Heft 844, September 2019

Farbenspiele

Oder wie eine Metaphysik des Diesseits aussehen könnte von Burkhard Müller

Oder wie eine Metaphysik des Diesseits aussehen könnte

Farben! Es scheint so viele von ihnen zu geben; manchmal wirbt Computersoftware damit, dass sie eine Million verschiedener Farben darzustellen vermöge, was eine andere Art ist zu sagen: unendlich viele. Und doch ist ihr Umkreis ganz offensichtlich begrenzt. Die reinen Farben lassen sich komplett durch die Übergänge des Regenbogens abdecken, alle Unendlichkeit hat hier bloß im Infinitesimalen statt. Man hat sich darauf geeinigt, dass es sieben Großfarben seien, die sich hier angeben lassen. Ich misstraue dieser Zahl; in meinen Augen fehlt es dem Indigo zwischen Blau und Violett an Dignität, es soll bloß die unschöne Zahl Sechs vermeiden helfen.

Was die unreinen Farben betrifft einschließlich der Helligkeitsstufen, so ließen auch sie sich durch ein geometrisch geschlossenes Modell darstellen. Es müsste allerdings, statt eindimensional wie der Regenbogen, dreidimensional sein, eine Kugel mit einem Nordpol aus Schwarz und einem Südpol aus Weiß, und in seinem Inneren alle denkbaren Vermischungen, alle Brauns, Graus und abgetönten Olivs. Da nicht jede Mischung sich durch Nachbarschaft darstellen lässt, müssten auch einige Fäden hin und her laufen. Diese Kugel wäre naturgemäß kompakt, ohne Lücken, und hätte für veranschaulichende Zwecke den Nachteil, nur an der Oberfläche ganz sichtbar zu sein, ansonsten aber nur mehr oder weniger willkürlich auswählende Schnitte zuzulassen, die das Prinzip zeigen, aber eben nur einen Bruchteil dessen, was es ermöglicht – ein bisschen so wie der Erdkern, den wir ja in seiner unvorstellbaren Ermesslichkeit auch nur wissen, aber nicht imaginieren können. Dürfte man den Regenbogen als eine endliche Unendlichkeit bezeichnen, so wäre solche Unendlichkeit in der Farbkugel zur dritten Potenz erhoben. Aber endlich wäre sie immer noch. Wie abzählbar bei aller Unabsehlichkeit die Farben bleiben, sieht man besonders schön an dem Umstand, dass in der Fotografie jeder Farbton sein genaues und niemals fragliches Negativ-Komplement besitzt, seinen Antipoden, der sich in seinen Längen-, Breiten- und Tiefenkoordinaten vorab genau bestimmen lässt; das gilt noch von den vertracktesten Hautnuancen.

Wäre eine undenkbare Farbe denkbar? Oliver Sacks, der Neurologe, der mit seinen Fallgeschichten die synthetische Leistung allen Wahrnehmens und Bewusstseins anschaulich gemacht hat, spricht in seinem Buch über Halluzinationen davon, dass die Personen, denen sie widerfahren, unter anderem neue Farben gesehen hätten. Dieser Information ginge man gern auf den Grund. Was heißt das: neu? Nur etwa so neu, wie zum Beispiel die Neonfarben neu waren, als sie aufkamen: mit ungewohnten Qualitäten des Leuchtenden ausgestattet, ansonsten aber die altbekannten Töne? Oder so, als wäre plötzlich der geschlossene Kreis, als den man den Regenbogen darstellen kann, an einer Stelle aufgegangen und hätte, wie man eine weitere Person in die Gesprächsrunde aufnimmt, ein neues Segment in sein Rund gefügt, ein neues Farbfeld sich einverleibt? Nicht so wie Indigo zwischen Blau und Violett, nuancenweise, sondern ganz anders? Ein Phänomen, das jeden, der es erblickt, erst mal rückwärts vom Hocker haut, weil er, was er da unwiderleglich sieht, noch nie gesehen hat, auf eine grundstürzendere Weise, als wenn plötzlich ein Saurier oder Alien vor ihm stünde? (Denn die kennt er ja in gewisser Weise schon, da sie in aller spektakulären Fremdheit doch jedenfalls aus vertrauten Elementen gefügt wären.) Interessant wären vor allem die Mischungen und Übergänge: In das Bekannte mischt sich schleichend ein Unerhörtes, auf das man erst gar nicht achtet, das sich aber immer stärker durchsetzt, wie ein anfangs leises, dann immer lauter werdendes Instrument im Orchester. Diese Übergänge immerhin müssten wir uns doch, wenn schon nicht denken, so doch als denkbar denken können!

Jeder einzelne Mensch, jedes optisch begabte Wesen hat (wenigstens bis ihm die Halluzination naht) mit ziemlicher Sicherheit einen ihm bekannten Umkreis des ihm koloristisch Möglichen. Es gibt ja, wie wir wissen, auch Infrarot und Ultraviolett, als kontinuierliche Fortsetzung des uns sichtbaren Spektrums; nur dass wir sie nicht sehen können. Das Spektrum geht an seinen beiden Enden für unser Auge allmählich in ein Nichts über, wie wenn sich allmählich ein Nebel niedersenkt. Gleichwohl wissen wir, dass es weitergeht: Wenn Eisen glüht, beginnt es mit einem dumpfen Rot, das sich nach und nach in seinen grauen Metallton schleicht wie das warnend leise Knurren eines gestreichelten Hundes. Es wird kirschrot, orange, gelb, weiß – und dann ist die Glut am Ende ihrer Skala, das Eisen scheint wie zuvor, aber jeder, der dem Schauspiel beigewohnt hat, weiß, dass der Kreis sich keineswegs schließt, dass er jetzt vielmehr aufgeht in die höchste Gefährlichkeit. (Wölfe, unmittelbar bevor sie ihr Opfer fressen, legen alles Bedrohliche ab, sie freuen sich nur noch auf die Mahlzeit.) Eine Honigbiene jedoch sieht auch dieses Ultraviolett. Es ist anzunehmen, dass sie hierüber nicht erstaunt, sondern eben wahrnimmt, was sie kennt. Auch wir sehen die Blüte ja durchaus, deren Licht für die Biene ultraviolette Qualitäten besitzt. Aber uns kommt sie anders vor, sie bietet sich unserem Menschenauge als ein eher unscheinbares Lila dar. Wir sehen die Rampe, aber nicht die Rakete, die von ihr startet.

Es ließe sich auch denken, dass andere Menschen, wenn sie unerstaunt dieselben Farbadjektive wie ich selbst verwenden, dabei etwas ganz anderes sehen als ich; dass sie also zum Beispiel, wenn sie »grün« sagen, wie sie es ihr ganzes Leben getan haben, eine Farbe meinen, die ich, sähe ich dasselbe wie sie, als »rot« bezeichnen würde, oder die gar etwas namenlos anderes wäre. Einige (nicht alle!) Frauen besitzen, wie ich unlängst gelesen habe, neben den drei Arten von Zäpfchen, die alle Menschen haben, noch eine vierte Sorte: Es muss ihr Farbempfinden im Verhältnis zu ihren Erfahrungsgenossen, die bloß drei haben, ungeheuer erweitern, ohne dass eine von beiden Seiten dies auch nur je bemerken müsste. Die einen sehen wenig Farbe und wenige Farben, die anderen viel und viele, und beide sprechen so darüber, dass sich die Differenz niemals zu erkennen gibt. Das Farberleben dieser beiden Gruppen, die doch ansonsten einträchtig nebeneinander leben, muss sich mindestens so weit voneinander unterscheiden wie der Horizont eines Erwachsenen von dem eines Kindes in Hinsicht auf, sagen wir, die Sexualität: Hier fehlt dem Kind eine ganze Dimension; sie fehlt ihm so sehr, dass es nicht einmal weiß, dass sie ihm fehlt. Und der Erwachsene, der es weiß, lächelt; einerseits natürlich aus Gründen der Schicklichkeit, und weil ihm klar ist, dass der Aufschluss keine Ermutigung braucht, sobald es so weit ist; andererseits aber vor allem, weil er weiß, dass Erklärungen keinen Sinn haben. (Nur dass die Vierzäpfchen-Frau nicht einmal ahnt, was sie den Dreizäpfchen-Leuten voraus hat.) Nur manchmal dringt ein Anklang nach draußen, ins Feld der Kommunikation. Ich erinnere mich einer Unterhaltung mit einer älteren Dame, die den überwältigenden Reichtum der verschiedenen Sorten Grün im Frühling pries. Ich konnte ihn nicht entdecken, mir schien er einigermaßen beschränkt, und ich äußerte mich entsprechend. Wir haben das Thema nicht vertieft, aber vielleicht war da was.

Nichts ist größerer Variabilität ausgesetzt und unzuverlässiger als die Farbpalette, die sich mit Vorliebe in ihrer Gesamtheit verwandelt, als Ganzes sozusagen ein Stück nach links oder rechts transportiert wird und davon ablenkt, welche Veränderung hier im Großen vor sich geht. Davon immerhin hat man Beispiele, auch wenn man nicht in den Kopf des anderen sehen kann, in seiner eigenen Erfahrung. Zuweilen liegt bei Kunstausstellungen der zugehörige Katalog vor den Gemälden, so dass man die Abbildung direkt daneben halten kann. Auch bei sonst hervorragender Qualität des Drucks: Die Farben stimmen buchstäblich nie überein, das ganze Spektrum ist verschoben – man käme dem Phänomen nicht auf die Schliche, wenn sich nicht der seltene Vergleich böte. Und die Unterschiede sind nicht etwa gering! Oder die Farbeinstellung des Fernsehers (je schlechter das Gerät, desto verblüffender das Ergebnis): Da ist es dem Zuschauer ja selbst überlassen, wie viel Rot, Grün, Blau er hineinmischen will. Hat er sich aber erst einmal entschieden (oder hat ein anderer es schon vorab getan), braucht ihm diese Zurichtung überhaupt nicht aufzufallen. Zuweilen merkt man bei einem Spielfilm erst nach einer Stunde, dass man die Farbe Grün schon lang nicht mehr gesehen hat.

Sogar unsere zwei Augen sind sich nicht immer einig: Hat man eine Zeitlang in der Sonne gelegen, und zwar in einer Position, dass ein Auge mehr beschienen wurde als das andere, stellt man hinterher fest, dass das Auge, das der Sonne ausgesetzt war, alle Farben bleicher wahrnimmt, besonders aber die Farbe Gelb. Man hält das linke Auge zu: Das Handtuch wirkt hellgelb; man hält das rechte zu: dunkelgelb. Plötzlich erscheint Farbe, angeblich so reich in ihren Möglichkeiten, als etwas ganz Geringes, das in den Dingen beziehungsweise ihrer Wahrnehmung nur enthalten ist wie das Zitronige im Wassereis: Man saugt daran, und es bleibt, zunehmend verblassend, nur das Eis selbst zurück, ohne die gelbe Farbe und den süßsauren Geschmack. Farbe, so kommt es einem dann vor, steckt nicht in den Dingen selbst, ja sie haftet nicht einmal sicher auf den Oberflächen. Schon vergleichsweise kleine Eingriffe waschen sie aus und verfälschen sie.

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