Heft 883, Dezember 2022

Der Philosoph in der twitterisierten Öffentlichkeit

von Felix Heidenreich

Die Philosophie hat seit ihren Anfängen ein angespanntes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass sie sich als eigenes Projekt erst in Abgrenzung zu einer in den Frühformen der Öffentlichkeit um sich greifenden Vielrederei definiert: Das Gegenmodell zum Philosophen ist bei Platon der Sophist. Und was zeichnet diesen aus? Dass er behauptet, über alles reden zu können, auch wenn er nicht wirklich etwas von der Sache versteht. Diese Omnikompetenz kann nur eine Pseudokompetenz sein, so Platon. Der Philosoph besitzt wahres Wissen (episteme), der Sophist nur einen unsortierten Haufen Meinungen (doxa).

Die Paradoxie besteht nun darin, dass diese Leitunterscheidung schon bei Platon nicht nur in den esoterischen Kreisen Anwendung findet, sondern zugleich in jenem Raum formuliert werden muss, der eigentlich abgelehnt wird: in der Öffentlichkeit. Seither finden wir den Topos einer öffentlichen Kritik an der Öffentlichkeit, einer rhetorisch vorgetragenen Kritik an »bloßer Rhetorik«, einer verallgemeinernden Kritik an Verallgemeinerungen. Denn auch die Philosophie behauptet bei Platon eine Allkompetenz und steht daher immer schon unter Verdacht, mit der Sophisterei aufs Engste verwandt zu sein. Auch aus diesem Grund wies Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus etwas kokett die Rolle als »Philosophin« zurück; mit den heideggernden Tiefdenkern wollte sie nicht (mehr) in einen Topf geworfen werden.

Denn der Figur des öffentlich auftretenden Philosophen (das Maskulinum ist hier nicht nur generisch) haftet seit jeher der Charakter einer Kippfigur an: Er kann der weise Experte sein, der mit der Aura des Denkers die Dinge überblickt – oder er kann der inkompetente Schwätzer sein, der sich ständig zu Dingen äußert, von denen er keine Ahnung hat, ja gar keine Ahnung haben kann.

Genau dieses Umkippen hat in den vergangenen Wochen die öffentliche Figur des Richard David Precht erleben müssen. Ähnlich wie der kanadische Psychologe Jordan B. Peterson war auch er lange »a stupid man’s clever man«, also ein von Nichtphilosophen bewunderter Philosoph. Er formulierte das Angebot, an Bildung und Weisheit Anteil haben zu können, ohne sich die Mühen der Lektüre aufzulasten – und wurde so zum Hansdampf in allen Gassen des Mediensystems. Nun aber wird ihm – zum Beispiel von Daniel-Pascal Zorn – vorgeworfen, er sei gar kein »echter« Philosoph, sondern lediglich Germanist und bestenfalls Schriftsteller. Wer mag da nicht an Platons Sophistenkritik denken?

Das Problem ist nur: Auch schlechte Philosophen sind Philosophen. Dem Versuch eines kategorischen Platzverweises (»Der darf hier gar nicht mitspielen!«) haftet immer der Gestus einer ad hominem-Kritik an. Ob Precht nun Germanist, Philosoph oder Schriftsteller ist – zu widerlegen wären ja seine Argumente, nicht seine Person. Aus dieser Perspektive mutet die Unterscheidung zwischen »echten« Philosophen und bloßen Nichtphilosophen recht unphilosophisch an. Oder gerade im negativen Sinn »philosophisch«?

Peter Slotderdijk hat seit Jahrzehnten nur Spott übrig für den Standesdünkel der akademischen Philosophie – weil dieser genau das vorführt, was er eigentlich abzulehnen behauptet: eine Fokussierung auf Personen statt auf Argumente. Entsprechend kann man behaupten, Sloterdijk und Precht seien schlechte Philosophen, aber zu behaupten, sie seien gar keine Philosophen, klingt, als verkünde die Bäckerinnung, die Brötchen von Frau Müller seien gar keine Brötchen, weil ihr die Gesellenprüfung fehle.

Die Twitterisierung der Öffentlichkeit

Der Kippmoment für die öffentliche Figur des Richard David Precht wurde mit seinen Äußerungen zum Ukrainekrieg erreicht und durch die öffentliche Verteidigung der zusammen mit Harald Welzer formulierten Medienkritik vollendet. Plötzlich schien, was im positiven Sinn als spekulative Kraft wahrgenommen wurde, nur noch anmaßend: der Mut zur großen These.

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