Die Moral der Krise
von Oliver WeberNeuauflagen bieten Aktualisierungschancen. Von dieser Regel ging wohl der LIT-Verlag aus, als er sich dazu entschloss, den Essay des Philosophen Hermann Lübbe, Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, mit einem zusammenfassenden Vorwort versehen, ansonsten aber inhaltlich unverändert auf dem Buchmarkt anzubieten.1 Das Buch erschien 1987 zum ersten Mal, der Vortrag, auf dem es basierte, war damals drei Jahre alt.
Offenbar ist das Kalkül des Verlags aufgegangen. Gleich mehrere Zeitungen griffen den Neuabdruck auf, um auf die ungebrochene Aktualität des Inhalts hinzuweisen: »Solche Sätze passen gut auf das zu Ende gehende Jahr 2019«, heißt es etwa in der Frankfurter Allgemeinen nach einer Paraphrase der wesentlichen Punkte, doch die »Sätze stammen aus einem im Jahr 1984 gehaltenen Vortrag«.2 In der Neuen Zürcher Zeitung muss der Band unvermittelt als Stichwortgeber gegen die Protestbewegung »Extinction Rebellion« herhalten.3 Die Wirtschaftswoche ist sich sogar sicher, »es dürfte nur wenige politisch-philosophische Aufsätze geben, die 35 Jahre nach ihrer Entstehung aktueller sind als damals«.4
Hermann Lübbe, heißt es unter anderem, lege die politischen Folgen überbordender Moralansprüche in der Politik offen, statt moralistischer Anklage müsse es um pragmatische Kompromissfindung gehen, statt gesinnungsethischer Appelle brauche es wohlgeordnete Institutionen. Fridays-for-Future-Demonstranten sollen besser in die Schule gehen, Hausbesetzer verhindern private Bautätigkeit, Rechtspopulisten sind mit Moral nicht kleinzukriegen. Der Essay liest sich in den Paraphrasen der Journalisten wie die philosophische Verlängerung ihrer eigenen Leitartikel.
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