicklichkeit, dass man sich fragt, warum bei ihnen die Menschwerdung unterblieb. Das Wunder des Menschen beruht auf der Hand; und die hier haben gleich vier davon.

Es heißt immer, man solle die Tiere nicht vermenschlichen; und das soll man auch wirklich nicht, wenn bloß Bambi-Kitsch dabei herauskommt. Aber die Menschen vertierlichen, das hat unbedingt seine Berechtigung. Denn in allem Wesentlichen sind die Menschen den Tieren gleich: in ihrer körperlich-sinnlichen Ausstattung, hinein bis in jedes einzelne Organ; im ausdifferenzierten Bewegungsvermögen; in Angst, Schmerz und Lust; auch in sozialer Hinsicht, wenigstens was die in Horden und Rudeln lebenden Tiere betrifft. Die Unterschiede beziehen sich demgegenüber nur auf Dinge wie Sprache, kulturelle Tradition und ähnliches, mit einem Wort auf das, was aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht. Tiere, mögen sie auch ihre Erfahrungen gemacht haben, sind Wesen der Präsenz; Menschen solche der Geschichte. Auch Tiere begrüßen einander; doch nur Menschen verabschieden sich (oder höchstens noch Schimpansen, wie der Primatenforscher Frans de Waal herausgefunden hat). Die Begrüßung gehört ganz in die Gegenwart, der Abschied ganz in die Zukunft, die das Bisherige in Vergangenheit verwandelt. Hätten die Tiere Grund, uns um den Abschied zu beneiden? Wohl eher nicht.

Vielleicht um solche Nähe zum Menschen durch das Mittel des Spotts zu verleugnen, haben die Hutaffen ihren deutschen Namen erhalten, der ihren Schopf in ein Stück Menschenmode umdeutet, als wäre das, was die Natur ihnen mitgab, vielmehr ein Nachäffen dessen, was uns an uns selbst am lächerlichsten erscheint. Auf Englisch heißen sie »toque macaque«, und wirklich ähnelt dieser Schopf, wenn man ihn isoliert betrachtet, auf komische Weise einem schlechtgefertigten menschlichen Toupet. Das hat Gott nicht gemeint, als er im Paradies Adam den Auftrag gab, die Tiere des Gartens zu benennen, »und wie er sie nannte, so sollten sie heißen«. Man darf vermuten, dass die Tiere, als Adam aus dem Paradies gejagt wurde, es ebenfalls verlassen mussten.

Bonobo. Bei den Menschenaffen erwehrt der Besucher sich besonders schwer des Eindrucks, sie würden wie Sträflinge gehalten. So steht der Zoo in ihrem Fall unter besonderem Druck, die Tatsache ihrer Haft als eine Schutzhaft erscheinen zu lassen. Großer Beliebtheit erfreuen sich seit einiger Zeit die Bonobos, die Hippie-Affen, die ihr ganzes Leben, wie es ihren menschlichen Fans vorkommt, nach der Devise »make love, not war« eingerichtet haben, indem sie Sex als universellen Sozialkitt einsetzen. (Affen fordern ja immer zur politischen Deutung heraus: Die Rechten lieben die Paviane mit ihrem klaren Patriarchat, die Linken die Bonobos, wo die Frauen die Chefs sind. So weit also gehen bei uns Primaten die naturwüchsigen Möglichkeiten der Gesellschaft auseinander!)

Der Zoo Berlin legt Wert darauf, dass er die Bonobos hält, um sie zu retten. Er betont in seinem reichen Infomaterial, wie miserabel ihre Lage in freier Wildbahn ist, noch schlechter als bei den Hutaffen. Die Jagd auf das allgemein beliebte »Buschfleisch« treibt sie in die Enge, gezeigt wird die tückische Drahtschlinge eines Wilderers. »Bedrohung || Threat« steht da in großen Lettern, in kleineren erscheint das vom Zoo unterstützte Schutzprojekt »Bonobo Alive Initiative«, das Patrouillen gegen Wilderer durchführt und illegale Fallen beschlagnahmt. Ob man den Bonobo rettet, wenn man das Menschenvolk seiner Heimat kriminalisiert?

Ansonsten erfahren die Besucher noch: »Alles Banane? Quatsch mit Soße!« In dieser Tafel werden die Ernährungsgewohnheiten der Bonobos dargestellt, die tatsächlich eher Blätter und Gemüse essen oder vielmehr »vernaschen« und auch ein gelegentliches Stück gekochten Fleischs nicht verschmähen. Gekocht: denn hier ist wie selbstverständlich das Zootier zugrunde gelegt. Der Ton klingt aufgekratzt und kindgemäß, hier hat die Museumspädagogik ein Betätigungsfeld gefunden. Doch hinter all diesen Verlautbarungen in verständlicher Sprache und krakeliger Schrift stecken immer noch die drei klassischen Fragen der Naturbezwinger des 19. Jahrhunderts: Wie heißt du? Wo wohnst du? Was frisst du?

Wolf. Alle Menschen lieben die Natur. Wenn man genauer wissen will, was sie sich dabei denken, stellt man ihnen am besten eine Frage, die sie sofort in zwei Lager spaltet: Wie hältst du’s mit dem Wolf? Dann erkennt man, ob sie sich unter der Natur etwas Wildes oder etwas Zahmes vorstellen. Den Wolf, den es inzwischen auch wieder in Deutschland gibt, in dreistelligen Individuenzahlen, kriegt kaum ein Mensch hierzulande in freier Wildbahn je zu Gesicht; aber jeder hat eine starke Meinung zu ihm, dafür oder dagegen. Er ist ein mythisches Tier, wie das Einhorn, geeignet, gerade ungesehen die Fantasie in Gang zu setzen.

Auch der Wolf ist im Berliner Zoo vertreten. Man erblickt ihn, leibhaftig, und da macht er nicht halb so viel Eindruck, wie wenn man ihn sich nur ausmalt. Er hat den Habitus eines unterernährten Schäferhunds. Das scheint ihm wesenhaft zuzugehören, denn hungern muss er im Zoo bestimmt nicht. Niemand, der ihn nicht aus Märchenbüchern oder überhitzten Blogs kennt, käme auf die Idee, sich vor dem hier zu fürchten. Aber mehr als Tiger und Jaguar, die man im Berliner Zoo gleichfalls betrachten kann, macht er noch als Gefangener den Eindruck des Wilden. Jaguar und Tiger, wenn man sie aus ihren Käfigen ließe, würden hierzulande niemals Fuß fassen. Aber der Wolf?

Es könnte wieder eine Zeit der tiefen Not kommen, wie zuletzt vor vier Jahrhunderten, im Dreißigjährigen Krieg, wenn der Wolf wieder durch zerstörte Orte streift, weniger als realer Räuber denn als allegorisches Tier der Apokalypse und des Chaos. Davor fürchten sich die, die ihn hassen; nicht vor ihm selbst. Vielleicht haben solche Zeiten in Wahrheit ja schon begonnen, als die ersten Rudel aus dem Osten kamen, ganz heimlich? Das heutige Verbreitungsbild des Wolfs in Deutschland (denn dafür, dass er ein solch scheuer und verborgener Jäger ist, gibt es erstaunlich präzise Forschung zu ihm) gleicht dem Schuss einer Schrotflinte, die in Görlitz abgefeuert worden ist: ein Trichter, der, sich verbreiternd und dabei an Streuungsdichte abnehmend, von Südosten nach Nordwesten zielt, mit ein paar Ausreißern seitwärts. Die meisten Wölfe gibt es in der Lausitz, in der Lüneburger Heide noch ein paar, im Süden vorerst keine. Der Landrat des Erzgebirges, in einem Interview angesprochen auf die Entvölkerung seines Kreises, sagte: Immerhin haben wir noch keine Wölfe. Es klang wie: Vorerst wahren wir die Kultur gegen die Wildnis. Das liegt einige Jahre zurück. Inzwischen sind Wölfe auch im Erzgebirge aufgetaucht. Der Landrat muss es als eine Niederlage erlebt haben.

Der Berliner Zoo sieht es unproblematischer. »Willkommen zurück!« verkündet die Tafel am Wolfsgehege, und »Meilensteine einer Rückkehr«. Unterschieden werden die einzelnen Wolfsphasen Mitteleuropas: »Früher« und »Allgegenwärtig«, das war die Zeit, als es Wölfe noch überall gab, dann: »Ausgerottet«, dann: »Angekommen« und »Heute«. Es klingt wie die Geschichte vom erschossenen Kuckuck im Volkslied: Doch als ein Jahr vergangen war || Da war der Kuckuck wieder || Simsalabim bambasala dusaladim || Da war der Kuckuck wieder || Da. Der Kuckuck steht für die unerschöpfliche Regenerationskraft der Natur. Der Wolf hier auch. Was am Wolf immer Drohung war, die Natur in ihren bestialischen, zerstörerischen Aspekten, Zustände, wo die Menschen in ihrer panischen Angst keine Kontrolle mehr über ihr Leben haben: Davon weiß diese naturnaive Tafel mit ihrer scheinkindlichen Krakelschrift nichts. Der struppige hagere Wolf hinterm Zaun, der zum Besucher herüberblickt, übrigens auch nicht.

Löwe. Nicht alle Bildungseinrichtungen haben mehr einen adäquaten Eingang, um die atmosphärische Verdichtung, die sich an diesem Punkt vollzieht, zu markieren. Aber alle haben gelernt, dass der Ausgang als Dekompressionskammer zu fungieren hat. Wer heute ein Museum oder einen Zoo verlässt, muss den Shop durchschreiten.

Und was gibt es da so? Alles das zum Anfassen, was zuvor nur betrachtet werden durfte. Man mag es Kitsch nennen; doch es entspringt dem Bedürfnis, haptisch zu machen, was vorher nur optisch war, wie bei den Affen aus Bronze. Drinnen durfte man den Panda nur betrachten; hier darf man ihn als Kuschelliebling in unterschiedlichen Größen anfassen, kaufen und mitnehmen. Ganz zuletzt noch verwandelt sich das Publikum von einem bloß schauenden in ein handelndes, kann etwas tun, was zu ihm selbst Bezug hat.

Der Löwe aber ist immer noch Löwe. Er ist weniger Star als Panda und Elefant, dafür unvergängliches Emblem des Zoos überhaupt, Emblem seiner Idee: die unterworfene Majestät der exotischen Zonen. In diesem Sinn hat er im Shop gleich mehrfach seinen Auftritt: als Bierdeckel, als Tasse, als Briefumschlag, die alle sein Bildnis ziert. Man will vom Zoo zum Schluss doch auch was haben.

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