Farbenspiele
Oder wie eine Metaphysik des Diesseits aussehen könnte von Burkhard MüllerOder wie eine Metaphysik des Diesseits aussehen könnte
Farben! Es scheint so viele von ihnen zu geben; manchmal wirbt Computersoftware damit, dass sie eine Million verschiedener Farben darzustellen vermöge, was eine andere Art ist zu sagen: unendlich viele. Und doch ist ihr Umkreis ganz offensichtlich begrenzt. Die reinen Farben lassen sich komplett durch die Übergänge des Regenbogens abdecken, alle Unendlichkeit hat hier bloß im Infinitesimalen statt. Man hat sich darauf geeinigt, dass es sieben Großfarben seien, die sich hier angeben lassen. Ich misstraue dieser Zahl; in meinen Augen fehlt es dem Indigo zwischen Blau und Violett an Dignität, es soll bloß die unschöne Zahl Sechs vermeiden helfen.
Was die unreinen Farben betrifft einschließlich der Helligkeitsstufen, so ließen auch sie sich durch ein geometrisch geschlossenes Modell darstellen. Es müsste allerdings, statt eindimensional wie der Regenbogen, dreidimensional sein, eine Kugel mit einem Nordpol aus Schwarz und einem Südpol aus Weiß, und in seinem Inneren alle denkbaren Vermischungen, alle Brauns, Graus und abgetönten Olivs. Da nicht jede Mischung sich durch Nachbarschaft darstellen lässt, müssten auch einige Fäden hin und her laufen. Diese Kugel wäre naturgemäß kompakt, ohne Lücken, und hätte für veranschaulichende Zwecke den Nachteil, nur an der Oberfläche ganz sichtbar zu sein, ansonsten aber nur mehr oder weniger willkürlich auswählende Schnitte zuzulassen, die das Prinzip zeigen, aber eben nur einen Bruchteil dessen, was es ermöglicht – ein bisschen so wie der Erdkern, den wir ja in seiner unvorstellbaren Ermesslichkeit auch nur wissen, aber nicht imaginieren können. Dürfte man den Regenbogen als eine endliche Unendlichkeit bezeichnen, so wäre solche Unendlichkeit in der Farbkugel zur dritten Potenz erhoben. Aber endlich wäre sie immer noch. Wie abzählbar bei aller Unabsehlichkeit die Farben bleiben, sieht man besonders schön an dem Umstand, dass in der Fotografie jeder Farbton sein genaues und niemals fragliches Negativ-Komplement besitzt, seinen Antipoden, der sich in seinen Längen-, Breiten- und Tiefenkoordinaten vorab genau bestimmen lässt; das gilt noch von den vertracktesten Hautnuancen.